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Möglichkeit zur Wirklichkeit

In Berlin tagte die Konferenz "Aufklärung als Marxismus"

Von Roman Stelzig *

Wie kann es sein, daß die Krise des Kapitalismus heute offensichtlich ist, aber von den Massen nicht als Notwendigkeit seiner Überwindung begriffen wird? Diese Frage bestimmte die Tagung »Aufklärung als Marxismus«, die am Samstag in der jW-Ladengalerie veranstaltet wurde. Es war der 194. Geburtstag von Karl Marx, und eingeladen hatten der Geraer Sozialistische Dialog, das Marxistische Forum und die Marx-Engels-Stiftung, auch im Gedenken an den im Herbst verstorbenen Rechtsphilosophen Uwe Jens Heuer.

Jochen Traut verdeutlichte in seiner Einleitung die Situation: Kapitalismus und Finanzwirtschaft leiden unter krisenhafter Instabilität, das Vertrauen in die Integrationskraft der bürgerlichen Demokratie schwindet. Grundlegende Änderungen des Kräfteverhältnisses seien aber nicht zu bemerken. Marxismus als Aufklärung zu verstehen, heiße, sich nicht den öffentlichen Medien zu beugen. Die Revolutionäre von heute müssen nicht nur Bahnhöfe, sondern Begriffe besetzen.

Daß der Marxismus seine Potenz nur verwirklichen könne, wenn er Antworten über die Zukunft gebe, hob Robert Steigerwald hervor. Auch wenn die Klassiker des Marxismus keine Spekulationen über die Zukunft anstellten, hätten sie »Notizzettel« über mögliche Entwicklungslinien hinterlassen, wie u.a. in den Randbemerkungen zum Gothaer Programm. Gerade die historische Erfahrung des Sozialismus müsse Bestandteil einer Weltanschauung sein, die nicht aus Spekulationen, sondern aus gesellschaftlicher Praxis Einsichten schöpft. Marxisten sollten sich Gedanken machen, welche Rolle Staat, Parteien oder Gewerkschaften in nachkapitalistischen Gesellschaften spielen werden, wie sich das Verhältnis von Frau und Mann oder von geistiger und körperlicher Arbeit gestalten wird, wenn die Voraussetzungen für Herrschaft von Menschen über Menschen überwunden worden sind. Neben der Erklärung der Wirklichkeit sei die Utopie Teil der aufklärerischen Kraft des Marxismus. Eine Gesellschaft, die frei ist von Ausbeutung der Natur und des Menschen oder von monopolistischer Konkurrenz, die Krieg und Elend hervorbringt, besitze immer Überzeugungskraft.

Gretchen Binus verdeutlichte, daß der Marxismus fähig sein müsse, Bedingungen und Entwicklungen der Gegenwart zu erklären. Als Beispiel hob sie die Analyse des modernen Kapitalismus hervor und legte einen Schwerpunkt auf die Theorie von Imperialismus und Monopol. Marxismus als Aufklärung müsse die Eigentumsfrage als Machtfrage dort praktisch stellen, wo tagespolitische Auseinandersetzungen antimonopolistische Ansätze bieten, wie z. B. der Kampf gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums.

Den Zusammenhang von vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekten des Marxismus stellte Manuel Kellner heraus. Kritik an der bisherigen marxistischen Praxis trete sowohl auf als Vorwurf blinder Gläubigkeit als auch als Ablehnung einer Verwissenschaftlichung konkreter geschichtlicher Prozesse. Ersteres resultiere aus der Verflachung des Marxistischen Denkens unter Stalin, als der Glauben an Lehrsätze das Wissen über gesellschaftliche Wirklichkeit oftmals ersetzte. Ebenso problematisch sei die Vorstellung, historische Gesetzlichkeit vollziehe sich objektiv ohne Anteile einer Moral der Handelnden. Demgegenüber betonte Kellner, daß die Analyse des Kapitalismus nur verständlich werde, wenn die Empörung gegen das Elend als Motiv (und Ziel) der Analyse mitbegriffen werde. Das Engagement des Einzelnen lasse sich rein aus rationeller Einsicht in die Klassenverhältnisse nicht erklären. Der Arbeiter entscheide sich im Hier und Jetzt für seine Selbstbehauptung in der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Haltung sei ohne Glauben an ein individuelles Glück nicht möglich. Eine neue politische Führung müsse aber auch offen aussprechen, warum Entbehrungen des Einzelnen beim Kampf um den Sozialismus notwendig seien.

Über die »Integrationskraft der bürgerlichen Demokratie« sprach Ekkehard Lieberam, womit er »eines der wichtigsten Themen« im Werk Uwe-Jens Heuers aufgriff. Die bürgerliche Demokratie bewege sich im Spannungsfeld von Integrationsfähigkeit und Kapitalherrschaft. Das Kapital verwerfe das allgemeine Wahlrecht, sobald es seine Herrschaft damit nicht mehr absichern könne. Allerdings bleibe die Integrationskraft des Kapitals das Markenzeichen bei der Befriedung sozialer Kämpfe. Wer die Arbeiterklasse als Subjekt der Veränderung mobilisieren möchte, sollte die Demokratie- von der Eigentumsfrage ableiten.

Nach Ansicht von Kurt Pätzold sei die Rolle der Volksmassen in der marxistischen Theorie bisher nur unzureichend beleuchtet. Oft seien sich Marxisten nicht bewußt, welche Rolle Moral in ihrer Argumentation spielen sollte. Ihr Handeln sollte nicht nur eine Frage wissenschaftlicher Einsicht sein, sondern »die Haltung, die wir einnehmen, damit wir des Morgens und des Abends mit Anstand in den Spiegel schauen können«.

Der Satz »Wir engagieren uns für eine Zukunft, von der wir nicht wissen, ob es sie geben wird« markierte nicht nur das Ende seines Redebeitrages, sondern setzte auch das Credo des Tages. Denn den Marxismus als Aufklärung zu gebrauchen, heißt, die Möglichkeit zur Wirklichkeit zu erheben.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Mai 2012


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