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Einer für alle

Die Berliner Tagung "Marxismus kontrovers" diskutierte Karl Marx als einen Denker des Möglichen im Wirklichen

Von Sebastian Triesch *

Wer im modernen Wissenschaftsbetrieb etwas Wichtiges zu sagen hat, dem geht es um ominöse Dinge wie »Visibility« und »Networking«, letztlich also meistens darum, die eigene Person mal wieder ins Rampenlicht zu stellen. Der Wissenschaftler von Welt trägt ja auch nicht einfach nur vor; nein, er hält die Keynote-Lecture oder versteht seine Präsentation gleich als Performance. Erfrischend altmodisch ging es am Wochenende dagegen im knarrenden Hörsaal 2032 der Technischen Universität in Berlin zu. Nicht einmal der Beamer wurde angeschaltet, im Mittelpunkt stand allein das gesprochene Wort.

Die Marx-Engels-Stiftung, der Kulturmaschinen Verlag und die junge Welt luden zur Tagung »Marxismus kontrovers«. Hauptanliegen der Veranstalter war ein Projekt, das sich vielleicht als eine Rückeroberung Marxens für den Marxismus beschreiben läßt. Seit sich der Kapitalismus mal wieder in einer »Krise« befindet, ist die Beschäftigung mit Karl Marx und seinen Theorien wieder mehr en vogue, das ihnen innewohnende kritische Poten­tial wird dabei aber selten offengelegt, bisweilen sogar mutwillig verleugnet. Werner Seppmanns Ausführungen über diese »Neue Marx-Lektüre« wären als Eröffnungsvortrag vielleicht noch eindrücklicher gewesen als am Sonnabend um 17.15 Uhr. Seppmann sprach nahezu frei und mit viel Verve über ein Denken, das Marx nur auf eine politische Ökonomie, ohne empirischen Wirklichkeitsbezug reduziert und ihn so entpolitisiert. Für die akademische Behandlung ist ein solcher Marx ohne Revolutionsperspektive sicher gefälliger; Marxismus dürfte sich so etwas aber nicht mehr nennen.

Wenn Marx von sich behauptet hat, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben, dann könnte man sagen, daß es am Wochenende darum ging, Marx selbst wieder auf die Füße zu stellen, nachdem dessen bürgerlichen Exegeten sein Werk von der Wirklichkeit abgekoppelt haben. Unabdingbar ist es dabei, Marxens berühmte Elfte Feuerbachthese (»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber drauf an, sie zu ändern«) ins Zentrum der Beschäftigung mit Marx zu stellen.

Nicht Seppmann, Thomas Metscher war es, der die Konferenz eröffnete, mit Überlegungen zum Thema Marxismus als »Weltanschauung«. Auf theoretisch hohem Niveau ging es ihm darum zu zeigen, wie der Marxismus als konkrete Utopie nutzbar gemacht werden kann. Daß menschliches Denken in den Kategorien Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft vollzogen wird, erscheint erst einmal banal, es steckt aber doch mehr dahinter. Die Geschichtsdidaktik baut auf dieser Erkenntnis komplette Studiengänge auf, aber gerade auch eine marxistische Perspektive macht diesen Gedanken fruchtbar – als »Denken des Möglichen im Wirklichen«.

In Andreas Wehrs Referat ging es weniger um Marx als um die aktuellen Diskussionen über den Imperialismus. Lenins Analyse des »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« wirkt in der sogenannten Finanzkrise frappierend aktuell. Welche politischen Schlußfolgerungen Antiimperialisten daraus zu ziehen haben, darüber läßt sich trefflich streiten, will man eine Romantisierung antiwestlicher Regimes vermeiden. Mit dieser Dialektik einer Politik, die zwar gegen westliche Hegemonialbestrebungen antritt, aber deshalb noch lange keine linke Politik ist, setzte sich schon Karl Kautsky auseinander, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Diesen Grundkonflikt anzugehen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, weshalb Wehr in seiner Forderung nach mehr Diskussionen zu diesem Thema beizupflichten ist.

Am Sonntag vormittag kam der Beamer dann doch noch zum Einsatz. Helmut Dunkhase warf damit Marx-Zitate an die Wand, um die Verbindungen von »Sozialismus und Computer« auszuloten. Es war allemal interessanter als viele Äußerungen der Piratenpartei, zu hören, wie Computereinsatz planwirtschaftlichen Konzepten zu neuer Geltungskraft verhelfen könnte. Technischer Einsatz allein ist aber noch lange keine Patentlösung, der Kampf für eine bessere Zukunft ist im Wortsinne ein menschlicher. Zu recht kam aus dem Publikum die Feststellung: »Computer ist nur Null und Eins. Mehr kann er nicht.«

Den Marxismus als kritische Wissenschaft attraktiv zu machen, war eines der Anliegen der Konferenz. Worauf ein »erneuerter Marxismus« zurückgreifen könnte, zeigte Claudius Vellay. In seinen Ausführungen griff er die unterschiedlichen Marx-Adaptionen durch Jürgen Habermas, vor allem dessen »Theorie des kommunikativen Handelns«, und George Lukàcs’ Konzept der Sozialontologie auf. Gegen eine sprachanalytische Wendung des Marxismus, wie sie Habermas für die Frankfurter Schule vollzog, machte Vellay Lukàcs’ Betonung der materialistischen Grundlage allen Handelns stark und plädierte dafür, Arbeit als zentrale gesellschaftliche Kategorie und Ort der Subjektbildung ernst zu nehmen. Die anschließende Diskus­sion führte vor Augen, daß auch diese Herangehensweise Probleme aufwirft. Wichtige Bereiche des Sozialen wie Religion und zwischenmenschliche Beziehungen sind durch ein reines Arbeitsparadigma nicht faßbar. Das Spätwerk Lukàcs in einen zeitgemäßen Marxismus zu integrieren, bleibt als Aufgabe aktuell.

Das Schlußreferat besorgte der kämpferisch aufgelegte jW-Chefredakteur Arnold Schölzel, der nach ganz konkreten Perspektiven für den Marxismus als Kraft gesellschaftlicher Veränderungen suchte. In einem endgültig global gewordenen Kapitalismus sieht er die Chancen gerade bei den verschiedensten globalisierungskritischen Gruppierungen. Was bisher als Forderung nach der Zähmung des Finanzkapitals im Raum steht, kann von Marxisten aufgegriffen werden. An diesen liegt es dann, weitere Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Will Protest mehr als nur ein Aufflackern von Unbehagen sein, so muß man den utopischen Überschuß, den Marx’ Denken in sich trägt, ernst nehmen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. April 2012


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