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Dümmer als "Das Kapital" erlaubt

Wer läßt sich noch von Wohlfahrts- oder Börsenkapitalismus austricksen? Zum Abschluß der historisch-kritischen Edition des "Kapital" innerhalb der MEGA

Von Georg Fülberth *

Marx, so lesen wir gegenwärtig allenthalben, habe doch recht gehabt. Insbesondere seine bis jetzt immer noch spärlichen Anhänger freuen sich. Doch die Rehabilitation ist eher ein kulturelles Phänomen ohne operative Bedeutung. So erklärt sich, daß Keynes jetzt ebenso hoch gehandelt wird wie Marx, obwohl beide letztlich nicht vereinbar sind -- es sei denn, man räume ein, Marx habe die Welt zutreffend interpretiert, es komme aber darauf an, sie mit Keynes zu verändern. Insofern wäre die gegenwärtige Renaissance der beiden ein weiteres Produkt der Postmoderne, in der anything goes.

Daß eine Krise nicht zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen muß, wußte Marx spätestens 1857, als seine Hoffnung, der Crash werde ein anderes, besseres 1848 heraufführen, fehlschlug. Zwei Jahre später, 1859 im Vorwort seiner Schrift »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, benannte er (MEW 13, S.9) in großer Gelassenheit die allgemeinen Voraussetzungen einer Revolution: Herausbildung der Elemente einer neuen Gesellschaft schon in der alten. Wo es daran fehlt, hilft auch der schönste Kladderadatsch nichts. Soviel zur häufig gehörten Verwunderung, daß die Linke zur Zeit eine Vorlage nicht verwandeln könne.

Als ein Ertrag nicht der Rezession, sondern eines philologischen Langzeitprojekts kann aber jetzt schon die Tatsache gefeiert werden, daß die historisch-kritische Edition des »Kapital« innerhalb der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) abgeschlossen ist. 1983-1991 erschienen die verschiedenen Ausgaben von Band eins, 2003 Manuskripte und redaktionelle Texte zum dritten Buch des »Kapital«, 2004 der dritte Band selbst. Das Redaktionsmanuskript von Friedrich Engels zum zweiten Buch wurde 2005 herausgegeben, 2008 folgten die »Manuskripte« zu diesem Band und zugleich die historisch-kritische Fassung der Erstausgabe von 1885.

Es überrascht die Reihenfolge. Band 1 zuerst: Das leuchtet nach der allereinfachsten Zahlenlehre ja noch ein. Auch war die Aufgabe da noch am leichtesten: Es ist der einzige Band, den Marx selbst abgeschlossen hat, man hat hier schon gedruckte Ausgaben letzter Hand.

Band drei war für Friedrich Engels der editorisch schwierigste: Marx hatte hier ein Manuskriptchaos hinterlassen. Zugleich handelte es sich um den theoretischen Schluß-Stein: der »Gesamtprozeß der kapitalistischen Akkumulation« war darzustellen und eine Frage zu beantworten, die sich implizit schon aus dem ersten Band ergab, explizit aber von Engels im Vorwort zum zweiten gestellt war: Wie verhielten sich der Arbeitswert und der auf dem Markt allein sichtbare Preis zueinander? Die Relevanz des Problems, wohl aber auch redaktionelle Zufälligkeiten mögen die Gründe dafür gewesen sein, daß Band III innerhalb der MEGA vor dem zweiten herauskam.

Letzterer galt schon bei Friedrich Engels als nicht ganz so wichtig: der »Zirkulationsprozeß des Kapitals«, der hier behandelt wird, betrifft ja nicht unmittelbar das Verhältnis von Bourgeoisie und Arbeiterklasse.

Wenn nunmehr das gesamte ökonomische Hauptwerk von Karl Marx in all seinen - auch den bis dahin noch ungedruckten - Varianten vorliegt, könnten zwei Fragen beantwortet werden, die die marxistische und philologische Community vorher notgedrungen unerledigt vor sich herschieben mußte.

Erstens: Wie verhalten sich die Anteile des Autors Marx zu denen des Herausgebers Engels? Gab es - wie immer wieder einmal vermutet - sinnverändernde Eingriffe?

Zweitens, damit verbunden: Läßt sich aus der nunmehr erfolgten Erschließung des gesamten Textes völlig Neues gewinnen, das bisher im Nachlaß verborgen war?

Das Material zur zweiten Frage ist da, die Antwort ist bisher ausgeblieben. Eine umfassende Auswertung der Manuskriptmasse erfolgte noch nicht. Zur Frage des Verhältnisses von Marx-Text und Engels-Edition allerdings haben die philologischen Bearbeiter(innen) des zweiten und dritten Bandes in ihren Einführungen und in ihren Variantenverzeichnissen der Apparatteile wahrscheinlich schon das Wichtigste gesagt: Engels hat Marx korrekt wiedergegeben, er hat lediglich da und dort eine innere Schlüssigkeit zwischen Textteilen hergestellt, die im Nachlaß disparat herumlagen. Es dürfte unmöglich sein, aus den bislang ungedruckten Varianten einen Text zu fertigen, der etwas völlig anderes ist als die Bände 24 und 25 der in der DDR einst veröffentlichten Werkausgabe (MEW).

Der zweite Band des »Kapital« könnte gegenwärtig besondere Neugier wecken, da die aktuelle Krise zumindest in ihren Anfängen das war, was auch in diesem Buch dargestellt ist: eine innere Angelegenheit der Bourgeoisie. Aber das ist nur eine formale und feuilletonistische Analogie. Marx erlebte im Gründerkrach von 1873 zwar das Ende eines Aktienschwindels, doch war ihm dieser kein Anlaß zu irgendeiner Revision, sondern eine Bestätigung. Heutige Swaps, Futures, Options, strukturierte »Finanzprodukte« kannte er nicht. Auch im dritten Band, der sich anders als der zweite ausführlicher mit der Kreditwirtschaft befaßt, dachte er nicht in eine solche Zukunft.

Geld- und Kreditwirtschaft interessierte ihn ausschließlich in ihrer Beziehung zur Produktion, die auch im »Gesamtprozeß« des dritten Bandes zentral bleibt. Davon losgelöste Finanzoperationen konnten dann nur »Schwindel« sein.

»Das Kapital« ist dort am aktuellsten, wo es unzeitgemäß erscheint. Es markiert das Grundmuster, auf dessen Linien der Kapitalismus immer wieder zurückkehren muß.

Im Goldenen Zeitalter des sogenannten Wohlfahrtskapitalismus (ca. 1948 bis 1973) schien Marx out zu sein, weil bei ihm der wirtschaftlich aktive Sozialstaat nicht vorkommt. Als dieser am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sich zurückzog, bedeutete dies nicht die Wiederkehr des Manchesterkapitalismus von 1867 (Erster Band), sondern den Übergang zu einer Form, die Marx ebenfalls nicht kannte: zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus.

Beide Sonderformen, Wohlfahrts- und Börsenkapitalismus, aber sind Oszillationen um den auf materieller Produktion beruhenden Kern kapitalistischen Wirtschaftens und damit vorübergehende Antworten auf die von Marx analysierte Grundtendenz dieser Produktionsweise: die Überakkumulation. Das Kapital kann nur überleben, indem es sich klüger oder dümmer stellt, als es Marx erlaubt. Das gelingt ihm immer wieder, aber die Tricks ändern sich. Mehr noch als der erste und der dritte zeigt der zweite Band des »Kapital« nicht so sehr, wie der Kapitalismus untergehen kann, sondern wie er funktioniert. Im Umkehrschluß läßt sich dort auch finden, weshalb ihm das derzeit mal wieder recht schlecht gelingt.

  • Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Band 11: Manuskripte zum zweiten Buch des »Kapitals« 1868 bis 1881. Akademie Verlag, Berlin 2008
  • Band 12: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Zweites Buch. Redaktionsmanuskript von Friedrich Engels 1884/1885. Akademie Verlag, Berlin 2005
  • Band 13: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band. Herausgegeben von Friedrich Engels. Hamburg 1885. Akademie Verlag, Berlin 2008

* Aus: junge Welt, 8. April 2009


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