Kapitalismus zwischen Konsumismus und Krieg
Tagungsbericht von der IX. Internationalen Konferenz des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT)
Von Wolfram Adolphi*
Was für ein Titel:
Kapitalismus zwischen Konsumismus und Krieg!
Der Berichterstatter gesteht, daß er, als er die Konferenzeinladung
erhielt, sich zunächst ein ausführliches Referat und eine intensive,
mehrtägige Debatte zu genau diesem Thema vorstellte. Mit dem Resultat,
daß man einer ganz entscheidenden Frage näher getreten wäre:
jener nämlich, inwieweit die unglaubliche »Konsumtion«, die der
Krieg selbst darstellt, eine Konstituante des Kapitalismus geblieben
ist. Und zwar nicht nur des besonders und rücksichtslos räuberischen,
wie es im Hauptstrom marxistischer Analyse schon immer als unbestritten
gilt, sondern auch des »gebändigten«, sozialstaatlich verfaßten,
der in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
doch den Anschein erweckt hatte, auf Dauer friedensfähig
sein zu können. Ist denn schon ausgiebig genug erörtert worden, daß
diese Friedensfähigkeit offensichtlich entscheidend damit zu tun
hatte, daß der Aufbau nach 1945 auf den Gebeinen der über 50 Millionen
Weltkriegstoten und den Trümmern der Zehntausenden zerstörten
Städte und Dörfer, Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe
stattgefunden hatte? Und darum eine Art von »Sonderbedingungen«
geherrscht hatte, aus denen Friedensfähigkeit erwuchs? Und daß auch
der Aufbau in den realsozialistischen Staaten nach 1945 von diesen
»Sonderbedingungen« zehrte – und es zum Zusammenbruch kam,
als die Antriebe, die sich daraus entwickelt hatten, aufgebraucht waren?
Und muss man sich nicht auch entschiedener den anderen Kriegen
zuwenden, den »fremden«, »weit entfernten«, die so fremd und
weit entfernt nur für die Europäer waren, anderen Völkern und Kontinenten
aber trotz aller »Friedensfähigkeit« in Europa ein 20. Jahrhundert
fast ununterbrochener Kriege beschert hatten? Auch – siehe
zuletzt in den achtziger Jahren in Afghanistan – unter realsozialistischen
Vorzeichen? Und zum Schluß, natürlich, hätte die Frage aller
Fragen gestanden: Wie denn nun sind sie wirklich zu verhindern –
die Kriege, die der Kapitalismus immer wieder vom Zaune bricht?
Wenn Krieg und Konsumismus seine Konstituanten sind?
Indes: Für ein solches Referat war diese Konferenz nicht gemacht.
Für die Debatte um die alles überwölbende Problematik aber natürlich
schon – wenngleich sie im Puzzle dutzender Einzelveranstaltungen
und ungezählter Pausengespräche zu führen war. Denn das
ist das Besondere an dieser Art von InkriT-Tagungen: daß sie, weil
sie der Vorbereitung der einzelnen Bände des Historisch-kritischen
Wörterbuches des Marxismus (HKWM) dienen, nicht eine in sich
geschlossene Problematik zum Gegenstand haben, sondern die einzelnen Stichworte des jeweiligen Bandes. Nun steht Band 7 auf dem
Programm und mit ihm der Buchstabe K – woraus sich der herausfordernde
Titel hatte konstruieren lassen.
Wie also in die Spanne von Kapitalismus über Konsumismus zu
Krieg, aber auch von Kalter Krieg über Kapital-Lektüre und Karneval
zu Katholizismus, von Kemalismus über Kindesmißbrauch und Klassen
zu Kolonialismus, von Kollektivierung über Kommunistisches
Manifest und Konsumgesellschaft zu Kontrolle eine verbindende
Systematik bringen?
Der Veranstalterkreis um die InkriT-Vorsitzende Frigga Haug
(Esslingen), HKWM-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug (Esslingen)
und HKWM-Koordinator Thomas Weber (Berlin) hat dazu eine Mischung
von Veranstaltungsformen ersonnen, mit der das Unmögliche
möglich zu machen versucht wird. Es gibt Plenarsitzungen, bei
denen noch nicht die Stichwörter selbst, sondern übergreifende Themen
verhandelt werden. Es gibt Rundtischgespräche, die – an kleinere
Teilnehmerkreise gewandt – einem ähnlichen Zweck dienen.
Und es gibt die eigentlichen Wörterbuch-Werkstätten, bei denen es
um die Stichwörter selbst geht: jeweils mit dem Vortrag der oder des
für die Erarbeitung verantwortlich Zeichnenden und mit vier oder
fünf vorbereiteten Voten.
Auf diese Weise sind auch die rund 100 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, die sich vom 26. bis 29. Mai 2005 in Esslingen versammelt
hatten, tatsächlich unter einen Hut gebracht worden – mit
nicht weniger als 33 Veranstaltungen insgesamt, von denen zwangsläu
fig etliche parallel zueinander ablaufen mußten. Einige wenige
von diesen seien hier stellvertretend dargestellt.
Kapitalismus – Krieg – Konservatismus
Mit einem anderthalbstündigen Plenum zum Thema Kapitalismus
und Krieg wurde der vom Konferenztitel her so nahe liegenden Fragestellung
am Beginn des zweiten Beratungstages ein zwar nur kurzer,
aber außerordentlich intensiv genutzter Raum geöffnet. Norman
Paech (Hamburg) und Darco Suvin (Lucca/Italien) leiteten eine
Diskussion ein, an deren Ende an der Richtigkeit der Suvin-These
»Capitalism Means/Needs War« (Kapitalismus bedeutet/braucht
Krieg) kein Zweifel gelassen wurde. Und Suvin war es auch, der den
Zusammenhang zwischen »dem Tod der einen und der nachfolgend
sich bietenden Aufbaumöglichkeit für die anderen« ausdrücklich zur
Sprache brachte – und es dabei nicht bewenden ließ, sondern hervorhob,
daß das kapitalistische Imperium an beidem gleichermaßen
profitiere. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Argumentation bildete
die zunehmende Privatisierung der Gewalt – nicht nur im Terrorismus
einzelner, sondern auch in der Kriegführung der Staaten
selbst.
Paech begrüßte an den Suvinschen Überlegungen, daß er mit ihnen
eine Debatte, die in dieser Klarheit fast nur noch in der Dritten
Welt – er nannte die Namen Samir Amin und Walden Bello – geführt
werde, wieder zurück nach Europa hole. Denn hier, in Europa, habe
der Meinungshauptstrom den Krieg ja längst wieder salonfähig gemacht.
Kriege überraschten uns nicht mehr, sondern würden vor
ihrem Beginn lange angekündigt; die Friedensforschung analysiere
heute weniger die Bedingungen der Herbeiführung des Friedens als
vielmehr verschiedene Kriegsformen; und Deutschland befinde sich
seit dem Herbst 2001 im »Verteidigungszustand« – eine Beendigung
desselben, den die seinerzeitige PDS-Fraktion im Jahre 2002 beantragt
habe, sei von allen anderen Fraktionen abgelehnt worden. Es
sei unübersehbar, daß die USA nach einer zeitlichen und räumlichen
Entgrenzung des Krieges strebten. Damit werde die Welt in einen
dauernden Ausnahmezustand versetzt – und zwar nicht, wie das oft
behauptet werde, durch den Terrorismus selbst, sondern vielmehr
durch die Instrumentalisierung des Terrorismus.
Paech machte drei Rechtfertigungsstrategien der Herrschenden für
ihre Kriegführung aus: erstens den offenen Bruch des bestehenden
Völkerrechts mit moralischer Begründung; zweitens die Neuinterpretation
des Begriffs der Selbstverteidigung; und drittens die Beschwörung
der Notwendigkeit, das Recht müsse ständig weiterentwickelt
werden – womit man glaube, eine Grundlage zu haben für
die Einführung solcher Kategorien wie »humanitäre Intervention«
oder »präsumptive Intervention«. Entgegenstellen müsse man all
dem, schloß Paech, ein entschlossenes »Zurück auf den Ausgangspunkt
1945«. Damals sei man sich einig gewesen in der Forderung
nach konsequenter Ächtung der Gewalt überhaupt.
Unterstützt von Wolf-Dieter Narr (Berlin) machte Paech Zweifel
daran geltend, daß die von Suvin benannte Privatisierung der Gewalt
tatsächlich ein so neues Phänomen sei. Der Einsatz von Söldnern sei
schon immer – auch, zum Beispiel, im 30jährigen Krieg – ein fester
Bestandteil der Kriegführung gewesen. Und dominant bleibe trotz
mancher neuer Privatisierungsformen doch der imperialistische
Staatenkrieg. Narr ergänzte noch, daß der »Krieg gegen den Terrorismus
« keineswegs erst nach dem 11. September 2001 begonnen
habe, sondern im 15 Jahre eher begonnenen »Krieg gegen die Drogen
« bereits einen adäquaten Vorläufer gehabt habe.
Ein Rundtischgespräch zum Thema Bush’s America am gleichen
Beratungstag bot Gelegenheit, die Kapitalismus-Krieg-Debatte
fortzusetzen. Harriet Fraad (New York/USA) präsentierte einen
schockierenden Befund zur US-amerikanischen Gesellschaft. Der
religiöse Fundamentalismus habe ein nie gekanntes Ausmaß erreicht,
und die Linke habe den entsprechenden Konzepten nichts entgegenzusetzen.
Ein Buch mit der Theorie, daß, wer in Christus neu geboren
sei, keine Vergangenheit habe und daher auch keine Verantwortung
für die Vergangenheit trage, sei nicht weniger als 62 Millionen
Mal verkauft worden. Ein Drittel der Bevölkerung müsse als fundamentalistisch
gelten. Der Moral-Begriff sei reduziert auf das Sexualverhalten
des Individuums – und habe nichts zu tun etwa mit dem
Hunger in der Welt oder dem verschwenderischen Umgang mit den
natürlichen Ressourcen. Die Lage der US-Bevölkerung von heute
könne mit der der deutschen Arbeiterklasse in den dreißiger Jahren
verglichen werden: Sie ahne nicht, daß sie etwas aufbaue, durch das
sie am Ende selbst zerstört werde. Schon jetzt seien ernsthafte Zeichen
der Selbstzerstörung sichtbar: Um die 120 Millionen Einwohnerinnen
und Einwohner der USA seien wegen depressiver Zustände
in Behandlung. Seit dreißig Jahren sei ein Sinken der Reallöhne der
Männer zu verzeichnen. Die Männer sähen sich daher einer doppelten Bedrohung ausgesetzt – von seiten der Gesellschaft insgesamt
und durch die zunehmende Teilnahme der Frauen am Arbeitsprozeß.
Die überausgebeuteten Männer erwarteten eine erhöhte Haushalts-,
Gefühls- und Sexualfürsorge zu Hause, die ihnen die Frauen nicht
mehr bieten könnten. Dies alles biete den Nährboden für eine Hinwendung
zum religiösen Fundamentalismus – und tatsächlich finde
Bush die Mehrheit seiner Wählerschaft unter den weißen Männern
der USA.
Kurt Lenk (Erlangen) beschrieb die Neokonservativen der USA –
die NewCons – als eher fundamentalistisch denn konservativ, ja sie
fühlten sich wohl sogar »revolutionär im Sinne der Zerschlager der
Weimarer Republik«. Die Grundlagen für das, was heute geschehe,
seien im übrigen bereits in der Zeit der Reagan-Administration geschaffen
worden. Man könne die Strategie der NewCons etwa so beschreiben:
Es gehe ihnen darum, im Vorfeld alle eventuell möglichen
Bedrohungen zu erkunden, um sie dann ohne großen Schaden für
sich selbst ein für allemal auszuschalten.
In Beantwortung der Frage, warum die Veränderungen, die die
USA doch offensichtlich schwächten, in der Welt so wenig reflektiert
würden, verwies Harriet Fraad auf die Tatsache, daß es heute –
völlig anders als etwa noch in der Zeit des Vietnamkrieges – kaum
noch unabhängige Medien gebe. Sie alle seien – wie das Wort aus
dem Irakkrieg lautet – embedded, in die Strategie eingebettet.
Wie solche Plenar- und Rundtischdebatten direkt in die Wörterbuch-
Werkstätten ausstrahlen können, dafür lieferte die Werkstatt
zum Stichwort Konservatismus am dritten Beratungstag einen beeindruckenden
Beweis. Kurt Lenk (Erlangen) zeichnet für den entsprechenden
Wörterbuch-Eintrag verantwortlich und präsentierte
zunächst ein Papier, mit dem er erst einmal die Fülle des Stoffs, der
zu verarbeiten sein wird, sichtbar machte. Nach der wörterbuchüblichen
Befassung mit »Wort und semantischem Umfeld« und »Bedeutungen
des Begriffs« enthielt diese Gliederung zum Beispiel den
Themenkomplex »Gemeinsame Merkmale des Konservatismus«, zu
denen Lenk gegenrevolutionäre Revolutionskritik, konservativen
Antimodernismus, Konstantenanthropologie, zyklische Geschichtsphilosophie
und Anti-Intellektualismus rechnet, und den Themenkomplex
»Konservatismus als Herrschaftslegitimation«, worunter
Lenk zufolge Fragestellungen abzuhandeln wären wie Gottesgnadentum
und Herrschergnade, Machiavellismus und Hobbismus, Rechtfertigung
der sozialen Ungleichheit, Monarchie und moderner Staat,
das Eliten-Massen-Syndrom und die mit dem Konservatismus verbundene
Kulturkritik, Zivilisationskritik und Zeitdiagnostik. Weiter
spannte Lenk den Bogen über die Geschichte des europäischen Konservatismus
zur konservativen Revolution, zu Konservatismus und
Faschismus, Konservatismus und Nationalsozialismus, konservativen
Strömungen im Nachkriegsdeutschland, Konservatismus in der
Berliner Republik und schließlich marxistischen Interpretationen
des Konservatismus. Ein dickleibiges Buch statt »nur« eines Wörterbucheintrages
stand da vor den Zuhörerinnen und Zuhörern auf,
und Lenk war sich dessen natürlich bewußt und verwies noch einmal
darauf, daß es sich hier keineswegs schon um die Gliederung des
Wörterbucheintrags gehandelt habe, sondern erst einmal um eine
Hilfe zur Grundverständigung, und die wurde dann auf packende
Weise in die aktuelle Politik hinüber geführt, als Rick Wolff (Amherst/
USA) die Lenkschen Ausführungen durch einen Vortrag zum
Konservatismus in den USA ergänzte.
Der US-Konservatismus, so Wolff, ruhe auf vier Säulen, die sich
»in komplizierter Koalition« miteinander befänden. Die erste dieser
Säulen bilde das roll back des Rooseveltschen New Deal der dreißiger
Jahre. Als gelungen könnten bereits gelten: das roll back der
Gewerkschaften, das roll back der Marktregulierung und das roll
back der Gesundheitsfürsorge. Noch nicht gelungen sei bisher das
roll back der sozialen Sicherungssysteme. Die zweite Säule bestehe
in der Überzeugung, daß der »Fehler« von 1945, nicht sofort die
Kontrolle über die Welt hergestellt zu haben, ausgebügelt werden
müsse. Der »wunderbare Zusammenbruch« der Sowjetunion habe
die USA – so meine man in den Kreisen um Paul Wolfowitz und
Richard Cheney – an den Ausgangspunkt von 1945 zurückgebracht.
Die dritte Säule sei mit der Zurückdrehung der »sexuellen Revolution
« der 60er Jahre und der mit ihr verbundenen Selbständigkeit
und Unabhängigkeit der Frauen gegeben. Und die vierte Säule
schließlich gründe in der Überzeugung, daß der Multikulturalismus
überwunden werden müsse.
Das alles verband sich trefflich mit der These von Kurt Lenk, wonach
der Konservative dann aktiv werde, wenn man ihn reize und
herausfordere, und daß der Konservatismus immer als Reflektion gegen
die Aufklärung zu verstehen sei. Und in der Schärfe, mit der
Rick Wolff in Fortsetzung der Ausführungen von Harriet Fraad
(New York) vom Tage zuvor die gesellschaftliche Komplexität des
neuen US-Konservatismus umriß, stellten sich die Verbindungen zur
Kapitalismus-und-Krieg-Frage den Zuhörenden von selbst her.
Weitere Voten zum Lenk-Entwurf stammten von Falko Schmieder
(Berlin), Richard Gebhardt (Aachen) und Richard Heigl (Regensburg).
Kommunismus – Kommunistisches Manifest – Kapital-Lektüre
Ein anderes Beispiel: Nach einem Eröffnungsplenum mit dem schönen
Titel Leidenschaft braucht’s und Verstand … beim Schreiben von
HKWM-Artikeln, bei dem Frigga Haug (Esslingen) und Wolf-Dieter
Narr (Berlin) mit Verve – und etlichem Mut zu Lob für einzelne Wörterbucheinträge
hier und Kritik an anderen dieser Einträge da – für die
Arbeit an den Stichwörtern warben, gab es vor dem Einstieg in die
Wörterbuch-Werkstätten ein zweites Plenum zum Thema Hat es noch
einen Sinn, von Kommunismus zu sprechen? Dem die Frage entschieden
bejahenden Referat von Theodor Bergmann (Stuttgart) widersprach
in der Debatte, in der außerdem Victor Wallis (Boston/USA), Rick Wolff
(Amherst/USA), Gianluca Schiavon (Venedig/Italien) und Catharina
Schmalstieg (Berlin) zum Podium gehörten, niemand, und das kam
auch nicht überraschend, galt dieses Plenum doch eher der Selbstvergewisserung,
der Einstimmung auf die folgenden Werkstätten, und das
war konferenztechnisch wie auch konferenzpsychologisch klug bedacht.
Es entstand eine Atmosphäre des intensiven Redens und
Zuhörens, des achtungsvollen Gebens und Nehmens, des fordernden
und zugleich humorvollen Streits, wie sie selten zu erleben ist.
So auch, als schon gleich nach diesem Plenum Thomas Marxhausen
(Halle) seinen Textentwurf zum Stichwort Kommunistisches Manifest
vorstellte. Unmöglich, hier auch nur in Ansätzen den Gedankenreichtum
dieses Wörterbucheintrags wiederzugeben. Schließlich
geht es, wie es im Entwurf heißt, um das »bekannteste und wirkungsmächtigste
Werk des Marxismus«, dessen Verbreitung Marxhausen
für »mit der der Bibel vergleichbar« hält. Die »gedankliche
Präzision und sprachliche Kraft, mit der die ›Geschichte aller bisherigen
Gesellschaft‹ und eine erst in Konturen sichtbar werdende
neue Welt in aller Knappheit ins Bewußtsein gerückt sind«, gebe
dem Manifest »bis heute den Status des Gründungsdokuments einer
neuen Weltauffassung«. Er habe sich nun, so führte Marxhausen zur
Erläuterung seines Entwurfes aus, zu Entstehung, Titel und Sprache
des Manifests geäußert, weiter zum Inhalt unter Hervorhebung von
Widersprüchen, dann zu den von Marx im Manifest vorgenommenen
Selbstzitaten und schließlich zum Abstraktionsniveau. In der Frage
der Selbstzitate sei ihm ein Gedanke besonders wichtig: Natürlich
finde sich »alles, was im Manifest steht, bereits im Frühwerk« von
Marx – und da sei es nun besonders interessant, daß die Kritiker des
Manifests immer wieder nachdrücklich auf die in ihm enthaltenen
Widersprüche und Fehler verwiesen hätten, nie aber so weit gegangen
seien, damit auch das Frühwerk in Frage zu stellen. Nicht behandeln
könne er – so Marxhausen – aus Platzgründen in seinem Wörterbucheintrag
die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Manifests, die
verschiedenen seit seinem Erscheinen publizierten Lese- und Studienhilfen,
die philologischen und editorischen Untersuchungen, die
zum Manifest angestellt worden sind, und die dem Manifest gern zugeschriebenen
»handlungsleitenden Antworten«.
Werner Schmidt (Stockholm) wollte den Verzicht auf die Rezeptionsgeschichte
nicht akzeptieren. Ein solcher Verzicht führe zu einer
Beschränkung auf den Blick zurück, wo doch auch der Blick nach
vorn gefordert sei. Und sei nicht der Widerspruch in der Bewertung
des Manifests durch die Kommunistische Internationale einerseits
und Rosa Luxemburg andererseits von größter Bedeutung? Die KI
habe das Manifest als Gipfelpunkt des Marxschen Denkens betrachtet,
Rosa Luxemburg jedoch »lediglich« als Übergangsdokument.
Darko Suvin (Lucca/Italien) schloß sich der Schmidtschen Argumentation
an und machte neben der KI- und der Luxemburg-Linie in
der Rezeption noch eine dritte Linie geltend: die Rezeption durch
»Freischärler« wie Brecht und Derrida. Zudem müsse im Wörterbucheintrag
auch etwas zur Beurteilung ihres Textes durch Marx und
Engels selbst gesagt werden. Zur Autorschaft wolle er anmerken,
daß man wohl doch Karl Marx eindeutig als Autor ausweisen müsse
– und nicht Marx/Engels, wie das von Thomas Kuczynski unternommen
worden sei. Wichtig sei ihm schließlich, auf die eschatologische
– in diesem Falle: jüdische, messianische – Komponente des
Manifests zu verweisen. Der Gedanke der Salvation, der Erlösung
präge den Text in außerordentlicher Weise. Und was die »handlungsleitenden
Antworten« betrifft, zu denen sich Marxhausen im
Wörterbucheintrag nicht äußern wolle: In der Tat habe das Manifest
auch den Charakter einer »obrigkeitlichen Anweisung«. Es präsentiere
eine dichte Reihe von Verhüllung und Enthüllung, eine dichte
Reihe von Bildern und Phantasien. Indem es »zur Wahrheit konvergiert
«, nehme es einen seit der Antike wichtigen Topos auf.
Die Weiterführung dieser Debatte hätte – wie so viele andere Wörterbuch-
Werkstätten auch – schon bald eine eigene Konferenz ergeben.
Voten zum Marxhausen-Text gab es außer von den bereits
Genannten von Paresh Chattopadhyay (Montreal/Kanada) und Simon
Krysl (Prag/Tschechische Republik).
Das Stichwort Kapital-Lektüre liegt in den Händen von HKWMHerausgeber
Wolfgang Fritz Haug (Esslingen) selbst. Sein Diskussionspapier
für die entsprechende Werkstatt war mit dem Wort
»Beratungsbedarf« überschrieben, und ähnlich wie zuvor Thomas
Marxhausen ging es ihm bei dieser Beratung auch darum, der drohenden
Uferlosigkeit des Beitrages zu begegnen. Anbieten wolle er
mit seinem Wörterbucheintrag sowohl eine Art »Studienberatung für
angehende Kapital-Leser« als auch eine Hilfe für Organisatoren bei
der Unterstützung von »Anfängern«. Unbedingt zu behandeln seien
die Lektüreschwierigkeiten und die Frage, wie mit diesen umzugehen
sei. Auf »Gefahren« sei hinzuweisen, denn »auch auf diesem
Feld« gelte, daß »Vernunft zu Unsinn« und »Wohltat zu Plage« werden
könne. Welche Einführungs- und Sekundärliteratur zum »Kapital«
sei unverzichtbar? Wer außer Kautsky und Korsch, Zeleny, Althusser,
Mandel, Bidet und Cleaver müsse dargestellt werden? Welche
Literatur aus der DDR? Unterschieden werden müßten unterschiedliche
literarische Gattungen. Es gebe die doxographische – Marxsche
Theoreme zusammenfassend und vereinfachend referierende –
Hilfe zur Kapital-Lektüre einerseits und die methodologische andererseits,
und eine dritte Kategorie bilde wohl der klassische Kommentar.
Eine wichtige Aufgabe bestehe darin, deutlich zu machen,
daß Lektüre ohne Interpretation nicht möglich sei. Es müsse durch
Textkritik aufgewiesen werden, daß der Marxsche Text »unterschiedliche
theoretische oder philosophische Anschlußmöglichkeiten enthält
« und man sich bei der Kapital-Lektüre »immer wieder entscheiden
muß, welche man privilegiert«. Weiter sei die Frage na ch
»Philosophie« und »Politik« der Kapital-Lektüre zu behandeln.
Ökonomistische, kapitallogische, hegelianisierende, strukturalistische,
historistische und praxisphilosphische Kapital-Lektüren träten
auf »wie Theorieparteien«. Und schließlich gehe es um die aktuelle
Situation der Kapital-Lektüre und um ihre Perspektiven. Vor welchen
Aufgaben stehe sie durch High-Tech-Kapitalismus und neoliberale
Globalisierung? Wie – insbesondere – betreibe das »neue Subjekt von
Kapitalkritik, die ›Bewegung der Bewegungen‹«, die Kapital-Lektüre?
In seiner Diskussionseinführung brach Haug ein erneutes Mal eine
Lanze für die Aktualität der Beschäftigung mit Marx überhaupt.
Freilich, sagte er, könne sich »kaum als Marxist bezeichnen«, wer
»Das Kapital« nicht gelesen habe, und selbstverständlich sei »Das
Kapital« dasjenige »Medium, mit dem wir uns selbst ständig durchkneten
«. Unverändert aktuell sei die Forderung, den Inhalt des »Kapital
« öffentlich zu machen – und ihn nicht zu »vergeheimnissen« –
, und noch immer sei die kollektive Aneignung seines Inhalts wichtig
und empfehlenswert.
Thomas Marxhausen rief in seinem Votum das Engels-Wort in Erinnerung,
wonach »Das Kapital« die »Bibel der Arbeiterklasse« sei
– aber nicht im Sinne von Exegese, sondern im Sinne von: Hand
drauf legen und drauf schwören, ohne den Inhalt zu kennen. Und
auch daran bat er sich zu erinnern: daß das Kapitel über »Das Kapital
« in Mehrings Marx-Biographie von Rosa Luxemburg stamme.
Weitere Voten gaben Richard Gebhardt (Aachen), No-Wan Kwack
(Berlin) und Hartmut Neuendorff (Dortmund) ab.
Das »nicht-klassische« Stichwort »Kindesmißbrauch«
Ging es bei den bisher dargestellten Debatten um eher »klassische«,
für ein Werk wie das HKWM mit Selbstverständlichkeit zu erwartende
Stichworte, so gehört Kindesmißbrauch wohl zu den eher unerwarteten
Einträgen. Gerade diese aber tragen ganz entscheidend
zur herausragenden Bedeutung des Gesamtunterfangens HKWM
bei, stehen sie doch in besonderer Weise für das Bestreben, neben
dem einen unverändert wichtigen Blick ins Buch immer auch die
zwei unverzichtbaren Blicke ins Leben zu werfen und dabei die
Marxsche Methode auf ihre Lebenskraft zu prüfen.
Verantwortlich für den Wörterbucheintrag Kindesmißbrauch zeichnet
Frigga Haug (Esslingen), und waren die Frauen bei allen anderen
Plenen, Rundtischgesprächen und Werkstätten deutlich in der
Minderzahl, so lagen hier sowohl das Stichwort als auch die Voten
ausschließlich in Frauenhand – ein in vielfacher Hinsicht bedenkenswerter
Umstand.
Frigga Haug leitete den Entwurf ihres Wörterbucheintrags mit der
Feststellung ein, daß der Begriff Kindesmißbrauch im Grunde ein
»Unbegriff« sei, »da er, in der Objektsprache gehalten, unterstellt,
daß es auch einen angemessenen Gebrauch von Kindern« gebe. Der
Begriff sei »Kreuzungspunkt sehr verschiedener Diskurse von Inzest
und Moral, Sexualität und Jugendschutz, Kinderhandel, Pornographie,
Pädophilie und allgemeiner Lüsternheit, Gewalt und Familie«, womit
sich erkläre, daß er nicht nur »merkwürdige Bündnisse in den
Kampagnen gegen Kindesmißbrauch« erlaube, sondern auch »das
Begreifen des Feldes« erschwere. Fast immer gehe es um sexuellen
Kindesmißbrauch; von daher würden etwa Kinderarbeit und Kinderausbeutung
nicht unter Mißbrauch abgehandelt. Insofern stehe nicht
»ein bestimmtes Bild von Kindheit« zur Diskussion, sondern eines
von »kindlicher und erwachsener Sexualität«, und in diesen Kontext
sei auch der Wörterbucheintrag gestellt.
Frigga Haug nimmt eine Diskussion auf, in der »Rückgriffe auf
Praxen aus der Antike, auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds, auf
die Analysen Michel Foucaults und auf den Widerstand aus der
zweiten Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts erkennbar werden«,
und gliederte ihren Entwurf daher in folgende Abschnitte: Die Kampagnen;
Familie als Brutstätte des Sexuellen; False memory; Sexuelle
Deregulierung, High-tech und Kindesmißbrauch. Immer ist sie
darauf aus, das überaus komplizierte Themengeflecht in die Analyse
der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse einzubinden, und
sie stellt Überlegungen zur Debatte wie etwa die folgende: Die
Skandale um sexuellen Kindesmißbrauch zeigten die Krise der Familie.
Sie ermöglichten auch, die Ausgeliefertheit der Heranwachsenden
an inkompetente und überforderte Elternpersonen und in der
Gesellschaft sichtbar zu machen. Es sei unwahrscheinlich, daß solch
mißbräuchliches Verhalten von seiten der Vater- oder auch Mutterpersonen
erst in den letzten 10 Jahren virulent geworden sei und jetzt
»die ehemals gesunde Gesellschaft« mit »krankhaften Absonderlichkeiten
« überfalle. Der u. a. von Foucault in seiner Geschichte der
Sexualität vorgeführte Ausbau des familiären Sexualitätsdispositivs
zu einer Mikrophysik der Macht verweise vielmehr auf eine lange
Geschichte auch des als sexuellen Mißbrauch ansprechbaren Verhaltens
gegen Heranwachsende.
In der weiteren Befassung mit dem Entwurf wird exemplarisch
sichtbar, welche Entdeckungsreisen diese Wörterbucheinträge darstellen.
Da verweist Frigga Haug plötzlich auf eine Stelle bei Antonio
Gramsci, an der dieser »beiher« erwähne, daß in den Abruzzen
und der Basilicata, wo der religiöse Fanatismus und der Patriarchalismus
größer seien und der Einfluß der städtischen Ideen geringer,
so daß es in den Jahren 1919-20 laut Serpieri dort kein einziges Mal
Bauernunruhen gegeben habe, der Inzest in 30 Prozent der Familien
vorkomme (Bd. 9, Heft 22, § 3, 2071). Nicht weniger aufschlußreich
die Verweise auf Arbeiten von Ian Hacking, Susan Sontag und Günter
Amendt.
Die Voten kamen von Frauen, die vielfältige juristische und beratende
Erfahrungen im Umgang mit Kindesmißbrauch haben. Bettina
Ehrhardt (Halle) verwies zunächst darauf, daß Kindesmißbrauch
kein juristischer Begriff sei. Im Strafrecht sei die Rede von »Mißbrauch
an Kindern«. Im Widerspruch zu Frigga Haug bezeichnete
sie dann den Begriff Kindesmißbrauch als einen Begriff ausschließlich
erwachsener – und nicht auch kindlicher – Sexualität. Nachdrück-
lich machte sie darauf aufmerksam, daß »juristische Beweisbarkeit
« und »Wahrheit« insbesondere bei Kindesmißbrauch zwei
völlig unterschiedliche Dinge seien. Kinder könnten sehr oft Erlebtes
nicht in Sprache übersetzen. Eine noch häufig unterschätzte Gefahr
stelle das Internet dar: Wer in die internen Porno-Zirkel hinein
wolle, müsse »eigenes Material« mitbringen. Auf Passagen eingehend,
in denen Frigga Haug sich positiv auf die befreiende Wirkung
der 68er-Bewegung auf den Umgang mit Sexualität bezogen hatte,
machte Bettina Ehrhardt geltend, daß die Kinder aus dieser Zeit und
Bewegung häufig anders berichteten. Es sei entschieden in Frage zu
stellen, ob es richtig gewesen sei, Kinder als Erwachsene zu behandeln.
Silke Wittich-Neven (Hamburg) schlug vor, noch stärker herauszuarbeiten,
wer die Profiteure des Kindesmißbrauchs seien. Es habe
sich unübersehbar bereits ein ganzer Wirtschaftszweig herausgebildet,
der seinen Gewinn mit diesem Mißbrauch mache. Des weiteren
müsse der zentralen Rolle des – patriarchalisch gestalteten – Opfer-
Diskurses größere Aufmerksamkeit geschenkt werden: Die Täter
machten sich beim Kindesmißbrauch grundsätzlich zu Opfern.
Britta Cacioppo (Wien/Österreich) unterstrich die Einbettung des
Kindesmißbrauchs in die herrschenden Gewaltstrukturen in ihrer
Gesamtheit. Der Mißbrauch habe eine erhebliche Signalwirkung:
Mädchen wüchsen mit einer Angst auf, wie sie Jungen kaum kennten.
Ganz offensichtlich sei die Lösung des Problems nur durch eine
radikale Gesellschaftsveränderung möglich. Aber warum kämpften
nur so wenige Frauen dafür?
Weitere Voten kamen von Jutta Kraus (Offenburg) und Jutta Meyer-
Siebert (Hannover), und am Ende waren sich wohl alle Teilnehmenden
darin einig, eine besonders tief greifende, Individuelles und Gesellschaftliches
in ihrer Wechselbeziehung besonders ernsthaft und
unmittelbar auslotende Debatte erlebt zu haben.
Die InkriT-Tagung als ein Fest kollektiver wissenschaftlicher Arbeit,
respektvollen Streitens und beharrlichen Suchens, gerichtet auf
ein Resultat, dem nachdrücklich ein wachsender Käuferkreis zu
wünschen ist: auf das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus,
dessen Band 7 im Jahre 2006 erscheinen soll. Die politischen
Entwicklungen des Sommers 2005 in Deutschland zeigen, daß der
Bedarf an marxistischer Analyse der Gesellschaft nicht geringer geworden
ist. Das HKWM stellt sich diesem Bedarf mit Texten, die
nicht nur wissenschaftlich anspruchsvoll, sondern meist auch durch
einen – wie in den Debatten immer wieder gefordert – spannenden
und gut lesbaren »Plot« gekennzeichnet sind.
* Wolfram Adolphi – Jg. 1951, Dr. sc. phil., Dipl.-Staatswissenschaftler, wiss. Mitarbeiter der Rosa-
Luxemburg-Stiftung und Redakteur bei "UTOPIE kreativ"
Aus: UTOPIE kreativ, H. 180 (Oktober 2005), S. 932-941
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