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Unerträglich, diese machtgeilen Rüpel

Terry Eagleton würdigt Karl Marx als Visionär und Realist

Von Martin Hundt *

Ein höchst seltenes Exemplar« sei Marx gewesen, schreibt Terry Eagleton - nämlich »Visionär und zugleich nüchterner Realist«. Dem ist zuzustimmen.

Das weite Problemfeld, das der deutsche Universalgelehrte beackerte, tritt in dem Buch des Briten, Professor für Englische Literatur an der Universität Manchester, weitgehend zurück zugunsten geschichtsphilosophischer Themen - die ja auch ein »weites Feld« sind. Und diese werden nicht lehrbuchhaft behandelt, sondern in jener gehobenen Gesprächsform, die der antiken griechischen Akademie und den besten Köpfen der französischen Aufklärung nachgesagt wird. Hier aber noch aufgefrischt mit britischem Humor.

Von dem Geist, in dem der Autor, ein Katholik, Marx gegenübertritt, kündet der Satz: »Als heilige Schrift wird sein Werk nur noch von marxistischen Fundamentalisten angesehen, und die sind heute bei weitem nicht so zahlreich wie die christlichen.« Fundamentalisten und Dogmatiker haben in der Wissenschaft nichts zu suchen, und auch Marx' Werk gegenüber gilt natürlich sein Satz: An allem ist zu zweifeln.

An einigen Stellen klingt es bei Eagleton aber, als sei es das Bestreben von Marx bzw. der sich auf ihn berufenden sozialistischen Bewegung gewesen, die objektiven Ungerechtigkeiten des Geschichtsverlaufs und speziell der kapitalistischen Gesellschaftsordnung moralisch zu rechtfertigen im Interesse eines »Endziels«. So hat Marx aber nie gedacht. Er hat - ganz im Gefolge seines Lehrers Hegel, der in diesem Punkt auch meist mißverstanden wird - entgegen allen »wahrsozialistischen« Träumereien nur die Unvermeidlichkeit der historischen Entwicklung betont, dabei aber ihre grausamen Seiten niemals beschönigt, zu welchem Zweck auch immer.

Da Eagleton konsequent Marx folgt, verurteilt er folglich alle stalinistischen Erscheinungen und formuliert den höchst bemerkenswerten Satz: »In einem sehr paradoxen Sinne bezeugt der Stalinismus, statt Marx' Werk in Verruf zu bringen, gerade dessen Gültigkeit.« Dies im Einzelnen zu belegen ist ein aktuelles Forschungsprogramm.

Ein schönes Buch, und endlich eines ohne die heute übliche penetrante antikommunistische DDR-Verdammung. Eagletons knappe Darstellung der sozialen und kulturellen Leistungen in früheren sozialistischen Ländern ist heute ebenso rar wie sie richtig ist.

Die gegenwärtige »unerträgliche Situation« bestehe darin, dass »ein Haufen machtgeiler, habgieriger Rüpel durch die in ihrem Privatbesitz befindlichen Medien diktieren, was die Öffentlichkeit zu glauben hat«. Und: »Wir werden wissen, daß der Sozialismus gesiegt hat, wenn uns in der Rückschau die Vorstellung unfaßbar erscheint, daß man einer Handvoll von Wirtschaftsgaunern freie Hand gelassen hat, die öffentliche Meinung mit politischen Steinzeitthesen zu vergiften, deren einziger Zweck darin bestand, ihre Bankkonten zu füllen.« Der in größeren historischen Zeitspannen denkende Autor vergaß hinzuzügen, dass »Wir« nicht die Zeitgenossen meint, sondern wohl eher deren Urenkel.Auf jeden Fall aber ein Buch, das man unbedingt lesen und dann weiterempfehlen sollte.

Terry Eagleton: Warum Marx recht hat. Ullstein, Berlin. 286 S., geb., 18 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 7. Juni 2012


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