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Klassenfragen ausgeblendet

Mit seinem Buch »Die Mehrheitsentscheidung« leistet der Althistoriker Egon Flaig demokratiegeschichtliche Pionierarbeit. Seine politischen Analysen dagegen sind reaktionär

Von Thomas Wagner *

Auf die Frage, welches Verfahren der Entscheidungsfindung demokratisch sei, lautet die übliche Antwort: jenes, in der das Votum der Mehrheit den Ausschlag gibt. Ob im Verein, einer politischen Partei oder im Bundestag, in den allermeisten Fällen gilt: Wenn abgestimmt wird, obsiegt jene Position, jene Partei oder jener Kandidat, der bzw. dem es gelingt, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen. Das Vorherrschen der uns heute so geläufigen Mehrheitsentscheidung auf vielen gesellschaftlichen Ebenen ist allerdings keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In historischer Perspektive konkurrieren die betreffenden Verfahren nämlich mit zwei grundsätzlich anderen Formen der kollektiven Entscheidungsfindung: der, in der eine Minderheit, im Extremfall eine Person, in letzter Instanz bestimmt, was zu tun ist, und derjenigen, in der nur das als beschlossen gilt, wozu jedes Mitglied einer Gruppe seine Zustimmung erklärt hat. Die letztgenannte Variante wird auch Entscheidung nach dem Konsensprinzip genannt. In der Gegenwart wird es unter anderem in anarchistischen Gruppen, universitären Gremien und in Foren internationaler Politik praktiziert. Bei allem, was die ethnologische Forschung heute weiß, muß davon ausgegangen werden, daß verschiedene Varianten solcher Konsensverfahren die längste Zeit in der menschlichen Gattungsgeschichte dominierend gewesen sind. Denn man findet sie typischerweise in jenen klassenlosen Gesellschaften vor, die in marxistischer Terminologie als urkommunistisch bezeichnet werden.

In den üblichen wissenschaftlichen Darstellungen zur Geschichte der Politik, der politischen Ideen oder der Demokratie wird auf dieses Wissen freilich nur selten und dann bestenfalls am Rande zurückgegriffen. Zu den Vorzügen der von dem in Rostock lehrenden Althistoriker Egon Flaig vorgelegten Studie »Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik« (Paderborn 2013) gehört daher, daß sie sich von gängigen Denk- und Interpretationsschablonen zu befreien vermag. Unter Hinzuziehung sozialwissenschaftlicher Methoden widmet sich Flaig darin sowohl den politischen Entscheidungsverfahren herrschaftsfreier Gesellschaften als auch der eigenständigen Entwicklung demokratischer Verfahren außerhalb Europas und der USA. Schon aufgrund dieser Erweiterung der historischen Perspektive handelt es sich um ein Standardwerk, an dem die künftige Forschung nicht vorbeikommen wird. Gerade darum aber ist es auch wichtig, die wegen ihrer Mate­rialfülle beeindruckende Untersuchung mit idelogiekritischem Blick zu begutachten. Dabei stellt sich heraus, daß das Buch eine Parteien- und Parlamentarismuskritik enthält, die sich in ihrer Haupttendenz gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung richtet und insofern eine deutlich reaktionäre Tendenz aufweist.

Koloniales Erbe

Die Frage, wann und wo die Mehrheitsentscheidung entstanden ist, wird von Historikern klassischerweise mit dem Hinweis auf das antike Griechenland beantwortet. Das bleibt jedoch in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend. Zum einen rührt die Betonung des exklusiven griechischen Ursprungs der uns heute selbstverständlichen Entscheidungsverfahren noch aus einer Zeit, als die Vorstellung einer europäischen Überlegenheit über alle anderen Kulturen im Zeichen der Kolonialherrschaft nur selten in Frage gestellt wurde. Zum anderen kommt hinzu, daß solche Urteile häufig gefällt wurden, ohne daß genügend empirisches Wissen vorhanden war, um überhaupt fruchtbare historische Vergleiche zwischen den Kulturen anstellen zu können. Zwar hatte der Revolutionär und spätere zweite US-Präsident John Adams bereits 1787 in seiner Schrift »Defence of the Constitutions of Government of the United States« (Verteidigung der Verfassungen für die Regierung der Vereinigten Staaten) gefordert, daß Daten über die Regierungsformen zeitgenössischer indigener Gesellschaften gesammelt werden müßten, um den Vergleich der politischen Systeme auf eine wissenschaftlich tragfähige Basis zu stellen. Doch sollte er damit ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben.

Die Ethnologie trug in den folgenden 200 Jahren immer mehr Material über Gemeinwesen zusammen, die es verstanden, den kollektiv erwirtschafteten Reichtum so zu verteilen, daß eine Spaltung in Klassen verhindert wurde, und die es zudem vermochten, politische Institutionen zu entwickeln, die eine Beteiligung jedes einzelnen an den Entscheidungen der jeweiligen Gemeinschaft erlaubten. Dennoch beharrt das Gros der Vertreter der Politischen Theorie – teils aus schlichter Unkenntnis, die nicht selten von einer ideologischen Befangenheit herrührt – bis heute darauf, daß es so etwas wie eine klassenlose Gesellschaft nie gegeben habe und auch in Zukunft unter gar keinen Umständen jemals geben könne.[1] Entsprechende Erkenntnisse über frühere herrschaftsfreie Gemeinwesen wurden von der bürgerlichen Forschung weitgehend ignoriert und auch von der marxistischen Wissenschaft stiefmütterlich behandelt. Und das, obwohl kein anderer als der Autor von »Das Kapital« nach gründlichem Studium der ihm damals zugänglichen ethnologischen Literatur ausdrücklich betont hatte, »daß die Lebensfähigkeit der Urgemeinschaften unvergleichlich größer war als die der semitischen, griechischen, römischen etc. Gesellschaften und a fortiori (weitaus stärker, d. Red.) als die der modernen kapitalistischen Gesellschaften« (MEW 19, S. 386). Die einschlägigen Arbeiten von klassischen sozialistischen Autoren – wie Friedrich Engels’ »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« oder Pjotr Kropotkins »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt« – wurden in der Folge aber kaum hinreichend ausgewertet, dem erheblichen Erkenntnisfortschritt der Fachwissenschaften nur ungenügend angepaßt und weiterentwickelt.[2]

Umso mehr ist es zu begrüßen, daß für den Historiker Egon Flaig nicht, wie sonst üblich in seiner Zunft, die sogenannten frühen Hochkulturen Ägyptens oder Mesopotamiens, also staatlich zentralisierte Klassengesellschaften, den Hintergrund bilden, vor dem er die kulturelle Dynamik der Mehrheitsentscheidung an Hand von Fallbeispielen historisch rekonstruiert. Er untersucht vielmehr jene egalitären Gemeinwesen vor allem Afrikas, Nord- und Südamerikas, von denen die ethnologische Forschung berichtet, daß in ihnen die kollektiven Entscheidungen einmütig getroffen wurden.[3] Annahmen, die diese Neigung zu Konsensverfahren auf den besonders stark ausgeprägten Konformismus scheinbar konfliktloser Gemeinschaften zurückführen, deren angeblich mangelnder Sinn für Individualismus ihre zivilisatorische Unterlegenheit zum Ausdruck bringe, weist Flaig entschieden zurück. Die Ethnologie habe zweifelsfrei den Nachweis erbracht, daß die vermeintlichen Naturmenschen Konflikte sehr wohl kannten und darüber hinaus teils hochkomplexe Systeme von politischen Rollen und Verfahren sowie hochgradig differenzierte symbolische Ordnungen herausgebildet haben.

Machtlose Häuptlinge

Die in ihnen realisierte politische und ökonomische Gleichheit rührt nicht von einer mentalen Unfähigkeit sogenannter Primitiver zur Hierarchiebildung her. Dieser Zustand ist das Ergebnis eines ausgeprägten Gleichheitsbewußtseins, das durch besondere Institutionen zugleich symbolisch verkörpert und materiell auf Dauer erhalten wurde. Eine solche herrschaftsfreie Institution ist der von dem französischen Ethnologen ­Pierre Clastres beschriebene machtlose Häuptling, der für viele indianische Gesellschaften typisch war. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Streit zu schlichten und die egalitären Normen der Gesellschaft hochzuhalten. Über die Gewaltmittel, den eigenen Willen gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen, verfügte er dagegen nicht. Der Häuptling brachte das politische Gleichheitsgebot eben dadurch zum Ausdruck, daß er nichts anzuordnen oder zu befehlen hatte und dem gesellschaftlich gebotenen Teilzwang in besonderem Maße nachzukommen verpflichtet war.

Der wichtigen, aber bis heute nur ungenügend erforschten Frage, wie aus egalitären Konsensgesellschaften, die es verstanden, die Entstehung von Privateigentum und ungleicher Macht zu verhindern, schließlich Klassenstaaten werden konnten, geht auch Flaig nicht nach. Trotz diverser Staatsentstehungstheorien, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurden, gilt in der Hauptsache nach wie vor Marx’ Postulat: »Die Geschichte des Verfalls der Urgemeinschaften (man würde einen Fehler begehen, wenn man sie alle über einen Leisten schlagen wollte; ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazu nur magere Skizzen geliefert« (MEW 19, S. 386). Für gesellschaftliche Widersprüche, Klassenkämpfe oder die Abfolge von Gesellschaftsformationen interessiert sich Flaig in seiner Studie aber ohnehin nicht.

Statt dessen untersucht er, welche Rolle die verschiedenen Entscheidungsverfahren für die Ingangsetzung bzw. Blockierung von kulturellen Dynamiken spielen. Konsensverfahren passen zu Gemeinschaften, die kollektives Handeln auf der Basis freiwilliger Zustimmung organisieren. Da es, wie das Beispiel vieler indianischer Gesellschaften belegt, sogar in Fragen von Krieg und Frieden nicht selten jedermann freistand, sich zu beteiligen oder nicht, wurde versucht, möglichst alle Einwände und Gesichtspunkte in den letztendlich verkündeten Konsens mit hineinzunehmen. Der jeweilige Beschluß mußte so formuliert werden, daß möglichst niemand ernsthaft gekränkt oder vor den Kopf gestoßen wurde. Deshalb ist die Rhetorik in den Diskussionen ausgefeilt und hinsichtlich des deeskalierenden Moments weit entwickelt. In der Regel wird streng vermieden, die Position des jeweiligen Gegenübers frontal anzugreifen. Tendenziell werden Gegensätze eher heruntergespielt als zugespitzt. Das Gemeinsame rückt in den Vordergrund und wird in den Zeremonien, die die Ratsversammlungen in vielen dieser Gesellschaften begleiten, immer wieder neu beschworen. Es gibt eine Tendenz, Formulierungen zu ersinnen, die relevante Unterschiede oder Gegensätze eher verschleiern als offenlegen.

Flaig kann zeigen, daß die Einführung der Mehrheitsentscheidung dagegen mit einem enormen Gewinn an Zeit und Kraft verbunden ist. Er entfaltet die These, daß sich wissenschaftliches Denken im heutigen Sinne nur in einer Gesellschaft entwickeln konnte, in der Mehrheitsverfahren eingeübt worden waren. Diese Ansicht hat einiges für sich, denn: »Das mehrheitliche Entscheiden fachte einerseits die Kontroverse an und verfeinerte deren Praktiken; und es drängte andererseits dazu, die Beschlüsse ›wasserdicht‹ zu machen, also sehr rigide Verfahrensregeln zu entwickeln« (S. 471). Diese ließen sich auf ganz verschiedene soziale Situationen übertragen und legten den Grundstein für jene Regelsysteme, die noch der heutigen wissenschaftlichen Betätigung zugrunde liegen.

Warnung vor einem Bürgerkrieg

Ein anderer Strang von Flaigs Argumentation kann hingegen nicht überzeugen. Er verwendet viel Mühe darauf zu begründen, weshalb die historisch lange Zeit vorherrschenden Konsensverfahren egalitärer Gesellschaften nicht als demokratisch bezeichnet werden sollten. Erst das Prinzip der gleichen Stimmabgabe, wie es im großen Maßstab zunächst für die griechische Polis dokumentiert wurde, biete dafür die Grundlage. An dieser Stelle zeigt sich, daß Flaig, anders als er selbst wohl meint, einem elitären Demokratieverständnis verhaftet bleibt, das den Bereich der gesellschaftlichen Produktion und der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums weitgehend ausklammert. Denn der von ihm in Anspruch genommene Republikanismus ist um die soziale Frage verkürzt und bleibt deshalb weit hinter jenem Demokratiebegriff zurück, den die Arbeiterbewegung auf die historische Agenda gesetzt hat. »Indem die Unterklassen um die Ausweitung von Mitbestimmungsmöglichkeiten, für den Abbau von politischen Diskriminierungen und sozialen Ungleichheitsverhältnissen oder für die Beseitigung der durch die kapitalistische Produktionsweise erzeugten Herrschaftsverhältnisse kämpfen – Veränderungen, die in ihrem eigenen Interesse liegen und dem Interesse exklusiver Eliten widersprechen –, kämpfen sie zugleich auch für die Durchsetzung des im Demokratiebegriff angelegten Gemeininteresses«, faßt der Politikwissenschaftler David Salomon dieses Demokratieverständnis zusammen.[4] Nimmt man es zum Maßstab, um den demokratischen Gehalt klassenloser Konsensgesellschaften zu messen, schneiden diese gegenüber dem nicht nur von Flaig verehrten klassischen Athen ausgesprochen gut ab. Denn Griechenland war eine Sklavenhaltergesellschaft, die Frauen und Unfreie und damit die Mehrheit der Bevölkerung von der politischen Gemeinschaft ausschloß. Insbesondere auch, was das Verhältnis der Geschlechter betrifft: In ihnen verfügten die zu Kollektiven organisierten Frauen nicht selten über ähnlich effektive Machtressourcen wie die Männer. Davon zeugt das Beispiel des heute gut erforschten Irokesenbundes.[5] Doch das Verhältnis von Frauen und Männern interessiert Flaig im Zusammenhang mit seinen demokratiegeschichtlichen Überlegungen nicht. »Für die Geschlechterfrage bleibt er gänzlich blind«, kritisierte auch Hedwig Richter in ihrer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Januar 2013.

Auch die Eigentumsverhältnisse und die Frage, wie die ökonomische Produktion gesellschaftlich organisiert wird, interessieren Flaig nicht. Allerdings weiß er: »Das ›Gesamtinteresse‹ ist desto schwerer zu bestimmen, je mehr die Gesellschaft in Klassen zerfällt« (S. 241). Deshalb spricht er sich auch für eine gewisse »Beruhigung von ökonomischen und sozialen Gegensätzen« (S. 254) aus. Mehr als die Ungleichheit selbst fürchtet er jedoch eine Entwicklung, die dazu führen könnte, daß sich die strukturell benachteiligten Klassen gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzen. Dann nämlich sieht er die Gefahr des Bürgerkrieges am Horizont heraufziehen. Wenn er schließlich nicht die Konzerne und Banken, sondern den politischen Pluralismus, die multikulturelle Gesellschaft und die Artikulation von Sonderinteressen durch »(…) Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Parteien, NGOs oder sonstige Bewegungen« (S. 500) als vermeintliche Bedrohung für die Demokratie denunziert, bewegt er sich ganz im Denken der heutigen radikalen Rechten.

Demokratie – bis in den Tod

Im Vorwort seines Buches erklärt Flaig, seinen Lesern historisches Material an die Hand geben zu wollen. Mit dessen Hilfe können sie sich bewußter entscheiden: für eine eurokratische »›Postdemokratie‹ ohne jede Legitimierung durch das Volk, oder den Weg der Konzertierung direktdemokratischer Eingriffe« (S. 20, dazu auch jW-Thema vom 19.4.2013). Er selbst jedoch bleibt einem Politikverständnis verhaftet, in dem die soziale Frage ein nachgeordnetes Thema ist, in dem der Kapitalismus als Herrschaftszusammenhang keine Rolle spielt und in dem die Beseitigung der bürgerlichen Klassenmacht tabuisiert wird. Darum entwickelt er Antworten, die in eine postdemokratische Richtung weisen und in hohem Maße den Scheinlösungen der heutigen radikalen Rechten gleichen. Flaigs berechtigte Kritik an einer Europäischen Union, die den Handlungsspielraum nationaler Parlamente mit Hilfe von demokratisch nicht oder nur schwach legitimierten Kommissionen und Institutionen immer weiter verengt, bleibt blind für die Rolle, die das deutsche Kapital und seine politischen Erfüllungsgehilfen in diesem Zusammenhang spielen. Seine Kritik am gegenwärtigen Parlamentarismus und am Parteienstaat entzündet sich nicht etwa daran, daß hier eine Minderheit von Berufspolitikern zugunsten von Kapitalinteressen auf dem Rücken der Mehrheit der Bevölkerung agiert. Es stört ihn vielmehr, daß in Parteien überhaupt Interessen formuliert werden, weil auf diese Weise eine freie Debatte zum Austrocknen verurteilt sei. »Beim Aushandeln reduziert sich Politik auf Geschäfte zwischen Parteien. Dagegen gelingt jegliches beratende Debattieren dann und nur dann, wenn die weit überwiegende Mehrheit der Entscheider letztlich ein ›Gemeinwohl‹ verfolgt, und wenn die anderen sich scheuen, sich den Appellen ans Gemeinwohl offen zu verschließen« (S. 268).

Wie vor ihm schon der reaktionäre Staatsrechtler Carl Schmitt entwirft er ein stark idealisiertes Bild vom Parlamentarismus, an das die profane Wirklichkeit des Interessenstreits niemals heranreichen kann. Den Gedanken, daß die große Mehrzahl der abhängig Beschäftigten und der sozial Benachteiligten ohne starke Organisationen und Parteien noch weniger Chancen hätte, ihre Ansprüche gegen die Kapitalinteressen durchzusetzen, findet man nicht in Flaigs Ausführungen. Statt dessen sucht er das Heil in der direkten Demokratie: »(…) denn sie ist die Demokratie schlechthin« (S. 491). Linken Intellektuellen und sozialen Bewegungen wirft er vor, die Geltung des Mehrheitsprinzips in Frage gestellt zu haben und die Demokratie immer wieder zugunsten einer »Maschinerie blinder Gerechtigkeit« (S. 497) aufs Spiel zu setzen. Die Aktivitäten der Antiatom-, Ökologie- und Friedensbewegung bewertet er als »tendenziell bürgerkriegsträchtig« (S. 487). Gewalt, tödliche Gewalt zumal, ist für ihn jedoch dann legitim, wenn sie der Staat seinen Bürgern als Opfer abverlangt, denn: »Eine Gemeinschaft, die das Leben nicht fordern dürfte, wäre kriegsunfähig und daher wehrlos« (S. 492).

Egon Flaig: Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik, Verlag Ferdinand Schöningh 2013, 628 Seiten, 58 Euro

Anmerkungen
  1. Vgl. Rüdiger Haude/ThomasWagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung, Baden-Baden 1999, S. 23–49
  2. Vgl. Rüdiger Haude/ThomasWagner: »Herrschaftsfreie Gesellschaft«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 6/I, Spalte 135–161
  3. Vgl. Thomas Wagner: »Konsens II«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 7/II, Spalte 1580–1589
  4. David Salomon: Demokratie, Köln 2012, S. 12
  5. Vgl. Thomas Wagner: Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation, Münster 2004
* Aus: junge Welt, Montag, 22. April 2013


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