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"Menschliche Sicherheit" - Entwicklungsgeschichte und politische Forderungen

Thesen zu einem umfassenden friedenspolitischen Konzept

Die Thesen, die wir im Folgenden dokumentieren, hat Elmar Altvater auf einer Fachtagung des Femninistischen Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema "Human Security = Women's Security?" im Oktober 2003 vorgetragen. Sie können auch von der Homepage der HBS abgerufen werden (www.glow-boell.de).


Von Elmar Altvater*

1. Menschliche Sicherheit bedeutet Freiheit von Furcht und Freiheit von Mangel ("freedom from fear" and "freedom from want"). "Wunschlos glücklich" zu sein, ist die Vorstellung, die das UNDP (UNDP 1994) entwickelt hat. Die alltäglichen Bedrohungen durch Krankheiten, Hunger, Arbeitslosigkeit, Verbrechen, soziale Konflikte, politische Repression und Umweltschäden sollen ein Ende haben (UNDP 1994: 22). Es ist auffällig, dass diese Bedrohungen (und noch einige andere mehr) auch von der "Commission on Global Governance" als Herausforderungen für die Notwendigkeit der Entwicklung einer neuen "Weltordnungspolitik" (Global Governance) identifiziert werden (Nachbarn in einer Welt 1995). Zweifelsohne hat das Ende der Blockkonfrontation dazu beigetragen, dass nun neue Dimensionen der Bedrohung von menschlicher Sicherheit verstärkt ins Blickfeld geraten.

Die Bereiche, in denen menschliche Sicherheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedroht ist, können unschwer identifiziert werden. Es sind die Umweltsicherheit im Sinne der Verfügbarkeit lebenswichtiger Ressourcen wie sauberer Luft, fruchtbarer Böden und sauberen Wassers. Damit ist eng die Ernährungssicherung verbunden, und zwar die Vermeidung des Hungers ("food security") ebenso wie die Vermeidung ernährungsbedingter Gesundheitsgefahren ("food safety"). In all ihren verschiedenen Facetten in Frage gestellt ist vielerorts auch die sozio-ökonomische Sicherheit; denn als Folge eines weltweiten Verdrängungswettbewerbs steigt die Arbeitslosigkeit und es wächst der Umfang prekärer Arbeit im Schattenreich der Informalität. Es lockert sich auch der für eine selbstverantwortliche Lebensführung so wichtige Zusammenhang von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit (vgl. Altvater & Mahnkopf 2002). Dies wiederum geht einher mit einer defizitären Absicherung von Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Alter und Erwerbslosigkeit und beim gesicherten Zugang zu Bildungsangeboten. Dafür gibt es viele Ursachen, doch von großem Gewicht sind in den Ländern des Südens und Osten die stabilitätsorientierten Strukturanpassungsmaßnahmen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank und im Norden und Westen der ruinöse globale Steuerwettbewerb (und die in seiner Folge unvermeidliche Fiskalkrise der Staaten, der Kommunen ebenso wie der Nationalstaaten). Beides lässt die öffentliche Armut ansteigen und befördert die Tendenz zur Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge. Schließlich hat in vielen Ländern auch die politische Unsicherheit deutlich zugenommen, durch bewaffnete Konflikte, in die transnational operierende Akteure verwickelt sind und durch finanzielle Instabilitäten, die durch Währungsspekulation, Kapitalflucht, legale und illegale Steuerhinterziehung und durch die weit verbreitete kleine und große Korruption ausgelöst oder von ihnen begleitet werden. In der einen oder anderen Kombination sorgen diese Unsicherheiten dafür, dass Menschen vielerorts nach alternativen Zugängen zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen suchen müssen. Bei dieser Suche geraten sie leicht in das Schattenreich informeller Aktivitäten oder in die Illegalität und Kriminalität oder sie verlassen ihre Heimat und schlagen sich als Flüchtlinge und Migranten durchs Leben.

2. Eher orientiert an den Bedürfnissen der Menschen als an der Sicherheit von Nationalstaaten und ihrer Eliten hat der Sicherheitsbegriff des UNDP einen universellen Anspruch. Zwar bleibt der Staat der entscheidende Garant von Sicherheit. Doch, so heißt es im Bericht der "Commission on Human Security" der UNO, "(the state) often fails to fulfill its security obligations - and at times has even become a source of threat to its own people. That is why attention must now shift from the security of the state to the security of the people - to human security" (Commission on Human Security 2003: 2). UNDP deutet die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs als Schritt hin zu mehr Frieden und mehr Wohlstand und stellt das Konzept der menschlichen Sicherheit explizit in den Kontext von menschlicher Entwicklung und Menschenrechten. Das Dreieck von human development - human security - human rights ist das Feld, auf dem Globalisierung gestaltet werden kann, und zwar durch die Bereitstellung von öffentlichen Gütern.

3. Dieses Dreieck ist nicht eindimensional, es durchschneidet verschiedene Bedeutungsebenen. Die Menschenrechte sind universal und weder revozierbar noch relativierbar. Menschliche Sicherheit dagegen kann unter verschiedenen historischen und kulturellen, ökonomischen Bedingungen auf verschiedene Weise hergestellt werden. Auch wenn die Menschenrechte soziale Rechte umschließen, erfassen sie nicht alle Dimensionen von menschlicher Sicherheit, die durch Unsicherheiten im Zuge globaler Transformationen gefährdet sind: soziale Sicherheit, Umweltsicherheit, Gesundheitssicherheit etc. Das Konzept der menschlichen Sicherheit ist also dem Konzept von Menschenrechten gewissermaßen "vorgelagert"; der Verlust menschlicher Sicherheit nämlich kann zur Verletzung von Menschenrechten führen.

4. Menschliche Sicherheit entsteht auf verschiedene Weise, (1) durch verlässliche Regeln in einem Gemeinwesen, (2) durch Vermeidung von Instabilitäten und die Wiederherstellung stabiler Verhältnisse, wenn sie denn - wie in finanziellen Krisen - destabilisiert worden sind, (3) durch "Daseinsvorsorge" in jenen Passagen des menschlichen Lebens, in denen Individuen oder Familien nicht in der Lage sind, aus eigenen Ressourcen für Bildung und Ausbildung, für Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, für die Alterssicherung oder auch für Nahrung und Unterkunft, für Wasserangebot und Abwasserbeseitigung Sorge zu tragen, (4) durch Zugang zu allen jenen Gütern, die für die menschliche Existenz wesentlich sind. Kurz: Menschliche Sicherheit wird durch die Bereitstellung öffentlicher Güter gewährleistet. Daher lässt sich der Diskurs über menschliche Sicherheit von demjenigen über öffentliche Güter nicht sinnvoll trennen.

5. "Menschliche Sicherheit" in einer durch soziale Gegensätze strukturierten Gesellschaft bedeutet keineswegs für alle Menschen dasselbe. In der gegenwärtigen Sicherheitsdebatte kann man folglich mehrere Diskussionsstränge oder Konzepte unterscheiden. Dabei handelt es sich um: (1) die politikwissenschaftliche Debatte um den klassischen Sicherheitsbegriff in den internationalen Beziehungen, (2) den erweiterten Sicherheitsbegriff von militärischen Organisationen (beispielsweise der deutschen Bundeswehr oder der NATO), (3) die traditionelle Sichtweise auf "corporate" oder "coomercial" security, (4) den hochgradig normativen Begriff der "human security", wie er im Anschluss an die Darlegungen von UNDP diskutiert worden ist einschließlich der entwicklungspolitischen Debatte über die Beziehungen zwischen "Menschenrechten", "menschlicher Entwicklung" und "menschlicher Sicherheit", sowie (5) die innerhalb der ILO geführte Debatte um sozioökonomische Sicherheit in der Arbeitswelt.

6.1 Im klassischen, (neo)realistischen Verständnis der Internationalen Beziehungen bedeutete Sicherheit die Abwesendheit von innerer und vor allem äußerer Bedrohung territorialer Gebilde (Nationalstaaten) in einer anarchischen Staatenwelt. Hinter der realen oder konstruierten Gefahr für den Staat verschmolzen die Mitglieder einer Gesellschaft gleichsam zu einer Einheit des "nationalen Interesses". Dabei lag der Fokus nahezu ausschließlich auf dem Staat als Akteur und auf der Balance konkurrierender Mächte in einer (bis vor kurzem) bipolaren Welt. Auch wenn die (neo)realistische Konzeption von Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges stark modifiziert wurde - nicht zuletzt auch aufgrund kritischer Ansätze des Neo-Gramscianismus, des Feminismus und Konstruktivismus - bleiben der Nationalstaat und das "Pluriversum" der Nationalstaaten getreu dem "methodologischen Nationalismus" (Smith 1979) wichtigste Referenz. Dieser (neo)realistische Sicherheitsbegriff impliziert vor allem auch Sicherheit der Rahmenbedingungen für Kapitalanlagen von global operierenden ökonomischen Akteuren, verfolgt also das Ziel der kommerziellen Sicherheit)

Ad 2: Mit der Beendigung der Blockkonfrontation Ende der 1980er Jahre verband sich die Hoffnung, dass auf nicht-militärische Probleme künftig friedensstiftende Antworten gefunden würden Das Gegenteil ist Wirklichkeit geworden: In der letzten Dekade hat die Zahl der bewaffneten Konflikte eher zugenommen. Auch die 1989 erwartete Friedendividende, mit der in der Welt der soziale Ausgleich verbessert werden sollte, kam nicht zu Stande. Vielmehr reinterpretiert der im April 1999 formell beschlossene erweiterte Sicherheitsbegriff der NATO den Nord-Süd-Konflikt als ein "globales Sicherheitsproblem"; er ist auf vielfältige Gefährdungspotentiale nicht-militärischer Art bezogen, auf Umweltkatastrophen, organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Terrorismus, illegale Zugriffe auf das Internet, armutsbedingte Mangelerscheinungen etc. Diese werden als Bedrohung von Sicherheit und Stabilität der westlichen Staatenwelt identifiziert und sollen nun "auf Distanz" gehalten werden. Dazu bieten sich finanzielle, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Maßnahmen an, doch auch militärische Mittel, soweit diese den "eigenen Interessen" dienlich sind (vgl. Frank 2001, S. 28 und andere Beiträge in Bundesakademie für Sicherheitspolitik 2001). Dieses Konzept umfasst auch "Versorgungsinteressen", die der Sicherung des Wohlstandes in den Industrieländern dienen; also werden Rohstoffe wie Öl, Gas, Diamanten (und andere sogenannte "strategische Rohstoffe"), Lebensstoffe wie Wasser und die Sicherung der Seewege zu sicherheitspolitisch bedeutsamen Gütern.

Aus der Sicht des politisch-militärischen Sicherheitsdiskurses bedeutet die Schwächung von Nationalstaaten, dass erstens Kriege entstaatlicht werden und eine Verwischung der Unterschiede zwischen Völkern, Armeen und Staaten stattfindet; zweitens wird es schwieriger, stabile Bündnisse einzugehen und drittens erweist sich der Einsatz von militärischer Macht in vielen Fällen als wenig effektiv. Daher kommt es zur Ausbildung eines neuen "Entwicklung-Sicherheits-Komplexes", in dem "governance-networks" von nicht-staatlichen Akteuren Aufgaben der Konfliktlösung übernehmen (Duffield 2001).

Gewalt ist heute in einem wachsenden Umfang privatisierte Gewalt, die von nicht-staatlichen Akteuren ausgeübt wird, die mit herkömmlichen Mitteln der "Abschreckung" nicht zu beeindrucken sind. Auf dieses als neuartig wahrgenommene Phänomen des nicht-staatlichen Terrors reagieren die staatlichen Akteure jedoch überaus konventionell. Denn zum einen setzen sie auf militärische Antworten gegenüber anderen Staaten, letztlich aber - wie in jedem der von Mary Kaldor (1999) so bezeichneten "neuen Kriege" - gegenüber der Bevölkerung von Ländern, die im Verdacht stehen, diesen privaten Akteuren Unterschlupf zu gewähren. Zum anderen werden in den kriegführenden Ländern demokratische Freiheitsrechte der Menschen beschnitten, und es wird suggeriert, durch eine Verschärfung von Kontrolle, Überwachung und Strafen ließe sich die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Zum Schutz der eigenen Bevölkerung sollen potentielle Bedrohungen ("emerging threats") durch "militärische Prävention" und "defensive Intervention" abgewehrt werden.

Ad 3: Im neoliberalen Verständnis soll "Ordnung" Sicherheit und Verlässlichkeit für Unternehmens- und Konsumentenentscheidungen bieten. Ob aber die "corporate security" immer mit "human security" kongruent ist, darf in Frage gestellt werden. Adam Smith sieht den Sinn von "public works and public institutions" (Smith 1776/ 1976: 244-282) darin, dass sie dazu dienen, den "Handel und Wandel der Gesellschaft zu erleichtern" (ebd.: 245). Botschaften im Ausland sind zur Förderung des britischen Außenhandels oder für die Unterstützung von britischen Handelskompanien notwendig. Dies gilt allerdings im wesentlichen für die "zivilisierte Welt"; für "barbarische" Nationen ist auch die Errichtung von militärischen "Forts" ins Auge zu fassen, um den britischen "commerce" zu unterstützen (ebd.: 254f).

Ad 4: Das Konzept von menschlicher Sicherheit ist mit seinen normativen Setzungen eindeutiger Gegenbegriff zu den bisher genannten Konzepten. Der Begriff focussiert (1) auf die alltägliche Unsicherheit der Menschen, die Resultat des Zusammenwirkens unterschiedlicher Dimensionen von Unsicherheit ist, sich beispielsweise aus kumulativen Defiziten bei der Umwelt- und der Ernährungssicherheit ergibt. Dabei ist davon auszugehen, dass Maßnahmen zur Herstellung militärischer Sicherheit in der Tendenz alle anderen Grundlagen menschlicher Sicherheit unterminieren: "The fundamental problems of security are in the insecurity experienced by individual persons, their search for more secure life situations, their personal initiatives, their right to expect States and other public institutions to care for their "quotidian" security needs to become an integral part of the definition of human security. Otherwise, the judgment on what constitutes human security could become monopolized by external decision-makers, who often lack gender sensitivity and concern about groups of people in situations of extreme insecurity".

Obgleich menschliche Sicherheit (2) für alle Menschen und Gemeinschaften gewährleistet werden muss, sind besondere Anstrengungen darauf zu konzentrieren, Ursachen der Unsicherheit für die "most vulnerable people" zu beseitigen: "It may be recognized that the justness of a society is measured by how it cares for the vulnerable, but it is not noted that the security of the society is also dependent in the long run on making security possible for the vulnerable". Dies darf nicht als eine paternalistische Veranstaltung verstanden werden, sondern als ein selbstbewusster Akt der Selbstbefähigung ("empowerment") in sozialen Auseinandersetzungen. Die Identifizierung von Konstellationen menschlicher Unsicherheit und Anstrengungen, die auf eine Beseitigung derselben gerichtet sind, müssen (3) dem Prinzip des Pluralismus verpflichtet sein. Maßnahmen zur Herstellung menschlicher Sicherheit können folglich nicht über unilateralen "humanitären" Druck und mit Methoden des "top-down" erzwungen werden, sondern verlangen (4) nach multilateralen Anstrengungen der Individuen, Gruppen und Völker einerseits, und der Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Kräfte auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene andererseits, "in full cooperation with the UN, which should be strengthened to serve as the institution which represents multilateralism par excellence".

Im Gegensatz zum staatszentrierten Konzept der nationalen Sicherheit, das Männlichkeit und die Rolle des Beschützers von Gemeinwesen, Frau und Familie aneinander koppelt, bietet das Konzept der menschlichen Sicherheit einen Rahmen, um die alltäglichen Sicherheitsinteressen und -bedürfnisse von Frauen zu thematisieren und deren empowerment voran zu treiben: die Sicherheit vor körperlichen und sexuellen Übergriffen, die soziale Sicherheit oder die Sicherheit vor Menschenrechtsverletzungen: "One missing element, however, in human security discussions has been an understanding of the fundamental differences and inequalities between women's and men's security. In order to address gender equality goals and objectives efficiently there are five inter-related issues that need to be incorporated into the discussion of human security: Violence against women and girls, Gender inequalities in control over resources, Gender inequalities in power and decision-making, Women's human rights, Women (and men) as actors, not victims" (xxx).

Werden Fragen der menschlichen Sicherheit aus einer Geschlechterperspektive thematisiert, treten Frauen als wichtige Akteurinnen bei der Herstellung menschlicher Sicherheit in Erscheinung: In Konfliktregionen sind sie oft die einzigen Menschen, die nicht in bewaffneten Konflikten zwischen den Fronten zerrieben und, anders selbst als viele Kinder, nicht zwangsrekrutiert und durch das Kriegsgeschehen brutalisiert werden. Frauen sind auch deutlich seltener als Männer in die aktive oder passive Korruption verwickelt und lassen sich ungleich schwerer von extremistischen Kräften instrumentalisieren. In ökonomischen Krisensituationen, unter den Bedingungen transnationaler Migration und dort wo (wie in den Ländern des südlichen Afrika, die unter der AIDS-Epedemie leiden) die Pflege todkranker Menschen aus dem öffentlichen Gesundheitssystem in die Familien verlagert wird, hängt die Reproduktion der Gesellschaft als ganzer zu großen Teilen davon ab, dass Frauen durch bezahlte und unbezahlte Arbeit das eigene Überleben und das der von ihnen abhängigen Menschen (Kindern, Kranken, Alten) sichern.

Gegen das vom UNDP popularisierte Konzept der menschlichen Sicherheit sind eine Reihe von Einwänden erhoben worden; so geben Kritiker zu bedenken, das UNPD
  • spiele klassische Sicherheitsrisiken wie Krieg und die wichtige Rolle der Nationalstaaten in ihrer Bedeutung herunter;
  • verwische die Grenze zwischen menschlicher Sicherheit und menschlicher Entwicklung; Klarheit könne nur durch eine Beschränkung des Sicherheitsbegriffs auf "Freiheit von physischer, direkter Gewalt" gewonnen werden;
  • gerate in die Gefahr, dass durch die Erweiterung und Pluralisierung des Sicherheitsverständnisses neue Legitimationsquellen für militärische Interventionen zum Schutz der Sicherheit (vor Umweltrisiken, AIDS, Migration etc.) instrumentalisiert werden;
  • würde das Risiko eingehen, mit seinem Sicherheitsbegriff die Logik militärischen Denkens auf nicht militärische Bereiche zu übertragen und durch den Sicherheitsdiskurs eine antagonistische Weltsicht zu befördern, in der andere vor allem als potentielle Bedrohung wahrgenommen werden und in der eine Atmosphäre der Solidarität und friedlichen Koexistenz untergraben werde;
  • würde das Konzept der Sicherheit künstlich aufblähen, so dass es an analytischer Bedeutung verliere. Die starke normative Prägung des UNDP-Begriffes sei zum Verständnis von neuen/alten Risiken und zur Durchsetzung von Schutzansprüchen wenig geeignet. Wenn das Ziel der Human Development Reports des UNDP empowerment und soziale Gerechtigkeit sein sollte, dann sei es besser, diese Ansprüche an konkrete Rechte zu binden. Dafür gäbe es bereits die als universell und unteilbar geltenden Menschenrechte.
Ist der Sicherheitsbegriff daher insgesamt problematisch, wie Claudia von Braunmühl (2002) zu begründen versucht, weil er Schutz gegen andere oder vor Anderen impliziert? Dieses Argument bezieht seine Plausibilität vor allem aus der neuen Rolle, die der Entwicklungszusammenarbeit als Instrument der Konfliktprävention und des Konfliktmanagements zugewiesen wird. Der Rekurs auf ein erweitertes Sicherheitsverständnis lässt sich dazu instrumentalisieren, Abwehrmaßnahmen gegen unerwünschte Migranten zu legitimieren. Claudia von Braunmühls bezweifelt die Tragfähigkeit des human security-Konzepts. Fragen der globalen Solidarität und Gerechtigkeit sind ihrer Meinung nach innerhalb des Menschenrechtsdiskurses sehr viel besser aufgehoben als innerhalb eines wie auch immer motivierten Sicherheitsdiskurses.

Die Konfusion von Sicherheit und Schutz hat ihre Wurzeln in der Mehrdeutigkeit, den der Begriff der Sicherheit resp. der Unsicherheit in der deutschen Sprache hat: Er bezeichnet sowohl das Gefühl der Ungewissheit (im Englischen: uncertainty), als auch das der Unsicherheit (unsecurity) und das Gefühl der Schutzlosigkeit (unsafety) (vgl. Baumann 1999). In der Debatte über die Ambivalenzen eines erweiterten Sicherheitsbegriffs verschwinden diese Unterschiede; doch für die analytische Brauchbarkeit des Konzeptes der menschlichen Sicherheit sind sie von zentraler Bedeutung: Wenn die Betonung auf Ungewissheiten liegt, ist vor allem die psycho-soziale Dimension von Unsicherheitserfahrungen angesprochen; diese richten sich auf unbekannte Entwicklungen in der Zukunft, die mit Risiken vielfältiger Art verbunden sind. Derartige Erfahrungen müssen nicht unbedingt mit Verlusten sozio-ökonomischer Sicherheit einher gehen, meist sind sie jedoch mit einem diffusen, oft auch ängstigenden und blockierenden Gefühl der Schutzlosigkeit verwoben. Dabei spielen kulturelle Orientierungs- und Handlungsmuster, die unter dem Druck der globalisierten Moderne an Bedeutung verlieren, eine große Rolle; Ungewissheitserfahrungen sind außerdem ausgesprochen stark durch die Geschlechtszugehörigkeit und das Alter bestimmt. Verschiebt sich die Betonung auf Unsicherheit im Sinne von Schutzlosigkeit, kann Sicherheit leicht von Mauern, Gittern und Toren oder von Wachpersonal, Kontrolleuren, Polizisten oder anderen bewaffneten Ordnungskräften erwartet werden. Sicherheit wäre in der inkludierten "gated community" zu haben, gegen die Exkludierten.

Ad 5: Die meisten Dimensionen der menschlichen Sicherheit beziehen sich jedoch eher auf die dritte Bedeutung des Sicherheitsbegriffs: auf soziale und ökonomische Sicherheit. Deren Eigenart besteht darin, dass sie erstens nur über Institutionen hergestellt werden kann, deren Ordnungs- und Sicherheitsfunktion von allen davon Betroffenen akzeptiert wird, und dass es sich dabei zweitens um Institutionen handelt, die sich immer wieder neu demokratisch legitimieren müssen. Soziale und ökonomische Sicherheit im weitesten Sinne ist also nur durch die stete Rückkopplung der sie garantierenden Institutionen an die Bedürfnisse und Interessen der betroffenen Menschen möglich.

Auch dort, wo Leben, Gesundheit und Eigentum nicht (oder noch nicht) durch den Einsatz von physischem Zwang und militärischer Gewalt gefährdet und durch den Mangel an öffentlichen Gütern untergraben werden - vor allem in den heute reichen westlichen Industrieländern - ist eine wachsende Zahl von Menschen mit größer werdenden Defiziten an sozio-ökonomischer Unsicherheit (ILO 2000; 2001) konfrontiert - auch in Deutschland, wenn Hartzgesetze, Agenda 2010 etc. umgesetzt werden. Daher ist es notwendig, menschliche Sicherheit nicht allein daran festzumachen, ob und in welchem Umfang die Unversehrtheit von Leib und Leben gewährleistet ist. Auch die Zusammenhänge von Arbeit, Erwerbseinkommen und Sicherheit sind von zentraler Bedeutung. Diese sind charakterisiert durch 1. die Arbeitsmarktsicherheit - also ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem formellen Arbeitsmarkt; 2. die Beschäftigungssicherheit - durch den Kündigungsschutz; 3. die Qualifikationssicherheit - durch ein Bildungs- und Ausbildungssystem, das den Erwerb und den Erhalt von transferierbaren Fähigkeiten und Kenntnissen erlaubte; 4. die Arbeitsplatzsicherheit - in der konkreten Tätigkeit, die durch die Berufsförmigkeit der Arbeit gewährleistet wurde; 5. die Sicherheit in der Arbeit - durch einen ausgebauten Arbeits- und Unfallschutz; 6. die Einkommenssicherheit - durch Mindestlohnregelungen, Lohnindexierung, ein umfassendes System sozialer Sicherung im Falle von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität und die progressive Besteuerung der Einkommen; und schließlich 7. die Vertretungssicherheit - also die Gewährleistung kollektiver Interessenvertretung am Arbeitsmarkt durch unabhängige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Tarifautonomie, Streikrechte etc.

7. Es wird notwendig sein, die Diskurse von menschlicher Sicherheit (sozusagen die "Nachfrageseite") mit den Diskursen über öffentliche Güter (sozusagen die "Angebotsseite") zu verbinden und auf diese Weise nicht nur verschiedene "epistemic communities" zusammen zu bringen, sondern auch Ansatzpunkte zu finden, wie den Normen der menschlichen Sicherheit in der praktischen Politik bei der Versorgung der Menschen mit öffentlichen Gütern Rechnung getragen werden kann.

* Vortrag auf der Fachtagung "Human Security = Women’s Security ? Keine nachhaltige Sicherheit ohne Geschlechterperspektive", veranstaltet vom Feministischen Institut der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Frauensicherheitsrat am 24./ 25. Oktober 2003 in Berlin.
Dr. Elmar Altvater ist Professor für Politische Ökonomie an der Freien Universität in Berlin



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