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Transformation - Demokratisch zum Sozialismus

Zwei Beiträge zu Wolfgang Abendroths 25. Todestag


Transformation

Von Georg Fülberth *

Am 15. September 1985 starb in Frankfurt/Main Wolfgang Abendroth. 1906 geboren, war er schon 1920 zur kommunistischen Arbeiterbewegung gestoßen. 1928 wurde er aus der KPD ausgeschlossen, trat ihr aber 1932 wieder bei. Vier Jahre, von 1937 bis 1941, verbrachte der antifaschistische Widerstandskämpfer im Zuchthaus. Er kam ins Strafbataillon 999, schloß sich in Griechenland den Partisanen an und kam aus britischer Kriegsgefangenschaft 1946 – dort war er, vom Stalinismus erschüttert, in die SPD eingetreten – nach Deutschland zurück. In den Westzonen konnte er seine 1933 unterbrochene juristische Ausbildung nicht abschließen. Deshalb ging er in die SBZ und wurde dort Professor für Öffentliches Recht. 1948 folgte er dem Ruf der Wirtschaftshochschule Wilhelmshaven. Sein so ohnehin geplanter Wechsel in den Westen wurde zur Flucht, als ein Kurier des Ostbüros der SPD, der ihn besucht hatte, gefaßt wurde und nun auch ihm Gefahr drohte.

Von 1951 bis 1972 war Abendroth Professor für Politikwissenschaft in Marburg. Er wurde Begründer einer Minderheits-Interpretation des Grundgesetzes, die dieses auch für sozialistische Transformation offenhalten sollte. In Forschung und Lehre wirkte er als ein Pionier auf dem Gebiet der Geschichte der Arbeiterbewegung. 1961 setzte er in Marburg die Habilitation von Jürgen Habermas, der in Frankfurt Schwierigkeiten mit Max Horkheimer hatte, durch. Weil er den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gegen den Rechtskurs der SPD unterstützte, wurde er 1961/62 aus dieser Partei ausgeschlossen. In den folgenden Jahrzehnten – vor 1968 und weit darüber hinaus – war er einer der führenden Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition, u.a. gegen die Notstandsverfassung und die Berufsverbote. Trotz seines Parteiausschlusses – und wahrscheinlich gerade deshalb – war sein Ansehen an der sozialdemokratischen Basis sowie in den Gewerkschaften ungebrochen und nahm in seinen letzten Lebensjahren noch zu.

Das war es, was man über Wolfgang Abendroth wußte, als er 1985 starb.

Es gibt Leute, von denen bleibt nichts übrig, wenn man den Lack abkratzt. Bei Wolfgang Abendroth ist es gerade umgekehrt, zumal es da niemals einen Lack gab, der den Menschen verdeckt hätte.

In den Jahrzehnten seit seinem Tod, insbesondere nach der Öffnung der DDR-Archive, ist viel über ihn recherchiert worden, und zwar zunächst von Leuten, die ihn diskreditieren wollten.

1998 fand Wolfgang Kraushaar heraus, daß Wolfgang Abendroth, als er 1967 eine neue sozialistische Partei gründen wollte, im Gespräch mit dem verdienstvollen Widerstandsforscher Karl Heinz Jahnke (Greifswald) der SED zu signalisieren versuchte, sie solle die KPD, deren Leitung damals in der DDR im Exil war, an Querschüssen hindern.

Eine Privatdozentin in Gießen gab bekannt, daß er 1973 ein Kondolenzschreiben anläßlich des Todes von Walter Ulbricht an Albert Norden vom Politbüro der SED sandte. Auch habe er, als er sich für Rudolf Bahro einsetzte, die DDR-Führung nicht vor den Kopf gestoßen, sondern tatsächlich durch immanente Argumentation etwas für diesen zu erreichen versucht.

Diese zeitgeschichtlichen Forschungen sind höchst erfreulich. Sie zeigen, daß Wolfgang Abendroth kein Antikommunist war, daß er immer im Rahmen der gesamten Arbeiterbewegung – einschließlich der KPD und der DKP – dachte und handelte. Seit einigen Jahren erscheint eine Werkausgabe. Es gibt inzwischen zwei Biografien. Die eine, von Andreas Diers, behandelt die Zeit bis 1948, die andere, von Richard Heigl, geht bis 1968. Die Jahre bis 1985 müssen noch bearbeitet werden. Eine Broschüre »Die DDR und Wolfgang Abendroth – Wolfgang Abendroth und die DDR« von Uli Schöler (2008) ist eine faire Würdigung aus sozialdemokratischer Sicht.

Es ist also glücklicherweise in den vergangenen 25 Jahren nicht still geworden um diesen Mann. Je mehr geforscht wird, desto mehr pures Gold kommt zutage.

* Aus: junge Welt, 15. September 2010


Demokratisch zum Sozialismus

Vor 25 Jahren starb der Rechts- und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Wie aktuell ist sein Denken heute?

Von Andreas Diers **


Am 15. September jährt sich zum 25. Mal der Todestag des sozialistischen Juristen und Politikwissenschaftlers Wolfgang Abendroth. Sich heute wieder verstärkt mit seinem Leben und Werk zu befassen, empfiehlt sich für die Linke sowohl als gesellschaftliche Bewegung wie als Partei. Abendroths Charakterisierung des Sozialismus als Demokratie auf allen Ebenen der Gesellschaft ist auch heute noch aktuell. Welche Lehren daraus für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen hinsichtlich der Perspektive des Demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland gezogen werden können, wäre zu hinterfragen.

Wolfgang Abendroth, der sich u.a. gegen die Wiederbewaffnung, gegen das KPD-Verbot, gegen den Abtreibungsparagraphen, gegen den Vietnam-Krieg und gegen den faschistischen Putsch in Chile positioniert hatte, war in der Bundesrepublik immer umstritten. Der von ihm vertretene Marxismus galt in den Jahren des Kalten Krieges als unvereinbar mit dem Grundgesetz und der parlamentarischen Demokratie. Abendroth seinerseits erkannte im Grundgesetz eine zum Sozialismus hin offene Verfassung. Er wandte sich gegen konservative und reaktionäre politische und juristische Interpretationen des Grundgesetzes, die diese Möglichkeit generell verneinen.

Abendroth hatte sich 1920 durch seinen Eintritt in die Freie Sozialistische Jugend der weltweiten kommunistischen Bewegung angeschlossen, um aktiv gegen die restaurativen, antidemokratischen politischen Entwicklungen in Deutschland arbeiten zu können. Bei der Entwicklung seiner eigenen politischen Anschauungen wurde er – neben den Werken von Marx und Engels – wesentlich durch die historischen Schriften Franz Mehrings über die Geschichte der Arbeiterbewegung und durch die auf die Einheit der Arbeiterbewegung orientierten politischen Konzepte von August Thalheimer und Heinrich Brandler geprägt. Als diese 1924 durch die Linksentwicklung der KPD aus der Führung der Partei gedrängt wurden, geriet auch Abendroth in eine Situation, die ihm für eine längere Zeit die organisatorische Mitarbeit in der KPD unmöglich machte.

In der Organisation der Freien Sozialistischen Jugend und ihrer gleichnamigen Zeitschrift fand er die Möglichkeit, seine politischen Ansichten vertreten zu können. Seine Artikel aus dieser Zeit zeigen, dass die Politik der KPdSU für Abendroth schon seit Mitte der 1920er Jahre kein Modell mehr darstellte, das kritiklos auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland übertragen werden könne. Damit unterschied er sich in seiner Beurteilung der UdSSR und der KPdSU sehr deutlich von der Auffassung der Mehrheitsfraktion der KPD.

Dennoch hielt Abendroth sehr lange am Konzept der Diktatur des Proletariats in Form eines Rätestaates fest. Bis zur Entwicklung des Konzepts der Volksfront durch Kommunistische Parteien ab Mitte der 1930er Jahre hielt er es nicht für möglich, dass die Arbeiterklasse ihre politische Herrschaft und Hegemonie unter den Voraussetzungen einer parlamentarisch-demokratischen Republik errichten könne. In seinen Vorstellungen von einer Diktatur des Proletariats in Form einer Räterepublik ging Abendroth konform mit dem Spartakusbund, der KPO und der KPD. Alle seine politischen und bündnispolitischen Konzeptionen und Tätigkeiten in dieser Zeit zielten darauf ab, die Verfassung der Weimarer Republik durch eine Räteverfassung, den Staatsapparat durch einen Rätestaat zu ersetzen.

Wolfgang Abendroth setzte sich bereits in den Jahren der Weimarer Republik für eine auf der Methode von Marx und Engels beruhende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ein. Für ihn stellten Marx' Thesen über die Natur des bürgerlichen Rechts und Staates und seine Umgestaltung dabei aber kein unveränderliches Lehrgebäude dar. Die Staatslehre des Sozialismus war ihm kein Dogma, das unabhängig von den Veränderungen der historischen Bedingungen gültig wäre. Für Abendroth diente die materialistische Methode bei der Untersuchung des Staates als Instrument der Analyse des Realen. Er achtete bei dieser Analyse sehr genau darauf, die Realität nicht in ein abstraktes Schema zu pressen. Vielmehr zeigte er, dass sich die Problematik des Verhältnisses der Arbeiterbewegung zum bürgerlichen Staat in der Geschichte der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Klassen und in spezifischen Situationen abspielt – unter den Bedingungen veränderlicher historischen Praxis. Diese Praxis liefert die Kriterien für die Gültigkeit der Theorie.

Infolge seiner Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland trat Abendroth dafür ein, möglichst breite politische Bündnisse zu schaffen, um aktuelle politische Ziele durchsetzen zu können. Grundlage dieser Bündnisse könne nur die Einheit der Arbeiterbewegung, insbesondere die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten sein.

Seit Mitte der 1920er Jahre hatte Abendroth die von ihm vertretene Bündnispolitik auch auf Kooperationsangebote an Gruppierungen außerhalb der Arbeiterbewegung ausgedehnt, etwa an Teile der Bündischen Jugend, junge Nationalisten und religiöse Sozialisten. Zumindest in Ansätzen verfolgte er damit schon sehr viel früher als die KPD und andere kommunistische Parteien die Konzeption der Volksfrontpolitik. Insbesondere in Auseinandersetzung mit den erstarkenden rechtsextremen Kräften machte Abendroth die Erfahrung, dass demokratische Rechte sowohl im Kampf für den Sozialismus als auch innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft zentral sind. Sein Versuch, in Frankfurt am Main während des »Preußenschlages« im Juli 1932 ein Bündnis zur Verteidigung der Preußischen Regierung herzustellen, macht deutlich, dass er es zu dieser Zeit für politisch notwendig hielt, Verfassung und Staatsorgane der parlamentarischen Republik gegen reaktionäre Angriffe zu verteidigen.

Ab Anfang der 1930er Jahre näherte sich Abendroth der staatsrechtlichen Konzeption einer Sozialen Demokratie für die Arbeiterbewegung an, die vor allem von Hermann Heller und Max Adler ausgearbeitet worden war. Im Laufe der Jahre 1934/35 bis 1945 ließ er die Konzeption der Diktatur des Proletariats in Gestalt eines Rätestaates in Deutschland fallen. Spätestens ab 1945 stellte die parlamentarisch-demokratische Republik in Abendroths Augen die geeignete Form dar, innerhalb derer die Arbeiterklasse in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern eine hegemoniale Position erlangen und – unter der Bedingung der dauerhaften Herrschaft der Arbeiterklasse – den Sozialismus aufbauen könne. Dabei war die Methode der materialistischen Analyse der Gesellschaft Grundlage seiner Demokratietheorie. Abendroth hielt weiterhin daran fest, dass sich die Klassengegensätze durch eine antagonistische Widersprüchlichkeit auszeichnen und dass daraus in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft entsprechende Konsequenzen resultieren, etwa die Entfremdung und Verdinglichung sozialer und institutioneller Beziehungen.

Abendroth zufolge ist die Verfassungsordnung der BRD wegen der antagonistischen Gesellschaftsstruktur, auf der sie basiert, durch einen fundamentalen Widerspruch geprägt: Einerseits ist sie eines der wichtigsten Mittel zur Stabilisierung der Machtverhältnisse, andererseits jedoch auch ein Instrument zu deren Transformation. Abendroth verteidigte die rechtsstaatlich verfasste politische Demokratie in der BRD nach 1949 als eine Herrschaftsform, die das Transformationsfeld hin zum demokratischen Sozialismus offenhält. Seine Auffassung beruhte ganz wesentlich auf der Einschätzung, dass durch den Aufstieg der UdSSR zur Weltmacht nach dem Zweiten Weltkrieg eine völlig neuartige Situation innerhalb des Systems der internationalen Beziehungen entstanden sei.

Durch die internationalen historischen Entwicklungen und die damit zusammenhängenden gravierenden Veränderungen der nationalen und globalen Gleichgewichte der Klassen war für Abendroth nach 1945 wegen der damit verbundenen potenziell transformierenden Funktion des Rechtssystems und der Rechtswissenschaften in Deutschland die hegemoniale Herrschaft der Arbeiterklasse in Form eines Rätestaates obsolet geworden. Eine durch Hegemonie geprägte Herrschaft der Arbeiterklasse war seiner Auffassung nach jetzt durch eine soziale Demokratie auch innerhalb traditioneller republikanischer und demokratischen Strukturen möglich. Damit entwickelte Abendroth jenes neue materialistische Denken über den Staat weiter, dessen Anfänge er seinerseits dem linken Austromarxisten Max Adler zugeschrieben hatte. Bei aller Betonung der Notwendigkeit von demokratischen und Freiheitsrechten wandte sich Wolfgang Abendroth aber dagegen, den Sozialismus zu vergessen.

Wie Friedrich Engels sah Abendroth die Verfassung als die politische Form eines Resultats von Klassenkämpfen, als Ausdruck von Kräfteverhältnissen und als Ergebnis aufeinander einwirkender Interessen an, also als einen Ausdruck von Klassenkompromissen. Dieser neue Blick auf das Problem des Staates und dessen Bedeutung für die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung – der eigentlich eine durch die nach dem Abklingen des internationalen Revolutionszyklus der Jahre 1917 bis 1919 bedingte Rückkehr zu der Verfassungstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels ist – ermöglichte es Abendroth, nach dem Zweiten Weltkrieg für einen demokratischen Übergang zum Sozialismus in Deutschland zu arbeiten.

Zudem schuf er sich die Möglichkeit, auf theoretischem Terrain selbst eigenständige und sehr originelle Beiträge zur Staatstheorie auszuarbeiten, die im Kontext der Überlegungen von Antonio Gramsci und anderen westeuropäischen marxistischen Intellektuellen innerhalb der Arbeiterbewegung zu verorten sind. Dieses neue Denken über den Staat bei Abendroth schafft die Grundlage für drei wesentliche Elemente seiner Verfassungs- und Rechtstheorie: 1.) das Paradigma des potenziell gesellschaftstransformatorischen Charakters der Rechtswissenschaft und des Rechtssystems in der grundlegend neuen globalen Gleichgewichtslage nach 1945; 2.) die Unterscheidung zwischen dem Staatsapparat und der demokratischen verfassungsmäßigen Ordnung; 3.) die Begründung demokratischer und sozialer Teilhaberechte.

Mit seinen Überlegungen zur Rechts-, Staats- und Verfassungsproblematik formulierte Wolfgang Abendroth nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Theorie des bürgerlichen demokratischen Rechtsstaates und dessen Bedeutung für die sozialistische Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Er konnte seine neue Konzeption der potenziell transformatorischen Funktion der Rechtswissenschaft und des Rechtssystems entwickeln, weil durch die Veränderungen des globalen Gleichgewichts im Kräfteverhältnis zwischen bürgerlichdemokratischen und sozialistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg die politischen Voraussetzungen dazu vorhanden waren. Zum anderen konnte Abendroth individuell als politischer Verfassungs- und Völkerrechtswissenschaftler mit seiner materialistischen wissenschaftlichen Methodik diese Veränderungen in den Kräfteverhältnissen innerhalb des Systems der internationalen Beziehungen analysieren und deren Bedeutung für das Rechtssystem der BRD erkennen.

** Andreas Diers ist promovierter Jurist, Politologe und Ökonom. 2006 erschien sein Buch »Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth – Leben und Werk 1906–1948« (VSA-Verlag Hamburg, 632 S., geb., 39,80).

Aus: Neues Deutschland, 11. September 2010



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