Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Washington, New York - und die Gewerkschaften

Solidarität, Gerechtigkeit, kein Krieg! Ein Diskussionspapier von ver.di Baden Württemberg

Am 19. September 2001 legte die Bezirksleitung Baden Württemberg der Gewerkschaft ver.di ein umfangreiches Diskussionspapier zu den Terroranschlägen von New York und Washington vor. Wir dokumentieren es im Folgenden mit dem Begleitschreiben der Landesbezirksvorsitzenden und hoffen auch in den Reihen der Friedensbewegung auf eine breite Resonanz. Das Papier hat es verdient.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

Die Attentate in New York und Washington haben uns alle entsetzt, sie haben bei vielen KollegInnen ein fast vergessenes Gefühl der Angst vor einem neuen Krieg ausgelöst und sie haben uns vielfach sprachlos gemacht.
Langsam beginnt in den Betrieben, Verwaltungen und in den gewerkschaftlichen Gremien die Diskussion. Die Bedrohung durch eine neue Form des Terrors, aber auch durch eine neue Kriegsgefahr, muss uns als Gewerkschaften, die wir unsere Lektion aus der Geschichte gelernt haben, auf den Plan rufen.
Zur Unterstützung eurer Diskussion legen wir euch ein Thesenpapier der Landesbezirksleitung bei. Eine "Beschlussvorlage" ist es nicht und soll es auch nicht werden. Dazu wird es noch vieler Argumente und Diskussionen bedürfen.
Wir möchten euch bitten, diese Debatte aufzunehmen und örtliche Veranstaltungen im Sinne unserer friedenspolitischen Grundanliegen zu initiieren oder zu unterstützen.
Ich selbst werde auf einer Kundgebung des Friedensnetzes Baden-Württemberg, dem als Mitglied auch der DGB angehört, am Donnerstag, den 20. September um 18.00 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz sprechen.
Mit freundlichen Grüssen
Sybille Stamm
Landesbezirksleiterin


ver.di-Landesbezirksleitung Baden-Württemberg
Diskussionspapier,19.9.01

Washington, New York - und die Gewerkschaften

Solidarität, Gerechtigkeit, kein Krieg!

Herausforderung

Für die Gewerkschaften gibt es viele Gründe sich an vorderster Stelle mit den neuen Formen des Terrorismus und seinen Folgen auseinander zu setzen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden und in die Entwicklungen einzugreifen. Wie in New York und Washington, wo es KollegInnen der Fluggesellschaften, der Banken, Versicherungen, JournalistInnen und Kulturschaffende, Putzfrauen, Boten, Feuerwehrleute und Polizisten traf, werden ArbeitnehmerInnen immer zu den ersten Opfern dieser neuen Form von Terrorismus zählen, die anonym agiert, tausendfachen Tod in Kauf nimmt und möglicherweise auf noch weitere Massenvernichtungsstrategien zurückgreifen wird.

Viele der von den TäterInnen beabsichtigten Folgen werden eintreten. Die globale Ökonomie wird nicht in die Knie gehen, aber sie wird in vielen Bereichen ins Stottern geraten, sektorale Verwerfungen und Umstrukturierungen werden die Folge sein, die immer weitreichende Konsequenzen für ArbeitnehmerInnen haben werden. In vielen konfliktnahen Branchen, wie Luftfahrt und Tourismus, sind langfristige Strukturkrisen mit Firmenschließungen, "Marktbereinigungen" und Arbeitsplatzverluste zu befürchten. Natürlich wird es auch Branchen geben, die ungewollt von den Anschlägen profitieren, wie Schifffahrt, Rüstungsindustrie oder Sicherheitsdienstleistungen geben.

Die Konjunkturentwicklung wird durch Nachfragezurückhaltung und steigende Energiepreise weiter belastet, die in Aussicht stehende Erholung rückt in weite Ferne - mit negativen Folgen für die Arbeitsmärkte.

Die öffentlichen Haushalte haben deshalb mit zusätzlichen Einnahmeausfällen zu rechnen und werden auf der Ausgabenseite vor allem mit zusätzlichem Aufwand im Sicherheits- und Militärbereich belastet. Da weder Steuererhöhungen noch eine zusätzliche Kreditaufnahme von der Bundesregierung zu erwarten sind, wird sich der Druck in allen sozialstaatlichen Aufgabenfeldern erhöhen. In allen Verteilungskonflikten, vor allem im Öffentlichen Dienst (Zusatzversorgung Herbst 01 und Lohnrunde 10/02) wird die Arbeitgeberposition unter Berufung auf die neue Lage noch restriktiver sein.

Verarbeitung

Die erste Reaktion auf den Schrecken war gesellschaftliche Trauer: Schweigeminuten, Blumen, Kerzen, Trauergottesdienste. Es war gut, dass die Gewerkschaften dies in den Betrieben oftmals initiiert und in anderen Bereichen mitgetragen haben. Es ist auch eine zivilisatorische Errungenschaft, dass es eine klassenübergreifende Betroffenheit angesichts solcher Ereignisse gibt, die ein stückweit gemeinsam verarbeitet wird. Die Ausdrucksformen, mit denen die Gesellschaft Trauer verarbeitet, dürfen nicht ungeduldig als unpolitisch abgewertet werden. Sie helfen auch Angst zu bewältigen. Revanchedenken und blinde Aggression sind oft die Kehrseite unbewältigter Angst.

Option Rache

Auf der Handlungsebene sind zwei gegensätzliche Reaktionsmuster in der öffentlichen Diskussion: die Option einer rechtsstaatlichen Bewältigung unter völlig neuen Bedingungen und die Option Vergeltung, die derzeit noch Politik und öffentliche Meinungsbildung dominiert. Ihr hat sich die Bundesregierung durch den Nato-Beistandsbeschluss angeschlossen. Auch die Kriegsrhetorik, Bugwelle kriegerische Auseinandersetzungen, hat sich der deutschen Politik bemächtigt.

Die Einstufung der Terrorakte als Krieg gegen einen Nato-Staat legitimiert Krieg gegen andere Staaten als Antwort und verpflichtet alle Nato-Staaten zur Unterstützung eines solchen Kriegs. In einem realen Sinne sind solche Formen des Terrorismus Krieg. Sie sind von den Tätern so gemeint und benannt und ihre Dimensionen, Erscheinungsformen und Bilder sind tatsächlich die eines Krieges. In einem völkerrechtlichen Sinne aber, der nach Nato-Statut erst Krieg als Reaktion erlauben würde, ist dies kein Krieg, weil er nicht von einem Staat oder einer Bürgerkriegspartei geführt wird und bisher auch kein Staat der unmittelbaren Unterstützung überführt ist, die einen kriegerischen Gegenangriff rechtfertigen würde.

Die Terroranschlägen nicht als Krieg zu definieren, bedeutet nicht, sie in ihren Auswirkungen "herunterzustufen" unterhalb der Ebene eines Krieges. Es bedeutet, sie als andere Form des Massenmordes zu definieren, die aber Krieg als Antwort nicht rechtfertigt und vor allem als sinnlos und gefährlich erkennbar werden lassen soll.

Das Szenario Vergeltung durch Krieg kann sein erklärtes Ziel schon rein militärisch nicht erreichen, weil die hochgerüsteten Militärapparate nicht die verborgene internationale Infrastruktur und Logistik des modernen Terrors treffen werden. Mit Sicherheit werden sie aber die Bevölkerungen der angegriffenen Länder treffen und viele Opfer bei Soldaten und Zivilbevölkerung mit sich bringen. Schon die Ankündigung von Kriegsschlägen hat zu größeren Fluchtbewegungen in dem ohnehin völlig verarmten Afghanistan geführt. Die Grenzen zu Pakistans und Iran sind geschlossen, die Hilfsorganisationen, die bisher großteils die Versorgung der Bevölkerung sichergestellt haben, sind abgezogen. Humanitäre Katastrophen sind die zwangsläufige Folge.

Militärische Gegenschläge besiegen den Terrorismus nicht, sondern stärken ihn. Das zeigt das Beispiel Israel. Likud und Scharon haben die Wahlen in Israel mit dem Argument Frieden durch Härte und militärische Stärke gewonnen. Das glatte Gegenteil ist eingetreten: getroffen wurde die ohnehin unterentwickelte staatliche Infrastruktur in den autonomen Gebieten, der Terrorismus aber hat stark zugenommen, er erreicht immer häufiger Israel selbst. Das Scheitern des Friedensprozesses in Nahost dürfte ein entscheidender Auslöser der Attentate von Washington und New York gewesen sein.

Das gescheiterte Reaktionsmuster von Scharon zum Vorbild der weltweiten Bekämpfung des Terrorismus zu machen, wird zu einer Globalisierung des Terrorismus führen und den von den Fundamentalisten beider Seiten proklamierten "Kampf der Kulturen" (der abendländischen gegen die islamische oder der "zivilisierten" gegen die "unzivilisierte" Welt zur Folge haben. Einen Krieg vorzubereiten, der nur willkürlich sein kann und Unschuldige zu opfern macht, wird die globale Polarisierung religiöser oder ethnischer Trennlinien entlang zur zwangsläufigen Folge haben. Appelle, es dazu nicht kommen zu lassen, sind hilflos und unglaubwürdig.

Option Rechtsstaatlichkeit

Unmittelbare Gerechtigkeit besteht in der Befriedigung des Anspruchs, der TäterInnen und MitttäterInnen habhaft zu werden und sie zu bestrafen. Verzicht auf willkürliche Kriegsmaßnahmen bedeutet nicht Verzicht auf Strafverfolgung und Gerechtigkeit. Die Gewerkschaften sollten daher eine rechtsstaatlich ausgerichtete, aber konsequente Nutzung aller Mittel der Strafverfolgung, insbesondere der internationalen polizeilichen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung fordern und unterstützen. Die Entwicklung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit als Teil eines globalen Gewaltmonopols im Rahmen der UNO ist erforderlich. Die Durchsetzung eines rechtsstaatlichen Strafverfolgungsanspruchs, notfalls auch mit polizeilichen oder militärischen Mitteln kann dabei eine unvermeidliche Konsequenz sein, sie ist aber etwas anderes als willkürliche militärische Vergeltungsmaßnahmen gegen mutmaßliche TäterInnen oder UnterstützerInnen.

Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit bei der Verfolgung von Terrorismus ist selbst eine grundlegende Voraussetzung erfolgreicher Terrorismusbekämpfung. Willkürliche, völkerrechtlich nicht legitimierte Militäroperationen wirtschaftlich und militärisch überlegener Staaten sind staatliche Selbstjustiz und lösen in den betroffenen Gesellschaften ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit aus und demütigen sie. Als Folge nimmt die Bereitschaft Terror als Kampfstrategie der Schwachen zu rechtfertigen und seine "Erfolge" zu feiern, zu. Extrem Gedemütigte können den Einsturz des WTC als Genugtuung empfinden. Ein rechtstaatliches Vorgehen dagegen wäre ein Beitrag zur Delegitimierung des Terrors und würde in islamisch geprägten Ländern die Kooperation bei der Verfolgung des Terrorismus erleichtern.

Ursachen

Langfristig und grundsätzlich wird sich Terrorismus nur eindämmen lassen, wenn seine Ursachen bekämpft werden. Religiöser Fanatismus, Hass, Geringschätzung des eigenen und des Lebens anderer, Furchtlosigkeit vor dem Tod sind die Konsequenzen von Ausweglosigkeit, des Verlusts jeder Perspektive eines menschwürdigen (Über)lebens in immer mehr Ländern. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt letztlich in einer Zuspitzung der globalen Verteilungsungerechtigkeiten. Die Spanne zwischen armen und reichen Ländern hat sich seit 1960 weit mehr als verdoppelt. Ähnlich hat sich das Einkommensgefälle innerhalb der Volkswirtschaften entwickelt. Dies ist Folge einer über Weltbank und IWF vermittelten Deregulierung, die die Sozialstaatsausgaben auch der ärmsten Länder (vor allem in den Bereichen Gesundheit und Bildung) herunterdrückte und zu einem entsprechenden Zuwachs von Arbeitslosigkeit und Armut führte. Hunger, regionale Konflikte mit großen Flüchtlingsbewegungen sind oft die Folge tiefer Eingriffe in die natürlichen Lebensgrundlagen vieler unterentwickelter Länder - Ergebnis der hauptsächlich von den Industrienationen produzierten Klimabelastungen.

Nachdem bei all diesen Entwicklungen die USA eine Schlüsselfunktion innehaben, setzt sich eine Diskussion über die Ursachen des Terrorismus vor dem Hintergrund der Attentate in den USA leicht dem Verdacht aus, den Opfern eine Mitschuld an ihrem Schicksal zu geben oder dem Terrorismus auf einem Umweg Verständnis entgegenzubringen - und wird daher vielfach gemieden. Es geht indes nicht um Verständnis im Sinne von Einverständnis, sondern um Verstehen, also um die Suche nach Erklärungen, um der Spirale des Terrors zu entkommen.

Eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, die das Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich zwischen den und innerhalb der Volkswirtschaften verringert, die Schluss macht damit, dass der Wohlstand der einen (Länder und Klasse) auf Kosten der anderen geht, ist am ehesten in der Lage, langfristig den Terrorismus einzudämmen. Stichworte hierzu sind:
  • die Demokratisierung von IWF und Weltbank
  • Maßnahmen zur Stabilisierung der Wechselkurse und Finanzmärkte
  • Einführung einer Steuer auf spekulative Finanztransfers (Tobin-tax)
  • Schuldenerlass und verbesserte Marktzugänge für Entwicklungsländer
  • Wirksame Maßnahmen des Klimaschutzes, insbesondere zur Senkung des Energieverbrauchs, v.a. der Industrieländern.
Konsequenzen

Angesichts dieses Szenarios müssen sich die Gewerkschaften ihrer historischen Erfahrungen besinnen und zur Friedensbewegung werden.

Wenn es dabei bleibt, dass die Parlamentsparteien, von CSU bis zu den Grünen, nur noch darin unterscheiden, ob sie das Szenario der Vergeltung aktiv unterstützen oder es mit Fatalismus geschehen lassen wollen, wird den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle in der außerparlamentarischen Opposition gegen eine militärische Eskalation zufallen.

Unsere Anteilnahme am Tod so vieler US-AmerikanerInnen, verpflichtet uns nicht zur blinden Gefolgschaft einer Politik der Vergeltung, die den Frieden weltweit aufs Spiel setzt und weiteres sinnloses Sterben zur Folge haben wird. Sie verpflichtet uns zum Gegenteil: zu einem Kampf für Gerechtigkeit.

ArbeitnehmerInnen in Deutschland sind nicht nur Betroffene von Deregulierung und Sozialabbau, sie ziehen auch als Teil der reichen Industrieländer indirekte Vorteile aus dem Gefälle zwischen reichen und armen Ländern. Den Gewerkschaften dieser Länder stellt sich, auch als Folge der Anschläge in Washington und New York, die Frage, ob sie bereit und in der Lage sind, eine Umorientierung (nicht Absenkung) der westlichen Wohlstands- und Konsumkultur, die weit in ArbeitnehmerInnenmilieus hineinreicht, im Sinne einer globalen Sozial- und Umweltverträglichkeit mitzutragen, ob sie zum Beispiel bereit sind die Agrarwende (Reduzierung Fleischkonsum, Verteuerungen), eine Umorientierung in der Verkehrspolitik (Stichwort IAA/Autokultur/Massentourismus) zu unterstützen.

Auch bei den Fragen der quantitativen Einkommensverteilungen zwischen erster und dritter Welt sind die Gewerkschaften involviert. Wenn sie frei in ihren tarifpolitischen Entscheidungen und nicht selbst oft genug die Getriebenen der Globalisierung wären, müsste man den Gewerkschaften eine Mitverantwortung für das zunehmende globale Einkommensgefälle geben. Denn durch ihre korporatistische Einbindung in eine nationale Standortpolitik haben die meisten Gewerkschaften der westlichen Welt nolens volens teil gehabt an dem Runterkonkurrieren der Sozial- und Einkommensbedingungen im globalen Wettbewerb, bei dem die ArbeitnehmerInnen in allen Ländern verloren haben, am schmerzhaftesten aber die in den Drittweltländer.

Die tarifpolitische Konsequenz wäre das Umdrehen des Spießes: eine offensive Lohn- und Verteilungspolitik, die global abgestimmt sein müsste, könnte die sowohl innerhalb wie zwischen den Volkswirtschaften weit gespreizte Einkommensschere wieder ein Stück schließen. Dies müsste der spezifische Beitrag der Gewerkschaften zu mehr globaler Gerechtigkeit, weniger Verwerfungen und weniger Terrorismus sein. Allerdings setzt dies voraus, dass die Gewerkschaften sich aus ihren nationalen Handlungsbegrenzungen lösen, sich mental, organisations- und tarifpolitisch dem Thema Globalisierung öffnen und selbst zu Global Playern werden.

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