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Body Count - Opferzahlen nach 10 Jahren Krieg gegen den Terror

IPPNW gibt realitätsnahe Schätzung der Opfer asymmetrischer Kriege heraus / Lühr Henken: 163.500 Tote allein in Afghanistan und Pakistan

Pressemitteilung der IPPNW, 18. Mai 2012

Der "Krieg gegen den Terror" hat allein im Irak, Afghanistan und Pakistan zu 1,7 Millionen Todes-Opfern geführt. Das ist das Ergebnis des IPPNW-Reports "Body Count - Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror". "Präzisionswaffen ändern nichts am hohen Prozentsatz getöteter Zivilisten in asymmetrischen Kriegen", erklärt IPPNW-Vorstandsmitglied Dr. Jens Wagner. Der Einsatz von Phosphorbomben, Streumunition, DIME- und Uranmunition sowie das brutale Vorgehen der Besatzungstruppen zum Beispiel in Fallujah und Basrah zeigten das unmenschliche Gesicht des Krieges.

Die Autoren Joachim Guilliard, Lühr Henken und Knut Mellenthin haben für den Report systematisch wissenschaftliche Studien über die Toten auf beiden Seiten der Kriege im Irak, Afghanistan und Pakistan zusammengestellt und aktualisiert. Für diese Länder ziehen sie eine Bilanz über den humanitären Preis des Krieges.

So hat der Irak von der Invasion im Jahr 2003 bis heute 1,5 Millionen Todesopfer durch direkte Gewalteinwirkung zu verzeichnen. Spätestens seit der medizinisch-epidemiologischen Studie in der Zeitschrift Lancet über die Mortalität im Irak von 2006, dürfte das wahre Ausmaß der Zerstörung durch das überlegene US-Waffenarsenal und das entstandene Chaos durch die Besatzungstruppen deutlich geworden sein. Trotzdem beziehen sich fast alle Medien bezüglich der Opferzahlen im Irak bis heute auf den Irak Body Count, ein Projekt das weniger als 10% der Kriegsopfer registriert.

Was die Opferzahlen in Afghanistan betrifft, ist die Datenlage schlechter als im Irak. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Kriegsopfer inklusive Mitarbeitern von Nicht-Regierungsorganisationen, afghanischen Sicherheitskräften, ISAF und OEF Soldaten keinesfalls unter 70.604 liegt. Wahrscheinlich ist die Anzahl getöteter Zivilisten höher als 43.000. Die Anzahl der durch den Krieg indirekt, also durch Flucht, Hunger und medizinische Mangelversorgung zu Tode gekommenen Afghanen wird nach den Bombenangriffen 2001 bis zum Mai 2002 auf 20.000-49.600 geschätzt.

In Pakistan fielen bisher 2.300 bis 3.000 Menschen US-Drohnenangriffen zum Opfer, davon ca. 80% Zivilisten. Die weitaus größte Anzahl von Kriegsopfern (40.000-60.000) entsteht allerdings durch Kämpfe der von der US-Regierung unterstützten pakistanischen Armee mit unterschiedlichen Widerstandsgruppen.

Der IPPNW-Report schlussfolgert: Von einer objektiven und kontinuierlichen Berichterstattung über Kriege kann keine Rede sein. Während Kriege mit sehr hohen Opferzahlen, wie zum Beispiel der seit Jahren andauernde Krieg im Kongo, kaum Beachtung findet, wird über Menschenrechtsverletzungen in Syrien laufend berichtet. In Libyen endete die Berichterstattung praktisch mit der Ermordung Gaddafis, in Bahrein verschwanden Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Tötungen von Demonstranten von der Tagesordnung.

Hintergrundinformationen, historische, geographische, gesellschaftliche und kulturelle Tatsachen werden insbesondere dann nicht zur Verfügung gestellt oder verfälscht, wenn aktuelle politische Ziele dem entgegenstehen.

Sie finden den Report "Body Count - Opferzahlen nach 10 Jahren Krieg gegen den Terror" unter http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Body_Count_Opferzahlen2012.pdf


100.000 Tote in Afghanistan - 63.500 Tote in Pakistan

Von Lühr Henken *

Meine Untersuchungen über die Zahl der im Krieg Getöteten in Afghanistan und in Pakistan fußen im Wesentlichen auf den Recherchen der US-amerikanischen Professorin Neta C. Crawford von der Universität Boston. Sie legt die bisher einzige Zusammenfassung verfügbarer Einzelstudien bis August 2011 vor.

Zu beiden Ländern gibt es keine Schätzungen, die auf Umfragen vor Ort beruhen, sondern lediglich Schätzungen, die auf Grundlage von Meldungen in Medien oder Krankenhausveröffentlichungen basieren. Erfahrungsgemäß erfasst diese passive Methode allerdings nur einen Teil der Getöteten. Beginnen wir in Afghanistan.

Relativ leicht zu ermitteln sind die Zahlen Getöteter von ISAF- und OEF-Soldaten. Darüber führt die Internet-Site „Icasualties“ kontinuierlich Buch. Bis Ende 2011 waren es 2.842. (Zurzeit sind es 3.005) Auch die Zahl der getöteten NGO-Mitarbeiter ist sehr gut dokumentiert: 213. Ebenso, die Zahl der getöteten Mitarbeiter privater US-amerikanischer Sicherheitskräfte: 981.

Relativ gut lassen sich auch die Zahlen für die getöteten afghanischen Sicherheitskräfte ermitteln. Ihre Summe liegt zwischen 7.200 und 8.000. Interessant daran ist, dass die Zahl der getöteten Polizisten etwa viermal so hoch ist wie die der getöteten afghanischen Soldaten. Die Ermittlung der Zahl der getöteten „Taliban“ dagegen ist etwas komplizierter. Unter dem vereinfachenden Begriff „Taliban“ sind die Kämpfer des militärischen Widerstands zu verstehen, der sich im Wesentlichen aus den Gruppen Haqqani-Netzwerk, Hekmatyar und Taliban zusammensetzt.

Für die ersten Monate des Krieges habe ich im Fischer-Weltalmanach (Ausgabe 2003), die Zahl 10.000 gefunden. Berücksichtigt habe ich zudem die Zahl von 3.000 Verschwundenen im November 2001, deren Verbleib nach einer Gefangennahme in Masar e-Sharif bis heute unaufgeklärt ist. Um die Zahl der getöteten „Taliban“ danach einigermaßen ermitteln zu können, gibt es zwei Eckpfeiler. Für das Jahr 2007 lassen sich ca. 4.700 und für das Jahr 2010 etwa 5.200 getötete „Taliban“ abschätzen. Um die Zahlen davor, dazwischen und danach abschätzen zu können, lassen sich aus Indikatoren für die Intensität von Kämpfen Rückschlüsse ziehen. Das ist zum einen der „Close-Air-Support“ durch NATO-Kampfflugzeuge und zum anderen sind es Zahlen aus dem Pentagon über die Intensität von nächtlichen Razzien mit Angaben über Getötete. Als Summe für getötete Aufständische von 2002 bis 2011 ergibt sich 32.000.

Somit addiert sich die Zahl der getöteten „Taliban“ aus all diesen Schätzungen auf etwa 45.000 bis Ende letzten Jahres.

Bedeutend komplizierter noch ist es, einen plausiblen Näherungswert für die getöteten Zivilpersonen zu ermitteln, wobei dabei unberücksichtigt ist, ob die Täter „Taliban“ oder ISAF-Truppen waren.

Crawford hat dazu insgesamt 14 Einzelstudien, die Schätzungen über unterschiedliche Zeiträume abgeben, zusammengefasst, und sich für den Zeitraum bis Juni 2011 auf einen Rahmen von 12.700 bis 14.500 festgelegt. Diese Zahlen bezeichnet Crawford selbst als konservativ. Sie erscheinen in der Tat als relativ niedrig, bedeutet die höhere der beiden Zahlen doch lediglich eine Todesrate von 5,2 Getöteter auf 100.000 Einwohner. Damit läge diese Tötungsrate noch unter der durchschnittlichen weltweiten Rate für Individualmorde von 7,25 pro 100.000 Einwohner im Jahr. Und die Zahl 5,2 läge noch weit unter den Mordraten von Baltimore (43) und Detroit (48). Man wird ja wohl kaum davon ausgehen können, dass das Leben in Afghanistan so viel sicherer ist als das in diesen US-Großstädten, zumal in Afghanistan im Durchschnitt in jeder Nacht durchschnittlich ein Dutzend Razzien durchgeführt werden und täglich durchschnittlich 15 Luftschläge erfolgen. Zudem verüben die „Taliban“ täglich fast 80 Anschläge, wovon knapp ein Viertel Sprengfallen sind. Eine solche Gewalt ist in US-Großstädten nicht anzutreffen.

Das führte zu Überlegungen, ob es eine Relation zwischen den beiden Ermittlungsmethoden gibt, also zwischen Schätzungen, die auf Umfragen beruhen und der passiven Methode. Und da gibt es in der Tat zwei Untersuchungen, aus denen sich gewisse Rückschlüsse ziehen lassen. Die umfangreichste ist die im „British Medical Journal“ 2008 veröffentlichte Arbeit US-amerikanischer Wissenschaftler von der Universität Seattle und von Harvard, die die Zahlen der zivilen Kriegstoten in 13 Kriegen zwischen 1955 und 2002 untersuchten und die Ergebnisse beider Untersuchungsmethoden gegenüberstellen. Sie stellen fest, dass sich nur durchschnittlich etwa ein Drittel der Getöteten in den Medien wiederfinden, also die tatsächliche Zahl getöteter Zivilpersonen im Durchschnitt um den Faktor drei höher liegt als veröffentlichte Zahlen suggerieren. Die Schwankungsbreite reicht allerdings vom 0,7-fachen bis zum 4,6-fachen.

Die zweite Untersuchung ist die 2006 in der renommierten britischen medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ Veröffentlichte. Die Autoren kommen zu der Feststellung, dass sie durch die passive Methode, abgesehen von Bosnien, nie „mehr als 20 Prozent der Toten“ erfassen konnten. Sie hatten allerdings nur die Konflikte um das Kosovo 1999, Mozambik und Kongo-Brazzaville untersucht, so dass mir der Faktor fünf doch auf einer zu geringen Zahlenbasis ermittelt scheint. Mir erscheint der Faktor drei für Afghanistan plausibel, so dass wir die konservative Zahl getöteter Zivilpersonen von 14.500 mit drei multiplizieren. So kommen wir auf 43.500 getötete Zivilpersonen bis Ende 2011.

Addieren wir sämtliche Kategorien von Kriegstoten, so schätzen wir ihre Zahl für Afghanistan auf 100.000.

Zu Pakistan.

Afghanistans Nachbar Pakistan ist ebenfalls im Krieg und das hat im Wesentlichen vier Ursachen. Erstens, die Vertreibung der Al Kaida-Führung sowie Tausender „Taliban“-Kämpfer aus Afghanistan nach Pakistan 2001; zweitens, das historische Siedlungsgebiet der Paschtunen diesseits und jenseits der afghanisch-pakistanischen Grenze; drittens, die Funktion Pakistans als Träger der bedeutendsten Nachschubrouten für USA und ISAF nach Afghanistan und viertens, dass Pakistan und Indien Afghanistan als Hinterland zur Austragung ihres Dauerkonflikts betrachten. Der letzte Grund ist ursächlich für die pakistanische Unterstützung der „Taliban“, denn Pakistan wünscht sich eine „Taliban“-Regierung in Kabul. Diese würde Islamabad ein strategisch sicheres Hinterland gegenüber dem Erzfeind Indien gewährleisten. In jedem Fall ist der Krieg in Pakistan Folge des US-/NATO-Krieges in Afghanistan, der 2005 mit dem massiven Vorgehen des pakistanischen Militärs gegen Al Kaida-Verstecke und „Taliban“ begann. Nicht gegen afghanische „Taliban“, sondern gegen sich inzwischen herausgebildete pakistanische „Taliban“, die vor allem militanten Widerstand gegen den pakistanischen Staat leisten. Der Staat setzt dabei auch schwere Waffen ein.

Crawford beruft sich in ihren Untersuchungen auf zwei unabhängige Quellen: Das „Pak Institute for Peace Studies“, kurz PIPS, in Islamabad und das „South Asia Terrorism Portal“ in Neu Delhi.

Aus den Zahlen von PIPS geht hervor, dass allein für die drei Jahre von 2008 bis 2010 pakistanische Sicherheitskräfte in Pakistan 12.000 Zivilpersonen töteten, während gleichzeitig 8.000 Zivilpersonen terroristischen Anschlägen zum Opfer fielen. Crawford schätzt vor allem auf Grundlage der PIPS-Studien konservativ die Zahl der getöteten pakistanischen Zivilpersonen seit 2004 insgesamt auf etwa 35.000. Diese Zahl unterliege allerdings einer noch größeren Unsicherheit als jene aus Afghanistan, bemerkt sie, weil der Zutritt zu den betroffenen Regionen in Pakistan begrenzter sei. Grundsätzlich besteht jedoch auch hier wieder das Problem, dass auch diese Zahl lediglich aus Medienmeldungen und Krankenhausberichten resultiert, und nicht auf wissenschaftlichen Umfragen beruht.

Zudem ermittelt PIPS noch die Zahl der durch US-Drohnenangriffe Getöteten, die sich bis Ende 2011 auf 2.000, (bis heute sogar schon auf 2.600) addieren.

Über die Zahl der getöteten Militanten in Pakistan und die der pakistanischen Sicherheitskräfte führt das „South Asia Terrorism Portal“ akribisch Buch. Es kommt bis Ende 2011 auf über 22.500 getötete Terroristen bzw. Aufständische und auf über 4.000 getötete pakistanische Sicherheitskräfte.

Somit ergibt sich für Pakistan bis Ende 2011 eine Gesamtzahl von 63.500 getöteter Pakistani in Folge des Krieges. Diese Zahl bezeichnet Crawford selbst als konservativ geschätzt. Die reale Totenzahl würde höher liegen. Crawford kommt zu der Erkenntnis, dass „in Nordwestpakistan vermutlich mehr Leute direkt getötet wurden als in Afghanistan.“

Daraus ergibt sich für Afghanistan und Pakistan eine Gesamtbilanz von 163.500 Kriegstoten, die sich etwa zu gleichen Teilen auf Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufteilt. Damit kommt auf die Tötung eines Kombattanten eine getötete Zivilperson. In den Jahren seit 2005 fielen den beiden Kriegen etwa 15.000 bis 20.000 Menschen pro Jahr zum Opfer. Die Fortsetzung des Afghanistankrieges der NATO bis zur Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung Ende 2014 lassen kein Abflauen der Kämpfe erwarten, so dass allein bis dahin mindestens mit weiteren 40.000 bis 50.000 Toten zu rechnen ist. Ich halte die Fortsetzung des Krieges für unverantwortlich. Die Forderung nach der unverzüglichen Einstellung der Kampfhandlungen durch die NATO und den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wird durch diese Studie unterstrichen.

* Lühr Henken, Berlin, ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Statement auf der Pressekonferenz der IPPNW: „Body-Count“, 18.5.2012



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