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Netzwerke des Terrors

Charakter und Strukturen des transnationalen Terrorismus. Eine Studie aus der SWP-Stiftung Wissenschaft und Politik

Im Dezember 2002 hat die dem Außenministerium nahe stehende "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) eine Studie über den "neuen Terrorismus" vorgelegt. Autor der Studie ist Ulrich Schneckener. Die Studie hat einen Umfang von 44 Seiten und kann im Internet unter folgender Adresse heruntergeladen werden:
www.swp-berlin.org/pdf/ap/S42_02.pdf.
Im Folgenden informieren wir kurz über den Inhalt der Studie (Inhaltsverzeichnis und Kurzfassung des SWP) und referieren über die wichtigsten Vorschläge, wie die Politik gegen den transnationalen Terrorismus vorgehen sollte. Interessant ist dabei, dass militärische Antworten einen höchst unbedeutenden Anteil haben. Die von den USA geprägte Realität sieht bekanntlich anders aus.


Inhalt der Studie:

Problemstellung und Schlußfolgerungen
Der 11. September und die neue Dimension des Terrors
Das terroristische Kalkül
Terroristen und andere Gewaltakteure
Vom nationalen zum transnationalen Terrorismus
Merkmale des transnationalen Terrorismus
Historische Entwicklung von Al-Qaida
Zielsetzung
Ideologie
Netzwerkstrukturen
Rekrutierung, Ausbildung und Logistik
Finanzierung und externe Unterstützung
Taktik und asymmetrische Kriegführung
Zerstörungspotential
Schlußfolgerungen für die Terrorbekämpfung
Neue Herausforderungen
Operative Anti-Terrormaßnahmen
Strukturelle Anti-Terrormaßnahmen
Fazit
Abkürzungen


Ulrich Schneckener (Kurzfassung):

Die Anschläge des 11. September 2001 bedeuten eine Zäsur in der Geschichte des Terrorismus'. Sie sind der dramatische Ausdruck eines „neuen“ Terrorismus', der sich sukzessive im Laufe der 1990er Jahre entwickelt hat. Die Studie befasst sich mit den folgenden Fragen: Wie läßt sich dieser „neue“ Terrorismus beschreiben und verstehen? Wie unterscheidet er sich von anderen, bekannten Typen des Terrorismus' sowie von verwandten Formen politischer Gewalt? Worin bestehen seine besonderen Charakteristika und Strukturen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die nationale und internationale Terrorbekämpfung?

Der „neue“ Terrorismus, der eine Weiterentwicklung des herkömmlichen nationalen / internen Terrorismus sowie des international operierenden Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre darstellt, wird in dieser Studie transnationaler Terrorismus genannt. Erst der transnationale Terrorismus, paradigmatisch verkörpert durch das islamistische Netzwerk Al-Qaida ,erreicht ein globales Gefährdungspotential, während der nach wie vor virulente Terrorismus „alten“ Typs im wesentlichen lokale oder regionale Probleme aufwirft. Der transnationale Terrorismus unterscheidet sich von seinen Vorläufern in folgenden Aspekten:
  • Er verfolgt die Zielsetzung, primär die bestehende internationale Ordnung – und eben nicht eine spezifische nationale Ordnung – zu attackieren, weshalb sich dieser Terrorismus in erster Linie gegen jene richtet, die eine Vormachtstellung in der Welt ausüben.
  • Er setzt als einigendes Band auf eine transnationale Ideologie, die es ermöglicht, Kämpfer und Attentäter mit unterschiedlichem nationalem, ethnischem, kulturellem oder sprachlichem Hintergrund zu einer handlungsfähigen (Glaubens-)Gemeinschaft zusammenzuschweißen.
  • Seine spezifische Organisationsform sind dezentrale, netzwerkartige Strukturen, die sich über den gesamten Globus erstrecken, wenn auch mit regionalen Schwerpunkten. Dabei sind Leitungsebene, „Operateure“, Terrorzellen sowie assoziierte und „befreundete“ Terrorgruppen in unterschiedlicher Intensität miteinander verbunden. Auszugehen ist von einem Modell, bei dem mehrere Knotenpunkte hochgradig miteinander vernetzt sind, während andere Teile des gesamten Netzwerkes halb-autonom agieren, ohne daß jedoch die Führungsebene gänzlich an Kontrolle oder Einfluß verliert.
  • Beim transnationalen Terrorismus handelt es sich zudem um ein multi-nationales Unternehmen, wie sich an der weltweiten Rekrutierung von Personal zeigt.
  • Er verfügt über mehrere legale oder illegale Finanzquellen und nutzt zahlreiche Finanzierungswege und wird zudem vorrangig von nicht-staatlichen Akteuren unterstützt.
  • Seine taktische Vorgehensweise versetzt ihn in die Lage, mehrere Anschläge parallel zu planen und zeitgleich an unterschiedlichen Orten durchzuführen.
  • Das Zerstörungspotential ist deutlich höher als bei herkömmlichen Terrorgruppen. Dies betrifft sowohl die Bereitschaft als auch die operativen Fähigkeiten zur Zerstörung. Einkalkuliert werden dabei nicht nur eine hohe Zahl an Todesopfern, sondern auch ökonomische, soziale und psychologische Folgen.
Dieses Profil des transnationalen Terrorismus erschwert in mehrfacher Hinsicht die nationale und internationale Terrorbekämpfung und stellt Erfahrungen der Vergangenheit auf den Prüfstand. Die wichtigsten Herausforderungen bestehen darin, auf ein verändertes Tatprofil (Art und Weise der Anschläge), auf ein verändertes Täterprofil, auf dezentrale Netzwerkstrukturen, auf eine Diversität an Finanzquellen, auf schwer greifbare, nicht-staatliche Unterstützer und Förderer sowie auf die besonderen taktischen Fähigkeiten reagieren zu müssen. Erforderlich sind Maßnahmen der operativen wie auch der strukturellen Terrorbekämpfung. Erstere setzen auf die repressive Bekämpfung bestehender, manifester Terrorgruppen und die Verhinderung von Anschlägen, letztere auf die Bekämpfung von Ursachen und begünstigenden Rahmenbedingungen.

Ulrich Schneckener schlägt folgende Maßnahmen vor:
(nach S. 42-44)

Operative Anti-Terrormaßnahmen

Hierunter fallen u.a.:
  • militärische Aktionen bis hin zur Kriegführung;
  • Einsätze von Spezialkommandos und Anti- Terroreinheiten;
  • die Androhung von Gewalt und internationale Sanktionen gegenüber Staaten, die der Unterstüt- zung von Terrorgruppen verdächtigt werden;
  • geheimdienstliche Aufklärung und Frühwarnung vor Tätern und möglichen Terroranschlägen;
  • polizeiliche Ermittlungen zur Ergreifung von mut- maßlichen Tätern und zur Aufdeckung geplanter Terrorakte;
  • verschärfte Sicherheitskontrollen auf Flughäfen und Hafenanlagen;
  • das Verbot von Organisationen, die als potentielle Unterstützer oder Vorfeldorganisationen für Ter- rorgruppen dienen;
  • Maßnahmen zur Austrocknung der Finanzquellen (z.B. Kontensperrung, Beschlagnahmung von Ver- mögen) und zur Kontrolle von Finanztransfers (z.B. Lockerung des Bankgeheimnisses, Meldepflichten, Schließung von offshore-Plätzen).
Schneckener: "Bisherige Erfahrungen haben gezeigt, daß Terro- rismus mit militärischen Mitteln allein nicht zu besiegen ist. Diese Erkenntnis galt bereits für den herkömmlichen Terrorismus (siehe Israel, Spanien, Argentinien, Großbritannien). Sie gilt jedoch um so mehr für den transnationalen Terrorismus, da man gegen weltweite Netzwerke, die primär von nicht- staatlichen Akteuren unterstützt werden, keinen Krieg im Wortsinne führen kann."
Zwar schließe militärische, "zumeist mit Spezialkommandos durchgeführte Operationen im Einzelfall" nicht aus. Als Beispiel wird Afghanistan angeführt, wo sich die "Terrororganisationen offenkundig konzentriert in einem Landesteil auf(ge)halten und dort ihre Trainingslager und ihren Unterschlupf" gehabt hätten. Die militärischen Aktionen galten dort "dem in Afghanistan versammelten Führungszirkel von Al-Qaida, der Guerilla-Organisation sowie der logistischen Basis". Dagegen lasse sich das "transnationale Terrornetzwerk selbst sowie die Vernetzung von Al-Qaida mit anderen lokalen Gruppen" nicht mit militärischen Mitteln bekämpfen. (S. 42)
Von größter Bedeutung ist also "die internationale Zusammen- arbeit von Polizei, Justiz und Geheimdiensten".
Als Erfolge werden u.a. genannt: "Weltweit wurden über 1.600 Verdächtige festgenommen, davon allein mehr als 180 in Europa. Vor allem in Spanien, Italien, Belgien, Frankreich und Deutschland kam es zu zahlreichen Verhaftungen. Dabei zeigte sich, daß Ermittlungs- und Fahndungserfolge oftmals wiederum auf Erfolgen in anderen europäischen Staaten basie- ren, da sich immer wieder Querverbindungen zwischen verschiedenen Zellen oder Einzelpersonen nachweisen lassen." Interessant auch, dass "viele Erkenntnisse über Al-Qaida .. nicht zuletzt aus Prozessakten" stammen.

Daneben spielen eine große Rolle "die internationalen Finanzinstitutionen, Regionalorganisationen, die G 7/G 8 sowie die von der OECD getragene Financial Action Task Force zur Bekämpfung der Geldwäsche (FATF), die nach dem 11. September Richtlinien und Empfehlungen entwickelt hat, wie Staaten Finanz- quellen und Transfers kontrollieren sollten". Auch internationalele Foren von Privat- banken (z.B. Wolfsberg Group) bemühen sich um Selbstverpflichtungen und einen Verhaltenskodex für ihre Mitgliedsbanken, "der sie anhalten soll, künftig die Identität von Bank- kunden (Know your Customer-Politik) bzw. ungewöhn- liche oder verdächtige Transaktionen genauer zu über- prüfen". Schneckener räumt allerdings ein, dass die meisten dieser Initia- tiven noch am Anfang stehen.

Strukturelle Anti-Terrormaßnahmen
Darunter werden vor allem "diplomatische, sicherheits-, entwicklungs-, wirtschafts- und finanz- sowie kulturpolitische Maßnahmen" verstanden, "die darauf abzielen, terroristischen Organisationen den sozialen und ideologischen Nähr- und Resonanzboden zu entziehen und auf diese Weise die Zahl ihrer Unterstützer und Sympathisanten zu reduzieren bzw. nicht weiter ansteigen zu lassen." Damit sind wir also bei der Bekämpfung von "Ursachen und Faktoren, die den Terrorismus begünstigen" - eine langfristige Aufgabe, wie der Autor einräumt. Folgende Aufgabengebiete werden genannt:
  • Lösung von Regionalkonflikten. "Solche Konflikte begünstigen einerseits oftmals die Entstehung manifester, terrori- stischer Strukturen, andererseits nutzen transnatio- nale Terrorgruppen Bürgerkriegsregionen als Betäti- gungsfeld, als Unterschlupf und/oder als Transitraum." (S. 43) Daher müssen "faire politische Lösungen" für regionale Konflikte (z.B. Nahostkonflikt, Kaschmir, Kaukasus, Zentralasien, Philipponen, Indonesien) gesucht werden.
  • Aufbau oder Reform staatlicher Strukturen. "Terroristische Netzwerke siedeln sich nicht zuletzt in Staaten an, in denen die staatlichen Strukturen schwach oder zerfallen sind, so daß die Regierung insbesondere ihr Gewalt- und Steuermonopol nicht mehr oder nur teilweise wahrnehmen kann." Deshalb müssten der "Aufbau oder die Reform von Staatlichkeit" (z.B. politische und administrative Strukturen) ein Schwerpunkt der internationalen Politik sein.
  • Demokratisierung und wirtschaftliche Modernisierung. "Misswirtschaft und Korruption" gehören zu den wichtigsten Ursachen bei der Entstehung von Terrorismus. Daher müssten "politische Reformen, die breiteren Schichten Möglichkeiten zur politischen Partizipation eröffnen", ermöglicht werden. Diese seien "in der Regel auf Unterstützung von außen angewiesen".
  • Non-Proliferation und Eindämmung des Waffen- handels. Hier gelte es, "die internationalen Regime zur Non-Proliferation von Massenvernichtungswaffen zu stärken sowie den Handel vor allem mit Klein- und Leichtwaffen einzudämmen.
  • Stärkung des internationalen Rechts. Mit zwei Zielrichtungen: 1) Die Staaten müssen "politisch und völkerrechtlich stärker verpflichtet werden, bei der Terrorbekämpfung miteinander zu kooperieren". 2) "Gleichzeitig müssen die völkerrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten auf nicht-staatliche Akteure ausgeweitet werden" - z.B. auf "vermögende Privatpersonen, auf verdächtige Stiftungen und NGOs oder auf Diaspora-Gruppen".
  • Stärkung des interkulturellen Austauschs. Hier geht es vor allem und den Abbau von Feindbildern. "Gerade um dem in zahlreichen Ländern verbreiteten Eindruck entgegenzuwirken, (westliche) Anti-Terrorpolitik richte sich gegen den Islam per se, muss in entsprechende Bildungs-, Medien- und Kulturprogramme investiert werden."

Die Studie ist erhältlich unter www.swp-berlin.org/:
Ulrich Schneckener: Netzwerke des Terrors. Charakter und Strukturen des transnationalen Terrorismus.
SWP-Studie. Stiftung Wissenschaft und Politik. Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Dezember 2002



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