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"Einmischung erwünscht" und "Die Likud-Doktrin"
"Meddling welcome" and "The Likud doctrine"

Zwei Kommentare zur Situation in Russland nach der Katstrophe von Beslan
Two Comments on the Situation in Russia after the Beslan Catastrophe

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare, die sich mit der jüngsten Entwicklung in Russland, insbesondere mit Putins Adaption der US-Präventikriegskonzeption befassen:
  • Karl Grobe plädiert in seinem Leitartikel in der Frankfurter Rundschau vom 10. September 2004 für eine europäische "Einmischung" in die russischen Angelegenheiten: eine Einmischung mit dem Ziel etwa, tschetschenischen Jugendlichen eine berufliche Perspektive, den Menschen insgesamt eine zivile Zukunft zu geben.
  • Die bekannte Publizisten Naomi Klein zieht eine Parallele zwischen den untauglichen Antiterrormaßnahmen Russlands und dem Antiterrorkrieg der USA. Putin und Bush, so ihre These, seien bei Scharon in die Schule gegangen. Kleins Beitrag liegt nur in der englischen Fassung vor. Er erschien am 10. September auf der Internetseite von Naomi Klein (http://www.nologo.org/) und im britischen "Guardian".
  • Als Dreingabe gibt es vom letzten Text noch deutsche Übersetzung - allerdings gekürzt und verändert (die Übersetzung beruht offenbar auf einem anderem Kommentar von Naomi Klein, der sich ebenfalls mit der "Likudisierung" befasste).

Einmischung geboten

Von Karl Grobe

Russlands Präsident hat nach dem abscheulichen Geiselverbrechen von Beslan internationale Solidarität eingefordert. Seine Erklärung, gegen sein Land werde ein allgemeiner Krieg geführt, an dem gewisse fremde Staaten interessiert und insofern nicht ganz unschuldig seien, nimmt sich aus wie ein Echo auf die Erklärungen seines US-Kollegen, fast auf den Tag genau drei Jahre danach. Und auch das, was an Vergeltungsdrohungen folgte, lässt vermuten, dass Wladimir Putin sich in die Spur begeben will, auf der George W. Bush sich seit 2001 bewegt.

Freilich hat nicht Russlands Präsident Präventivschläge gegen vermutete terroristische Gruppen angedroht, sondern ein russischer Offizier. Doch Juri Balujewski ist Chef des Generalstabs; das ist eine vorwiegend politische Funktion. Seine Interpretation der Internationalisierung des Kampfes gegen den Terrorismus ist keine Privatsache. Sie entspringt dem Kreml-Gedankensystem ebenso wie die Aussetzung von Kopfgeld gegen Schamil Bassajew und Aslan Maschadow. Der Konter des letzteren, auf die Ergreifung Putins die doppelte Summe auszusetzen, ist eine höhnische, irreale Pointe; die Moskauer Prämie hat andere, weltpolitisch relevante Bedeutung, denn sie kann beliebig auf tschetschenische Vertreter im Exil ausgesetzt werden und tangiert - sofern sie die tötende "Neutralisierung" enthält - das Asylrecht, unter dessen Schutz diese Exilpolitiker stehen, und damit unmittelbar das Völkerrecht.

Doch gerade auf dieses bezieht sich die russische Staatsmacht, wenn sie die Bewältigung des Tschetschenien-Konflikts als ausschließlich innere Angelegenheit Russlands bezeichnet. Nicht einmal eine Beobachtung der Vorgänge, etwa durch die OSZE, lässt Moskau zu. Die nur zu berechtigten Hinweise auf Kriegsverbrechen durch Militär und Geheimdienst verbittet Putin sich - als Einmischung in Russlands Verhältnisse und Bedrohung der Staatsgrenzen.

Nicht nur ein Denkfehler liegt in der unterschiedslosen Gleichsetzung von Autonmisten, Separatisten und Terroristen sowie letztlich der von Moskau enttäuschten und abgestoßenenTschetschenen mit Al Qaeda. Dahinter steht der Wille, allein über Krieg bis hin zum Staatsterrorismus zu bestimmen. Verschwörungstheorien flankieren das. Eine Internationalisierung wird damit ausgeschlossen. Die Erkenntnis, dass die seit einem Jahrzehnt (mit einer kurzen Ausnahmeperiode, als der Jelzin-Maschadow-Vertrag galt) verfolgte Vernichtungsstrategie terroristische Entwicklungen nicht erstickt, sondern fördert, bleibt verboten. Damit tendiert der Konflikt zur tragischen Unlösbarkeit. Er eskaliert in den Terror hinein, den zu bekämpfen aber im gesamteuropäischen Interesse liegt.

Eine europäische Lösungsstrategie kann sich kaum auf die Ergebnisse der Intervention auf der Balkan-Halbinsel beziehen. Dort unterbleiben bewaffnete Auseinandersetzungen, solange internationale Kontingente sie verhindern; Stationierungen wie in Kosovo oder Bosnien aber wird Russlands Regierung aus vielen Gründen nicht zulassen, unter anderem wegen der Befürchtung, damit werde dem Zerfall der staatlichen Einheit Vorschub geleistet.

Dennoch ist Einmischung der Europäer auf längere Sicht friedenspolitisch geboten. Sie muss von dem unveränderbaren Grundsatz ausgehen, Russlands staatliche Integrität zu wahren. Sie muss Moskau die strikte und unnachsichtige Verfolgung aller militärischen und zivilen Übergriffe, unnachsichtig geführte Ermittlungen und Prozesse gegen Kriegsverbrechen abfordern. Sie muss schließlich das Spektrum der Beteiligten weit über den Kreis der derzeit von Russland allein tolerierten Kollaborateure hinaus erweitern.

Auf der unwiderruflichen Distanzierung von Warlords und Bandenführern muss jede Vermittlung auch gegenüber solchen tschetschenischen Vertretern wie Maschadow und Sakajew bestehen; sie müssen in den Kampf gegen terroristische Banden einbezogen werden. Es ist wahrscheinlich der einzige wenigstens halb realistischer Weg, die bewaffneten Banden, deren weder Russlands militärische Kräfte noch Maschadows frühere Regierung jemals Herr wurden, gründlich zu isolieren und zu entwaffnen.

Ein umfassendes Paket materieller Aufbauhilfen gehört dazu; es kann allein der perspektivelosen Generation, die nichts als Kampf gelernt hat und daher Rekrutierungsfeld für Extremisten wurde, die Aussicht auf eine zivile Zukunft bieten. Dies alles ist Putin anzubieten. Es ist dann an ihm, seiner Verantwortung gegenüber Russlands Völkern zu entsprechen. Umdenken ist ihm nicht erspart.

Aus: Frankfurter Rundschau, 10. September 2004

The Likud doctrine

Comment by Naomi Klein

Vladimir Putin, the Russian president, is so fed-up with being grilled over his handling of the Beslan catastrophe that he lashed out at foreign journalists on Monday. "Why don't you meet Osama bin Laden, invite him to Brussels or the White House and engage in talks?" he demanded, adding that: "No one has a moral right to tell us to talk to child-killers."

Fortunately for Putin, there is still one place where he is shielded from the critics: Israel. On Monday, Ariel Sharon welcomed the Russian foreign minister, Sergei Lavrov, for a meeting about strengthening ties in the fight against terror. "Terror has no justification, and it is time for the free, decent, humanistic world to unite and fight this terrible epidemic," Sharon said.

There is little to argue with there. The essence of terrorism is the deliberate targeting of innocents to further political goals. Any claims its perpetrators make to fighting for justice are morally bankrupt, and lead directly to the barbarity of Beslan: a carefully laid plan to slaughter hundreds of children.

Yet sympathy alone does not explain the outpourings of solidarity for Russia coming from Israeli politicians this week. An unnamed Israeli official was quoted as saying that Russians "understand now that what they have is not a local terror problem but part of the global Islamic terror threat". The underlying message is unequivocal: Russia and Israel are engaged in the very same war, one not against Palestinians demanding their right to statehood, or against Chechens demanding their independence, but against "the global Islamic terror threat". Israel, as the elder statesman, is claiming the right to set the rules of war.

Unsurprisingly, the rules are the same ones Sharon uses against the Intifada in the occupied territories. His starting point is that Palestinians, though they may make political demands, are actually only interested in the annihilation of Israel. This goes beyond the state's standard refusal to negotiate with terrorists - it is a conviction rooted in an insistent pathologising, not just of extremists but of the entire "Arab mind".

From this basic belief several others follow. First, all Israeli violence against Palestinians is an act of self-defence, necessary to the country's survival. Second, anyone who questions Israel's absolute right to erase the enemy is themselves an enemy. This applies to the UN, other world leaders, journalists and peaceniks.

Putin has clearly been taking notes, but it's not the first time Israel has played this mentoring role. Three years ago, on September 12 2001, Binyamin Netanyahu, Israeli finance minister, was asked how the previous day's terror attacks would affect relations between Israel and the US. "It's very good," he said. "Well, not very good, but it will generate immediate sympathy." The attack, Netanyahu explained, would "strengthen the bond between our two peoples, because we've experienced terror over so many decades".

Common wisdom has it that after 9/11, a new era of geo-politics was ushered in, defined by what is usually called the Bush doctrine: pre-emptive wars, attacks on terrorist infrastructure (read: entire countries), an insistence that all the enemy understands is force. In fact, it would be more accurate to call this rigid worldview the Likud doctrine. What happened on September 11 2001 is that the Likud doctrine, previously targeted against Palestinians, was picked up by the most powerful nation on earth and applied on a global scale. Call it the Likudisation of the world: the real legacy of 9/11.

Let me be absolutely clear: by Likudisation I do not mean that key members of the Bush administration are working for the interests of Israel at the expense of US interests. What I mean is that on September 11, George Bush went looking for a political philosophy to guide him in his role as "war president". He found that philosophy in the Likud doctrine, handed to him ready-made by the ardent Likudniks ensconced in the White House. In the three years since, the Bush White House has applied this logic with chilling consistency to its global war on terror - complete with the pathologising of the "Muslim mind". It was the guiding philosophy in Afghanistan and Iraq, and may well extend to Iran and Syria. It's not simply that Bush sees America's role as protecting Israel from a hostile Arab world. It's that he has cast the US in the same role in which Israel casts itself, facing the same threat. In this narrative, the US is fighting a never-ending battle for its survival against irrational forces that seek its total extermination.

And now the Likudisation narrative has spread to Russia. In that same meeting with journalists, Putin made it clear he sees the drive for Chechen independence as the spearhead of a strategy by Chechen Islamists, helped by foreign fundamentalists, to undermine Russia by stirring up its Muslim population. "There are Muslims along the Volga, in Tatarstan and Bashkortostan ... This is all about Russia's territorial integrity," he said. It used to be just Israel that was worried about being pushed into the sea.

There has indeed been a dramatic rise in religious fundamentalism in the Muslim world. The problem is that under the Likud doctrine there is no space to ask why this is happening. We are not allowed to point out that fundamentalism breeds in failed states, where warfare has systematically targeted civilian infrastructure, allowing the mosques to start taking responsibility for everything from education to garbage collection. It has happened in Gaza, Grozny and Sadr City.

Sharon says terrorism is an epidemic that "has no borders, no fences", but this is not the case. Terrorism thrives within the illegitimate borders of occupation and dictatorship; it festers behind security walls put up by imperial powers; it crosses those borders and climbs those fences to explode inside the countries responsible for, or complicit in, occupation and domination.

Sharon is not the commander-in-chief of the war on terror; that dubious honour stays with George Bush. But on the anniversary of 9/11, he deserves to be recognised as this disastrous campaign's guru, a trigger-happy Yoda for all wannabe Luke Skywalkers out there, training for their epic battles of good vs evil.

If we want to see where the Likud doctrine leads, we need only follow the guru home, to Israel, a country paralysed by fear, embracing policies of extrajudicial assassination and illegal settlement, and in denial about the brutality it commits daily. It is a nation surrounded by enemies and desperate for friends - a category it narrowly defines as those who ask no questions, while offering the same moral amnesty in return. That glimpse of our collective future is the only lesson the world needs to learn from Sharon.

Source: www.nologo.org
Also published in: The Guardian, Friday September 10, 2004


Die Likudisierung der Welt

Kolumne von Naomi Klein

(Übersetzung: M. Jäger)

(...) Was am 11. September 2001 geschah, war .. in Wahrheit nichts anderes als dass die bisher nur gegen die Palästinenser angewendete Doctrin von der mächtigsten Nation der Erde übernommen und auf eine globalen Maßstab übertragen wurde: Nennen wir es die "Likudisierung" der Welt.

Um Irrtümern vorzubeugen: Mit "Likudisierung" meine ich nicht, dass zentrale Personen in der Bush-Regierung auf Kosten der USA für Israels Interessen arbeiten.

Was ich meine ist: Am 11. September sah sich Bush nach einer neuen politischen Philosophie um, die seiner Rolle als "Kriegspräsident" angemessen wäre. Und praktischerweise wurde ihm die gleich fix fertig von den bereits im Weißen Haus arbeitenden Likudisten mundgerecht serviert.

In den vergangenen drei Jahren hat George W. Bush diese Importideologie für seinen globalen "Krieg gegen den Terror" adaptiert. Sie war sein Leitbild in Afghanistan wie auch im Irak und könnte auch auf Syrien und den Iran ausgeweitet werden.

Bush hat für die USA genau dieselbe Rolle entworfen wie Sharon für Israel. In dieser Inszenierung kämpft die USA einen endlosen Krieg gegen letztlich irrationale Kräfte, die nichts weniger wollen als die totale Auslöschung der Vereinigten Staaten.

Und nun hat die Likudisierung auch auf Russland übergegriffen. In einem Treffen mit Auslandskorrespondenten machte Putin vergangenen Montag klar, dass er die Forderungen der Tschetschenen nach Unabhängigkeit nur als Speerspitze einer islamisch-tschetschenischen Strategie sieht, die von internationalen Fundamentalisten unterstützt wird, um den ganzen Süden Russlands zu unterminieren und die Unruhe auch in andere muslimisch dominierte Regionen des Landes zu tragen.

Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass der Fundamentalismus in der muslimischen Welt dramatisch zugenommen hat. Das Problem besteht nur darin, dass es die Likud-Doktrin verbietet, darauf hinzuweisen, dass der Fundamentalismus in den Staaten wächst, wo der Krieg systematisch die zivile Infrastruktur zerstört hat und dadurch die Moscheen ihren Einfluss auf immer weitere Bereiche ausdehnen können - von der Erziehung bis zur Müllabfuhr. Das geschah in Gaza, das war in Grosny so und auch in Sadr City.

Sharon sagt, dass der Terrorismus eine Seuche ist, die weder Grenzen noch Zäune kennt. Aber so ist es nicht. Der Terrorismus gedeiht innerhalb der illegitimen Grenzen von Besatzung und Diktatur. Und er überschreitet diese Grenzen, um innerhalb jener Länder zu explodieren, die für Besatzung und diktatorische Herrschaft verantwortlich sind. Wenn wir sehen wollen, wohin die Likudisierung führt, brauchen wir nur nach Israel zu schauen - ein Land, das paralysiert ist von Furcht und wütend die Brutalitäten leugnet, die es tagtäglich begeht. Es ist eine Nation, die von Feinden umgeben ist und dringend nach Freunden sucht (...)

Gekürzt aus: DER STANDARD, 13. September 2004


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