"Hass darf uns nicht zum Hass verführen"
Die Rede von Bundespräsident Johannes Rau in Berlin am 14. September
Im Folgenden dokumentieren wir die schriftliche Fassung der Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau, die er bei der Kundgebung "Keine Macht dem Terror - Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika" am Freitag, denn 14. September 2001 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gehalten hat. Die Rede hebt sich wohltuend ab von den vielen "Solidaritäts"- und "Schulterschluss"-Bekundungen der Regierenden. Ein Aufruf zur Besonnenheit.
Johannes Rau: Keine Macht dem Terror
(Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.)
I.
Nirgendwo wissen die Menschen besser als hier in Berlin, was Amerika für Freiheit
und Demokratie in Deutschland getan hat. Wir könnten heute Abend nicht hier am
Brandenburger Tor stehen ohne den Beistand Amerikas in langen Jahren und in
schwerer Zeit.
Darum sagen wir heute hier von Berlin aus allen Amerikanern: Amerika steht nicht
allein. Die ganze Welt steht in diesen Tagen an der Seite der großen amerikanischen
Nation. Das deutsche Volk steht an der Seite des amerikanischen. Uns verbindet
Freundschaft, uns verbinden gleiche Werte, uns verbindet die Liebe zur Freiheit.
Hier in Berlin erinnern wir uns an die amerikanische Hilfe nach dem Kriege, an die
Verteidigung der Freiheit Berlins und an den großen Beitrag Amerikas zur deutschen
Einheit. Besonders grüße ich alle Amerikaner, die bei uns in Berlin und überall in
Deutschland leben oder zu Besuch sind. Sie sind in diesen Tagen mit ihren
Gedanken zu Hause.
Auch wir Deutsche sind mit unseren Gedanken und mit unseren Gefühlen in Amerika.
Wir alle haben noch immer die schrecklichen Bilder vor Augen. Sie lassen uns nicht
los. Wir sind gemeinsam Zeugen mörderischer Gewalttaten geworden, wie sie die
Welt - außerhalb eines Krieges - noch nie erlebt hat.
Wir denken an Mütter und Väter, die ihre Kinder verloren haben. Wir denken an
Kinder, die ihre Eltern nie wiedersehen werden. Wir denken an alle, die Freunde und
Arbeitskollegen verloren haben. Wir denken an die unzähligen Verletzten. Wir
denken an das unermessliche Leid, das Hass und Terror über viele tausend Familien
im ganzen Land gebracht haben.
II.
Die Ziele der Mörder lagen in New York und in Washington. Getroffen aber sind alle
Menschen, weltweit. Unter den Opfern sind Menschen aus Asien, aus Australien und
aus Europa, darunter viele Deutsche, Menschen aus Afrika und aus Amerika. Der
Angriff zielte auf die ganze menschliche Gemeinschaft.
Wir stehen hier vereint in Solidarität. Wir stehen zusammen gegen Hass und
Gewalt.
John F. Kennedy ist gerade in Berlin unvergessen. In seiner ersten Rede als
amerikanischer Präsident hat er die Solidarität Amerikas mit uns Europäern so
beschrieben: "Allen, die seit langem unsere Verbündeten sind und mit denen uns
kulturelle und geistige Wurzeln verbinden, sichern wir die Loyalität eines treuen
Freundes zu. Alles können wir erreichen, wenn wir fest zusammenstehen. Nichts
erreichen wir, wenn wir gespalten und zerrissen sind. Auf uns allein gestellt schreckt
uns die Übermacht der Herausforderung."
Heute sage ich als deutscher Bundespräsident und heute sagen wir alle: Auf diese
Loyalität eines treuen Freundes kann auch Amerika bauen.
III.
In diesen Tagen haben viele Menschen Angst. Das verstehe ich. Diese Angst darf
uns nicht lähmen. Die Wut, die viele verspüren, die Ohnmacht, die so schwer zu
ertragen ist, darf uns nicht kopflos machen.
Die Mörder und ihre Anstifter sind schwer zu finden und noch schwerer zu
bekämpfen. Aber ganz gleich wer sie sind: sie sind Mörder, nichts sonst - und
deshalb müssen sie bestraft werden. Sie stehen nicht für ein Volk, sie stehen nicht
für eine Religion, sie stehen nicht für eine Kultur. Fanatismus zerstört jede Kultur.
Fundamentalismus ist nicht ein Zeugnis des Glaubens sondern sein ärgster Feind.
Wir werden und wir dürfen uns von niemandem dazu verleiten lassen, ganze
Religionen oder ganze Völker oder ganze Kulturen als schuldig zu verdammen. Wer
sich aber mit den Mördern gemein macht - aus welchen Gründen auch immer - , wer
ihnen Schutz und Hilfe gewährt, der ist den Mördern gleich.
Wir werden auf die Herausforderung nicht mit Ohnmacht und nicht mit Schwäche
reagieren, sondern mit Stärke und Entschlossenheit. Und mit Besonnenheit. Hass
darf uns nicht zum Hass verführen. Hass blendet. Nichts ist ja so schwer zu bauen
und nichts ist ja so leicht zu zerstören wie der Friede.
IV.
Wir müssen den Terrorismus bekämpfen und wir werden ihn besiegen. Dazu
brauchen wir einen langen Atem. Wer den Terrorismus wirklich besiegen will, der
muss durch politisches Handeln dafür sorgen, dass den Propheten der Gewalt der
Boden entzogen wird.
Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit lassen Menschen verzweifeln. Die
Missachtung religiöser Gefühle und kultureller Traditionen nimmt Menschen Hoffnung
und Würde. Das verführt manche zu Gewalt und Terror. Das sät den Hass schon in
die Herzen von Kindern.
Alle Menschen haben das Recht auf Anerkennung und auf Würde. Wer in seinem
Leben Anerkennung erfährt und wer sein Leben liebt, der wird es nicht wegwerfen
wollen. Wer in Würde und Zuversicht lebt, aus dem wird kaum ein
Selbstmordattentäter werden.
Entschlossenes Handeln ist das Gebot der Stunde. Weil wir das wissen und zeigen,
weil wir daran keinen Zweifel lassen, darum sagen wir auch: Der beste Schutz
gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung. Die Frucht
der Gerechtigkeit wird der Friede sein.
Das ist mühsam. Das dauert lange, das kostet nicht nur Zeit. Aber eine friedlichere,
eine sichere Welt muss uns das wert sein. Für uns und für die Kinder unserer Welt.
V.
Wir haben apokalyptische Bilder gesehen. Sie müssen uns aufrütteln, damit der
Friede neuen Raum gewinnt. Die Freiheit braucht die starke Macht des Friedens und
zum Frieden gehört die Freiheit. Wir haben allen Anlass zu Wachsamkeit, aber
keinen Grund zur Panik. Vor allem anderen brauchen wir gut überlegtes Handeln.
Unser gemeinsames Ziel ist Friede und Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle
Menschen, wo immer sie leben.
John F. Kennedy sagte zu seiner Zeit: "Wir wollen nicht der Macht zum Sieg, sondern
dem Recht zu seinem Recht verhelfen". Wenn die Nationen der Welt vereint
zusammenstehen, dann wird der Terror keine Macht über uns gewinnen.
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