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Terror-Drahtzieher sollen in New York vor Gericht

Befürchtungen um "Jahrhundertprozess" in den USA

Von Max Böhnel, New York *

»New York erneut im Visier«, »größte Herausforderung in der USA-Justizgeschichte«, »Jahrhundertprozess« - so lauteten Kommentare auf die Ankündigung des Justizministers Eric Holder am Freitag: Fünf mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September, darunter der angebliche »Chefplaner« Khalid Scheich Mohammed, sollen in den kommenden Monaten aus dem Lager Guantanamo nach New York verfrachtet und im Manhattaner US-Bundesgericht angeklagt werden.

»Es ist ein fundamentaler Grundsatz der US-amerikanischen Jurisprudenz, dass Straftaten da verhandelt werden, wo sie sich zugetragen haben«, sagte Holder. Er werde im Fall eines Schuldspruchs die Todesstrafe beantragen lassen. Die fünf Verdächtigen, die seit Jahren in Guantanamo Bay einsitzen, sind neben dem 44-jährigen Mohammed, der als Chef der Hamburg-Harburger Untergrundzelle geltende Jemenit Ramsi Binalschibh, Ali Abd Al-Asis Ali, Mustafa Achmed Al-Hamsawi und der Saudi Walid bin Attasch. Sie werden beschuldigt, 2001 die Anschläge in New York, Washington DC und Pennsylvania geplant zu haben. Ihre Überstellung nach New York stellt eine wichtigen Durchbruch im Plan von Präsident Barack Obama dar, das berüchtigte Lager Guantanamo zu schließen und damit den internationalen Ruf der USA aufzubessern.

Dass die fünf Männer nicht vor ein Militär-, sondern vor ein Zivilgericht gestellt werden sollen, fand in liberalen Kreisen große Zustimmung. Der Vorsitzende der Bürgerrechtsvereinigung ACLU, Anthony Romero, bezeichnete die Ankündigung als »riesigen Sieg«. Auch Mitglieder von Hinterbliebenen-Vereinigungen, die den Demokraten und Obama nahestehen, äußerten ihre Zuversicht. »Lasst sie uns vor Gericht stellen und verurteilen«, sagte etwa der Ex-Vizechef der New Yorker Feuerwehr Jim Riches, dessen Sohn bei den Anschlägen im »World Trade Center« starb. Damit würde »endlich Ruhe einkehren«. Ähnlich äußerte sich der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg.

Sein Vorgänger, der Republikaner Rudolph Giuliani, kritisierte dagegen das Vorhaben. Im rechten TV-Sender »Fox« nannte er es »eine sehr gefährliche und zudem unverantwortliche Entscheidung«. Damit werde New York erst recht ein Ziel für Terroristen. Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner im Repräsentantenhaus, John Boehner, interpretierte die Regierungsentscheidung gar als »Einknicken vor linksliberalen Interessengruppen«. In den Talkshows am Wochenende versuchten Obama-nahe Kommentatoren, der befürchteten Angstmache von rechts zuvorzukommen. Die New Yorker Gerichte hätten mehr als andere in den USA große Erfahrung mit Terrorismus-Verfahren.

Laut einer Studie der Jurafakultät der New York University wurden seit dem 11. September 2001 94 Prozent aller Terrorismus-Angeklagten, die auf den Listen der städtischen Strafverfolgungsbehörden standen, verurteilt. Trotzdem überwog die Befürchtung, dass die Angeklagten den Prozess, der von den Medien mit Sicherheit in einen Zirkus um die höchsten Einschaltquoten verwandelt wird, zur Selbstdarstellung nutzen könnten. CNN-Kommentator Jeffrey Toobin etwa sorgt sich, dass Khalid Scheich Mohammed das Verfahren in eine weltweit übertragene Anklage gegen die USA-Foltermethoden verwandeln könnte. Tatsächlich war der 44-Jährige in Guantanamo bis 2003 in 183 Fällen mit »waterboarding« - simuliertem Ertränken - gefoltert worden. »Geständnisse«, die von der CIA auf dieser Grundlage erpresst wurden, sind vor einem Zivilgericht nicht zugelassen. Was passiert, so Toobin, wenn Mohammed von seinen Geständnissen, die in Guantanamo aufgenommen wurden, »abrückt«? Und: »Wo sind die zulässigen Beweise? Was passiert, wenn er freigesprochen wird? Kann sich jemand die Szene vorstellen, in der er die Stufen des Gerichtsgebäudes hinuntergeht?«

Der Fall sei deshalb »chaotisch, politisch aufgeladen«, befand die Zeitschrift »Time«. Da unter Folter entstandene Aussagen nicht als Beweismittel gelten, würden die Staatsanwälte in der Zeit vor den Folterungen »nachgraben müssen«. Dies dürfte ihnen nicht schwerfallen. Denn Mohammed brüstete sich bereits im Jahr 2002 vor seiner Ergreifung und Verschleppung in Pakistan durch USA-Truppen im Nachrichtensender Al-Dschasira mit der Behauptung, er und nicht Osama bin Laden sei für »9/11« verantwortlich. Laut Presseberichten werden sich Mohammeds Verteidiger sowohl auf den geplanten Gerichtsstandort New York wie auf die Geständnisse einschießen, auch wenn die meisten von ihnen lange nach den Folterungen entstanden sind.

Der linke Kritiker Davis Svanson, der sich seit Jahren für die Strafverfolgung der Bush-Regierung einsetzt, hält das Verfahren vor einem Zivilgericht für »einen Fortschritt«, greift aber weiter. Ein wirklich »gerechtes Justizsystem« würde alle Geständnisse und Befragungen öffentlich machen - und müsste zwangsläufig nach den Regelungen der herrschenden Justiz zur Strafverfolgung der Folterer und ihrer Vorgesetzten führen. Darüber hinaus sei es »Betrug«, wenn nur jene, die mit der Verurteilung auch vor einem Zivilgericht rechnen müssen, dort vorgeführt werden, während sich andere Guantanamo-Häftlinge weiter vor Militärgerichten zu verantworten oder »weiter mit der gesetzeslosen Inhaftierung rechnen« müssen.

* Aus: Neues Deutschland, 16. November 2009


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