Eine austauschbare Figur
Die Politik muss mehr tun, als einzelne Täter zu jagen. Von Peter Lock
Alle Politiker sind sich einig, dass es bei der Bekämpfung des Terrorismus zum
Schulterschluss der zivilisierten Welt kommen muss. Auch die erschreckte
Öffentlichkeit erwartet Taten der staatlichen Sicherheitsorgane. In dieser Situation
hätte das wahrscheinliche Ziel der einsetzenden globalen Hetzjagd Osama bin
Laden erfunden werden müssen, gäbe es diese Person nicht wirklich. Dieser Mann
inszeniert sich auf der Folie der Medien seit Jahren mit erstaunlichem Erfolg als
Feind der USA und Gewaltverherrlicher. Er ist außerhalb der Welt der
dominierenden Industriestaaten zu einer mythischen Gestalt geworden, die diffuse
politische Ziele mit ultimativer Gewalt verfolgt, vergleichbar mit dem Mythos Che
Guevaras weltweit vor über 30 Jahren.
Indem man nun bin Laden jagt, gibt man vor, den Terrorismus zu bekämpfen. Dabei
geraten die Ursachen von Terrorismus völlig aus dem Blickfeld, weil eine
Beschäftigung mit ihnen die scheinbare Klarheit der unmittelbaren politischen und
leider wahrscheinlich auch militärischen Reaktion stören würde. Mehr noch, man
fragt nicht nach den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich eine solche
multinationale Operation effizienten Terrorismus entfalten konnte. Es ist dabei
unbedeutend, wie die Personen, wie auch immer bewaffnet, in die vier Flugzeuge
gelangen konnten. Denn es ist eine Illusion, dass man absolute Sicherheit
technisch organisieren kann. Im Wettlauf mit den unbegrenzten Möglichkeiten
terroristischer Entschlossenheit wird man immer Verlierer sein. Letztlich basiert
Sicherheit immer auf einem gesellschaftlichen Konsens.
Auch wenn der aktuelle Diskurs darauf hinaus läuft, die Akteure dieses Terrorakts
als verrückt einzustufen, muss man sorgfältig nach den politischen Zielen fahnden,
wie verwirrt und verzerrt sie auch sein mögen. Denn Terrorismus ist der Einsatz
unberechenbarer Gewalt zur Erreichung eines politischen Zieles. Er ist die fatale
Fortsetzung eines gescheiterten oder unmöglichen politischen Dialogs. Insofern hat
Terrorismus immer eine gesellschaftliche Basis, ohne die er nicht operieren kann.
Nach den wenigen Fakten, die bislang bekannt sind, muss der 11. September das
Werk einer außerordentlich leistungsfähigen, transnational operierenden
Organisation gewesen sein. Außerdem muss der ideologische Zusammenhalt der
Angehörigen dieser Organisation so groß sein, dass sie offensichtlich nicht
unterwandert werden konnte. Weiterhin müssen die politischen Ziele mit
quasi-religiösen Vorstellungen verknüpft sein, auf deren Grundlage gezielt
qualifiziertes Personal für Selbstmordoperationen abgerufen werden kann.
Jedem steuerzahlenden Bürger stellt sich natürlich die Frage: Sind die riesigen
Summen, die für geheimdienstliche Tätigkeiten aller Art ausgegeben werden,
überhaupt sinnvoll, wenn es dem größten Sicherheitsapparat der Welt über Jahre
nicht gelingt, bin Laden dingfest zu machen und ihn so in weiten Teilen der Welt zu
einem Mythos des Widerstandes gemacht hat? Eine plausible Erklärung für dieses
Versagen der Geheimdienste ist der Opportunismus solcher Organisationen. Seit
Ronald Reagan den Krieg der Sterne bzw. die absolute Raketenabwehr auf die
politische Agenda Amerikas gesetzt hat, sind Begründungen für dieses Projekt
gefragt. Entsprechend konzentrieren sich die Aufklärungsdienste auf
Schurkenstaaten und die ihnen unterstellten staatsterroristischen Absichten. Da
gemeinhin unterstellt wird, dass Terroristen eine logistische Basis benötigen, um
international tätig zu werden, schien die ausschließliche
Schurkenstaatenbeobachtung ein angemessener Fokus zu sein.
Im Folgenden sollen mögliche Inhalte des gescheiterten Dialogs, der nun mit
brutalen terroristischen Mitteln fortgesetzt wird, ausgeleuchtet werden. Dies steht
in unmittelbarem Zusammenhang mit weltgesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklungen, die offensichtlich eine operative Basis für Terrorismus sind.
Zunächst gilt es sich zu verdeutlichen, dass die gegenwärtige Form wirtschaftlicher
Globalisierung an den Interessen einer Mehrheit der Weltbevölkerung vorbeigeht.
Die unerbittliche Polarisierung der individuellen Einkommen, die strukturelle
Unfähigkeit, Hunger auf der Welt zu überwinden und schließlich die Erosion von
Staatlichkeit und die zunehmende Bedeutung von Gewalt als Regulativ
wirtschaftlicher Aktivitäten, die häufig zu kriegerischen Aktivitäten eskaliert, sind
untrügliche Indikatoren. Eine dramatische Zuspitzung erfahren diese Entwicklungen
in der weltweiten Jugendarbeitslosigkeit, die in vielen Ländern weit mehr als die
Hälfte der nachwachsenden Generationen betrifft, die ihr Leben in informellen und
kriminellen Sphären organisieren müssen. Ein realistisches politisches Projekt,
das Perspektiven bietet, diese katastrophale intergenerationelle Apartheid zu
überwinden, ist nicht in Sicht.
Gleichwohl ist die ausgeschlossene Mehrheit der Weltgesellschaft medial mit der
Welt des Massenkonsums der Wohlstandsgesellschaften ständig konfrontiert.
Kriminelle Tätigkeiten sind der Zugang zu dieser Welt. Alternativ kann man diese
Welt auf der Grundlage religionsähnlicher Ideologien verteufeln und ihre
Abschaffung zu einer irregeleiteten Aufgabe stilisieren. Bevor solche Ideologien
wirkungsmächtig werden können, steht jedoch immer die Hoffnungslosigkeit und
die konkrete Erfahrung des Ausschlusses aus der medial ständig präsenten Welt
des Wohlstandes.
Einen Diskurs zur Überwindung dieses Zustandes gibt es nicht. Vielmehr hat die
Wohlstandsgesellschaft einerseits das Ende der Geschichte und damit die
Zementierung des gegenwärtigen unerträglichen Zustandes erklärt und zugleich die
unausweichliche kriegerische Konfrontation mit jenen Teilen der Welt, in denen die
große Mehrheit der Ausgeschlossenen lebt.
Die vorherrschende ideologische Verknüpfung von neoliberaler Wirtschaftsdoktrin
und Demokratie schafft ein Klima, in dem sich zunehmend verzweifelte, gleichwohl
aber ungeeignete Ideologien alternativer Gesellschaftsformen entfalten, die
regelmäßig ein Lösungsmuster mit religiösen Elementen einschließen. Ein
Jenseits ist die Folie, auf der solche Utopien ihre Heilsformel entwickeln. Dadurch
werden Maßstäbe rationalen politischen Handelns relativiert und öffnen den
Prozess eines bis zu seiner Auflösung eskalierend konfrontativen politischen
Diskurses.
Wenn man zu dieser Zustandsbeschreibung hinzufügt, dass sich parallel zum
gegenwärtigen Globalisierungsprozess viele dynamische internationale Netzwerke
krimineller Ökonomie entwickelt haben, die angesichts der deregulierten
Finanzmärkte leistungsfähig sind, über große finanzielle Ressourcen verfügen und
global operieren, dann wird deutlich, dass es zur Organisation einer terroristischen
Gruppe mit großer Leistungsfähigkeit nicht des Vermögens eines bin Laden bedarf.
Vielmehr sind die objektiven gesellschaftlichen und die wirtschaftlich
organisatorischen Bedingungen gegeben, die die Figur des bin Laden austauschbar
machen. Daher setzt eine wirkungsvolle Bekämpfung des Terrorismus ein
Verständnis für die gesellschaftlichen Verhältnisse voraus, die diesen Terrorismus
auch weiter hervorbringen werden, wenn die Zelle des bin Laden längst ausgehoben
ist. Daher muss sich die Politik darauf konzentrieren, wieder dialogfähig mit jenen
Menschen zu werden, die weltgesellschaftlich ausgeschlossen sind. Dies setzt
aber voraus, dass nicht Wirtschaftsordnungen, sondern die Lebens- und häufig die
Überlebensperspektive der Menschen Priorität haben.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
* Peter Lock ist Friedens- und Konfliktforscher in Hamburg.
Der Beitrag erschien auch am 13. September 2001 als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau.
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