"Nicht der Terror überrascht, sondern die Resignationsfähigkeit der Milliarden Armen"
Der französische Sozialwissenschaftler Serge Latouche im Gespräch
Als Philosoph, Anthropologe und Ökonom attackiert Serge Latouche die Folgen der kapitalistischen
Globalisierung. Umweltschäden, das extreme
Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, die
fortwährende Kommerzialisierung aller
Lebensbereiche sind für ihn alarmierend. In seinem
neuesten Buch (La déraison de la raison
économique) bricht Latouche eine Lanze
für die Rückkehr zur ökonomischen Vernunft -
Vorbilder sind ihm dabei das antike Griechenland,
Indien und China. Der Westen, so Latouche, sei nichts
anderes als "eine von der Rationalität geprägte
techno-ökonomische Megamaschine ..."
Im "Freitag" vom 7. Dezember 2001 erschien ein Interview mit dem bedeutenden französischen Sozialwissenschaftler, das wir im Folgenden gekürzt dokumentieren. Der Artikel erschien unter dem Titel: "Coca-Cola und Heiliger Krieg.
FREITAG: Wie deuten Sie einen mit den Attentaten
vom 11. September verbundenen Qualitätssprung
des Terrorismus?
SERGE LATOUCHE: Nach den Statistiken des
UNDP kontrolliert die eine Milliarde reichster
Menschen der Welt 100 Mal mehr Reichtum als die
eine Milliarde der Ärmsten. Das Wohlstandsgefälle
zwischen Süden und Norden, das im 17.
Jahrhundert praktisch nicht existierte, liegt heute bei
1 zu 100. Das treibt die Massen in die
Verzweifelung. Von daher überrascht es mich, dass
nicht Hunderttausende von Terroristen am Werk
sind. Was erstaunt, ist die außergewöhnliche
Resignationsfähigkeit dieser Milliarden und
Milliarden Frustrierter, die praktisch nichts mehr
zum Leben haben und größtenteils ihr Schicksal
hinnehmen, aber die trotz allem ein sehr fruchtbares
Terrain darstellen für jede Art von Terrorismus - der
selbstmörderischen Form von sozialer Revolte.
Betrachten Sie den 11. September auch als Antwort
auf die "Verwestlichung der Welt", die Sie in Ihren
Büchern beschreiben?
Wissen Sie, eine Studentin aus Benin, die gerade
bei mir ihre Dissertation verteidigt, meinte im
Moment der Attentate: Für die Afrikaner haben diese
Vorfälle keinen Sinn. Das sind Dinge zwischen
Weißen. Dinge, die sich außerhalb des
afrikanischen Kontinents abspielen. Das heißt, die
tatsächlich Ärmsten und Ausgeschlossensten
haben sich nicht von diesen Geschehnisse
angesprochen gefühlt. Aber das ist nicht neu -
schon die Französische Revolution wurde von
aristokratischen Dissidenten gemacht, nicht von der
Masse des Volkes. Es ist auch kein Zufall, dass
sich der jetzige Terrorismus in der
arabisch-muslimischen Welt entwickelt hat, die
immer Hegemonieabsichten hegte - in Konkurrenz
zum Westen - und eine universale Weltanschauung
pflegt, die wiederum Teil der Geschichte des
Westens ist.
Aber wir hören doch gerade, der Heilige Krieg
reflektiere vor allem den Vormarsch von
MacDonald´s, dem sich die islamische Tradition
vehement widersetzen wolle ...
Diese These trifft sich ein bisschen mit meinen
Ideen, aber anders, als Sie vielleicht annehmen.
Natürlich, man kann die kulturelle Analyse nicht von
der wirtschaftlichen trennen. Das heißt aber, wäre
der westliche Plan des Wohlstands für jedermann im
Süden aufgegangen, wären die Forderungen nach
kultureller Identität wahrscheinlich weitaus
schwächer, weil es letztlich doch viele Leute auf der
Welt gibt, die bereit sind, auf eigene Identität zu
verzichten, wenn sie ein gutes Einkommen haben.
Mit anderen Worten, das Drama einer Zerstörung
kultureller Identität hängt von der Dynamik der
westlichen Entwicklungswalze ab?
Ja, weil für die Schiffbrüchigen Identität das Einzige
ist, das ihnen bleibt, ihr einziger Reichtum. Wenn
man ihnen auch noch diesen Reichtum nimmt,
haben sie gar nichts mehr. Den nationalistischen
Bewegungen, die versuchten, den Islam zu
verwestlichen - ich denke an Kemal Atatürk, den
Ägypter Nasser, die Baath-Partei im Irak -, ist es
zunächst gelungen, die arabischen Massen zu
erobern, aber schließlich sind sie gescheitert, weil
ihre hauptsächliche Rechtfertigung in der
wirtschaftlichen Entwicklung bestand. Und da die
ausblieb, waren sie diskreditiert. Dem setzen die
Fundamentalisten von heute den Plan entgegen, die
Moderne zu islamisieren, das heißt, im Grunde
verwerfen sie die Moderne nicht. Es sind Leute, die
die moderne Technologie nutzen, moderne
Menschen, die einfach nur eine Moderne in
islamischer Sauce wollen - ihre eigene Moderne.
Ist der Krieg in Afghanistan ein Versuch, dagegen
die wirtschaftliche Globalisierung mit Gewalt
durchzusetzen und so diesen Typus des
Widerstandes, von dem Sie sprechen, zu brechen?
Man kann die Leute nicht dazu zwingen, Coca-Cola
zu trinken, wenn sie das nicht wollen. Aber hinter
dem Rauchvorhang der Militäraktionen haben ja
gerade die Verhandlungen der
Welthandelsorganisation (WTO) in Katar
stattgefunden. Der militärische Kontext hat es
erlaubt, Druck auf die Länder auszuüben, die in
Seattle 1999 noch widerstanden hatten. Europa
beispielsweise folgt jetzt handelspolitisch vollständig
dem Kurs der USA. In diesem Sinne wird der Krieg
als Druckmittel eingesetzt, um Globalisierung zu
beschleunigen.
Das sieht man auch daran, dass Präsident Bush
weiter schärfsten Druck ausübt, damit die
Gerichtsverfahren gegen Microsoft eingestellt
werden. Microsoft ist angesichts der Rezession
unverzichtbar. Es gibt einen klaren ökonomischen
Nationalismus der USA. Man darf nicht die Worte
Kissingers vergessen, der gesagt hat: Was ist
Globalisierung? Ein neuer Name für amerikanische
Hegemonialpolitik.
Das Gespräch führte Cyrus Salimi-Asl.
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