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"Internationale Gesetze gelten für jedermann"

Irene Khan, Generalsekretärin von Amnesty International, sieht in der Wahrung von Menschenrechten ein wichtiges Instrument zum Schutz vor Terrorismus

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das die Tageszeitung "Neues Deutschland" mit der Generalsekretärin von amnesty international geführt hat.*



ND: Wie hat sich die Menschenrechtslage seit dem Beginn des so genannten Krieges gegen den Terrorismus verändert?

Khan: Ich bin seit August 2001 Generalsekretärin von Amnesty International. Mein erster Arbeitstag in der AI-Zentrale in London war der 12. September 2001. Was hat sich seitdem für die Menschenrechte verändert? Wir alle wissen, dass die Diskussion über die Notwendigkeit von Sicherheit und darüber, dass man dafür Menschenrechte einschränken müsse, eine alte Debatte ist. Viele Regierungen – kommunistische, autokratische oder diktatorische – haben sie benutzt. Neu ist, diese Argumentation von westlichen Demokratien zu hören. Die einstigen Verteidiger der Menschenrechte sind nun bereit, die gleichen Wege zu gehen, die repressive Regimes vor ihnen gegangen sind. Gleichzeitig regt die Strategie des Krieges gegen den Terror andere Regierungen zur Nachahmung an. Die Methode hat sich zu einem wahren Exportschlager entwickelt. So unterdrückt die chinesische Regierung die muslimische Minderheit im Namen dieses Krieges, die russische Regierung nutzt den gleichen Kontext für Tschetschenien. Überall auf der Welt werden Gesetze im Krieg gegen den Terror verabschiedet, wie zum Beispiel die »Sicherheitsgesetze« in Südostasien. Regierungen in Europa erlauben der CIA, ihre Flughäfen für Transporte von Gefangenen in Foltergefängnisse zu benutzen.
Parallel dazu wird ein sehr gefährlicher Preis für den Krieg gegen den Terror bezahlt, indem sehr viele andere Sicherheitsfragen ignoriert werden. Niemand schenkt Armut, Hunger, Krankheit Aufmerksamkeit – alles Dinge, die die Sicherheit der Menschen beeinflussen. Der Handel mit Waffen wurde nicht eingeschränkt, sondern ausgeweitet. Während überall von mehr Sicherheit gesprochen wird, setzen Regierungen die Hürden für Waffengeschäfte mit menschenrechtsverletzenden Regierungen herab.

Verlust an moralischer Glaubwürdigkeit

Amnesty International hat auch herausgefunden, dass Waffen, die bei der Entwaffnung von Milizen im ehemaligen Jugoslawien gesammelt wurden, sich nun in den Händen irakischer Milizen befinden. Prinzipien für Fortschritt, für Stabilität, für eine offene Gesellschaft, von denen jeder gedacht hat, dass es fundamentale Prinzipien seien, werden ausgehöhlt – durch Gefängnisse wie Guantanamo, in denen die Gesetze des jeweiligen Staates für die Gefangenen nicht gelten; durch das Konzept, nach dem es Menschen gibt, für die Gesetze nicht gelten, und nach dem Regierungen über den Gesetzen stehen.

Auch der Angriff auf Libanon steht im Kontext dieses Krieges gegen den Terror. Amnesty International wirft sowohl Israel als auch der libanesischen Hisbollah Kriegsverbrechen vor. Werden dadurch nicht Täter und Opfer über einen Kamm geschoren?

Internationale Gesetze gelten für jedermann. In einer Kriegssituation wird von allen Beteiligten erwartet, dass sie sie respektieren, dass Zivillisten, wo auch immer sie sind, beschützt werden. Wir haben uns angesehen, was die israelischen Streitkräfte in Südlibanon, aber auch, was die Hisbollah-Kämfer in Nordisrael getan haben. In Südlibanon wurden Zivilisten getötet, die zivile Infrastruktur wurde zerstört. Dies war die militärische Strategie, ein geplanter Akt und nach internationalen humanitären Gesetzen verboten. Andererseits hat auch die Hisbollah im Norden Israels Zivilisten angegriffen. Hisbollah erklärte dazu, dies wäre nicht ihre Politik und man hätte nur deshalb Unbeteiligte angegriffen, weil Israel in Südlibanon Zivilsten attackiert habe. Nach internationalem Recht dürfen aber Zivilisten auf keinen Fall für die von Armeen begangenen Kriegsverbrechen bestraft werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Regierung oder eine Miliz handelt. Beide müssen die internationalen Gesetze respektieren.
AI bezieht keine Position in diesem Krieg. Wir haben dafür plädiert, dass eine Kommission der UNO auf beiden Seiten aktiv wird. Die Verbrechen müssen untersucht und die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden.

Muss man Menschenrechtsverletzungen als »Kollateralschaden« im Kampf gegen den Terror in Kauf nehmen?

Nein, Menschenrechte und Sicherheit sind nicht zwei verschiedene oder gar im Gegensatz zueinander stehende Dinge. Menschenrechte bringen Sicherheit, schaffen auf lange Sicht sichere und stabile Staaten. In Europa haben sich die Regierungen nach dem zweiten Weltkrieg zusammengesetzt und mit der Genfer Menschenrechtskonvention, dem Europarat und anderen Institutionen eine Infrastruktur für Menschenrechte entworfen. Heute arbeiten die Regierungen derselben Staaten an der Aushöhlung von Menschenrechten.
Auch bei der notwendigen Bestrafung von Menschen, die in terroristische Aktionen verwickelt sind, müssen die Gesetze beachtet werden. Wenn Regierungen sich entscheiden, das Recht zu brechen, wie können sie dann von anderen dessen Beachtung erwarten? Wenn Regierungen Recht brechen, weil sie die Macht dazu haben, verlieren sie die moralische Autorität, von Menschenrechten zu sprechen. Deswegen sind wir beispielsweise mit Problemen im sudanesischen Darfur konfrontiert. Der Westen verlor seine moralische Glaubwürdigkeit, weil man annahm, dass man Menschenrechte im Namen der Sicherheit opfern könne.

AI hat sich ausführlich mit den Geheimgefängnissen der CIA beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Wir haben beispielsweise in Jemen drei ehemalige Gefangene solcher Gefängnisse getrennt befragt. Aufgrund der Informationen, die wir von ihnen und aus anderen Quellen bekommen haben, sind wir zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es geheime Gefängnisse gab oder gibt, in denen die CIA Menschen festhält. USA-Präsident Bush hat also zugegeben, was wir längst wussten. Dass Bush in aller Öffentlichkeit erklären kann, wie USA-Behörden internationales und in den USA geltendes Recht brechen, ist furchterregend. Und nun soll dieses Verhalten noch legalisiert werden. Was könnte den Regeln internationaler Gesetzgebung größeren Schaden zufügen als die Erklärung der mächtigsten Regierung der Welt: »Wir haben Recht gebrochen, wir werden fortfahren, Recht zu brechen, und wir wollen, dass der nationale Kongress dieses Verhalten autorisiert!« Man versucht, zwei Regelsysteme zu schaffen, von denen eines für das mächtigste Regime gilt und das andere für alle anderen. Damit zerstört man das gesamte Rechtssystem, was den Terroristen nur gelegen sein kann. Deswegen können geheime Gefängnisse nur kontraproduktiv im Krieg gegen den Terror sein.
Der Europarat ermittelt bereits, was CIA-Aktivitäten in Europa angeht. Wir würden es begrüßen, wenn europäische Regierungen dafür sorgen, dass so etwas auf ihrem Territorium nicht vorkommt.

Gegen »Partnerschaft im Verbrechen«

Sie haben den Gegner im Kampf um die Menschenrechte als sehr mächtig beschrieben. Was kann eine Organisation wie Amnesty International ausrichten?

Ich habe darüber gesprochen, was die Regierung der USA tut. Der Oberste Gerichtshof der USA hat demgegenüber in jüngster Zeit zwei Urteile gegen die Interessen der Regierung gefällt. Das eine sprach den Gefangenen von Guantanamo das Recht zu, sich an die Gerichte zu wenden. Im zweiten wurden die über Gefangene richtenden Militärkommissionen für illegal befunden. Auch der USA-Senat hat sich gegen ein Gesetz gesperrt, das den Behörden gestatten sollte, die Genfer Konvention zu ignorieren.
In Großbritannien entschied der Oberste Gerichtshof gegen ein Gesetz, das es erlauben sollte, Ausländer in Verwahrung zu nehmen. Ein anderes Gericht lehnte die Forderung der Regierung nach Verwendung durch Folter gewonnenen Beweismaterials ab. Die Ermittlungen des Europarates signalisieren den Regierungen, nicht den »Partner im Verbrechen« für die USA zu spielen. Es gibt also sehr wohl Widerstand. Und dieser Widerstand wird hauptsächlich von der öffentlichen Meinung bewegt.

Seit 2001 hat sich eine Menge verändert. Direkt nach dem 11. September waren die Menschen verängstigt. Die USA-Regierung und ihre Verbündeten nutzten diese Furcht aus. Das hat eine Weile funktioniert. Heute jedoch stellen immer mehr Menschen die Effektivität der gewählten Strategie in Frage. Ist die Welt heute sicherer? Haben Guantanamo, haben die Geheimgefängnisse, alle geheimen Methoden die Welt sicherer gemacht?

Nein, wir sehen doch, was in Irak und Afghanistan geschieht. Diese Überzeugung wächst in den Köpfen von immer mehr Menschen heran. Deswegen ist es auch nicht die Organisation Amnesty International, die sich widersetzt und den Krieg gegen den Terror gewinnen wird. Es werden Menschen sein. Einfache Menschen, die sagen: »Genug ist genug, wir glauben an die Menschenrechte, wir stehen für sie ein.«

* Irene Zubaida Khan wurde 1956 im damals ostpakistanischen Dhaka geboren, der Hauptstadt des 1971 für unabhängig erklärten Staates Bangladesch. Als Tochter aus wohlhabendem Hause nach Nordirland emigriert, studierte sie in Großbritannien und den USA. 21 Jahre lang arbeitete die Juristin für das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), bevor sie 2001 als erste Frau, erste Asiatin und erste Muslimin an die Spitze von Amnesty International berufen wurde.
Mit einem Deutschen verheiratet und Mutter einer 17-jährigen Tochter, ist Irene Khan die siebente Generalsekretärin der in London ansässigen weltweiten Menschenrechtsorganisation, die 1961 von dem Anwalt Peter Benenson gegründet wurde und sich als unabhängig von Regierungen, Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen betrachtet. Über Menschenrechtsverletzungen im "Krieg gegen den Terrorismus" sprach Anke Stefan für ND mit der AI-Repräsentantin.

Aus: Neues Deutschland, 27.09.2006



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