Günter Grass: "Militärschläge sind nie zivil"
Literaturnobelpreisträger im Spiegel-Interview - Auszüge
Die online-Ausgabe des SPIEGEL veröffentlichte am 10. Oktober 2001 ein Interview mit dem deutschen Schriftsteller Günter Grass. Darin äußert sich Grass sehr kritisch über den US-Krieg gegen Afghanistan und beharrt auf dem Recht der Kritik an der Politik des Westens. Wir dokumentieren ein paar Auszüge aus den Antworten von Günter Grass. Das ganze Interview von Holger Kuligk kann im Internet nachgelesen werden unter www.spiegel.de.
Militärschläge sind nie
zivil. Das lässt sich auch nicht
wegtünchen, wenn zugleich
Lebensmittelpakete abgeworfen werden.
Zivil war, was die Uno vorher im Land
geleistet hat und sehr viel mehr Not
gelindert hat, zusammen mit anderen
Hilfsorganisationen, die jetzt aus Furcht
vor den Angriffen nicht mehr im Land sind
und arbeiten können.
Aus die Frage nach der Haltung von Grünen und PDS antwortet Grass:
Die PDS macht es sich aber auch sehr leicht. Die Grünen bewundere ich dagegen, wie sie um eine richtige
Entscheidung kämpfen. Ich könnte deren Beschluss unter Umständen
mit unterschreiben, allerdings mit einer Einschränkung. Ein lokal
begrenzter Militärschlag setzt voraus, dass man im Fall Bin Laden
weiß, wo er innerhalb der nächsten 24 Stunden steckt. Aber das ist
bei der Beweglichkeit und Geschicklichkeit seines Stabs stets schwer
auszumachen. Führt der begrenzte Militärschlag also nur irgendwohin,
wo es Bin Laden nicht mehr trifft, trifft er Unschuldige.
Ich bin in Sorge, dass
sich dies nun, wie angekündigt, zu einem
latenten Kriegszustand über Jahre
ausdehnen wird - in der Diktion der
Vereinigten Staaten von Schurke zu
Schurke, von Schurkenstaat zu
Schurkenstaat. Damit solidarisch zu sein,
davon halte ich nichts. Militäreinsätze
sind für mich ein untaugliches
Instrument, das Verzweiflung erzeugt.
Und Verzweiflung geht immer zurück auf
ein Versagen der Politik. Vier afghanische
Uno-Mitarbeiter, die die Folgen des
letzten Krieges, die Minen beseitigt
haben, sind solchem Versagen jetzt zum
Opfer gefallen. Die werden immerhin
genannt, die werden beachtet. Aber die anderen Opfer nicht.
... Auch dieser
übermäßige Aufmarsch von vier Flugzeugträgern und Verbänden in
der Region hat bereits vor den so genannten Gegenschlägen eine
Situation geschaffen, in der Menschen gestorben sind, jeden Tag.
Denn Millionen sind auf der Flucht, Kinder, Frauen, alte Menschen.
Die Toten gab es also schon, es ist nicht so, dass wir sie erst
befürchten müssen.
... Durch den Militäreinsatz findet eine
Destabilisierung in einer sehr gefährdeten
Region statt. Wenn man aber Pakistan
destabilisiert, wird Indien zuschlagen im
Kaschmir-Streit. Dann weiten sich diese
Dinge aus. Zunächst habe ich geglaubt,
dass man dies mittlerweile in Amerika
begriffen hat, weil sich die
Nachdenklichen, zum Beispiel der
Außenminister Powell, durchgesetzt
hatten. Der hat im Irak Erfahrungen
gemacht, was Fehlschläge betrifft. Dies
war aber nur mein Eindruck bis am
Sonntagabend. Jetzt schließe ich einen
erneuten Fehlschlag überhaupt nicht aus.
... Bin Laden ist von der CIA ausgebildet worden,
beziehungsweise mit Geldern von dort, gemeinsam mit anderen
Mudschahidin. Dies geschah aus reiner Zweckpolitik der USA, weil
dieser Einsatz damals gegen die Sowjetunion gerichtet war. Und das
war kein Einzelfall. Die CIA war im Grunde, in ihrer Praxis auch eine
terroristische Vereinigung, auch mit Mordanschlägen auf Politiker. Das
muss man sehen, und es macht keinen Sinn, nur mit den Fingern auf
andere zu weisen.
Günter Grass geht im weiteren Verlauf des Interviews auch darauf ein, wie mit Kritikern der USA hier zu Lande umgegangen wir.
...
Ich kann Ulrich Wickert nur in Schutz
nehmen. Die indische Autorin Roy, eine
fantastische Frau, hat in einer sehr
scharfen und genauen Analyse aus der
Sicht der Dritten Welt, wie wir sie
hochnäsig nennen, einen Vergleich
zwischen Bush und Bin Laden gezogen.
Wickert hat sie zitiert, das ist sein gutes
Recht. Doch dieser Knüppel des
Dauervorwurfs, jede Kritik an den
Vereinigten Staaten habe mit Antiamerikanismus zu tun, ist nicht nur
töricht und diffamierend, sondern auch ein falscher
Freundschaftsdienst.
Ich fühle mich vielen Amerikanern und dem Land
gegenüber als Freund verbunden. Freundschaft verlangt aber auch,
einem Freund in den Arm zu fallen, wenn er droht, etwas falsch zu
machen, und wenn man ihn darauf aufmerksam machen kann, dass er
dabei ist, einen Fehler zu begehen oder Fehler zu wiederholen.
Solche offene Kritik gehört für mich zur Loyalität. Wenn man das
unter Antiamerikanismus abbucht, hört die Diskussion auf. Auch
Freiheit kann nicht verteidigt werden, wenn wir unsere eigene
Freiheit beschneiden, vor allem die des Worts.
... in dem Augenblick, wo wir anfangen
unsere Freiheitsrechte einzuschränken, besorgen wir das Geschäft
der Terroristen. Die Einführung der Rasterfahndung ist solch ein
unverhältnismäßiger Eingriff, vor dem ich warne.
Wir haben diesen Fehler schon einmal
gemacht in den Zeiten während der
Terrorismus-Welle der RAF im eigenen
Land. Aber die führenden deutschen
Terroristen wurden aufgrund eigener
Fehler gefasst, nicht aufgrund der
Rasterfahndung. ...
Günter Grass zur Rolle Willy Brandts:
... Ich war in New York dabei, als mit Willy
Brandt zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler vor der Uno
gesprochen hat und sagte: "Auch Hunger ist Krieg." Dieser Satz ist
mit Beifall erschlagen worden. Aber die Konsequenzen hat niemand
gezogen. Auch wir Deutschen mit unserer kümmerlichen
Entwicklungshilfe nicht. ...
Was dringend notwendig wäre, ist eine
Weltwirtschaftskonferenz einzuberufen, und zwar auf der Grundlage
des Nord-Süd-Berichts von Willy Brandt und unter Berücksichtigung
der Folgen der Globalisierung. Denn auch in diesem Prozess sind die
geschädigten in erster Linie die Staaten des Südens. Wenn wir das
nicht bedenken, wird man diesem Terrorismus nicht beikommen. Diese
Probleme zu bewältigen, ist mit Militärschlägen nicht zu schaffen,
auch mit den genauesten kriminalistischen Untersuchungen nicht und
mit Rasterfahndung schon gar nicht.
Grass zum Palästinakonflikt:
... Solange Ursachen da sind für diesen nachwachsenden Hass,
solange die Wut und die zum Teil berechtigte Empörung nicht
beseitigt werden, ändert sich nichts. Dazu gehört auch der Mut,
Israel endlich dazu zu bringen, seine Besatzungspolitik aufzugeben,
die nun schon über Jahrzehnte geht.
Israel muss aber nicht nur besetzte
Gebiete räumen. Auch die Besitznahme
palästinensischen Bodens und seine
israelische Besiedlung ist eine kriminelle
Handlung. Das muss nicht nur aufhören,
sondern rückgängig gemacht werden.
Sonst kehrt dort kein Frieden ein. Diese
Voraussetzungen müssen von Israel
geleistet werden. Aber dieses Auge um
Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen
Politik schaukelt allen Zorn nur noch
weiter hoch, und sorgt dafür, dass immer
neue Bin Ladens mit anderen Namen
nachwachsen.
... Es ist aber für mich auch ein Freundschaftsbeweis
Israel gegenüber, dass ich es mir erlaube, das Land zu kritisieren -
weil ich ihm helfen will. Damit bin ich mir einig mit meinem israelischen
Schriftstellerkollegen Amos Oz und vielen Freunden, die das gleiche in
Israel tun. Solche Kritik aber zu kritisieren - damit muss man
aufhören. Und genauso dumm ist es, Kritik am Krieg in Afghanistan als
antiamerikanisch abzutun. Schließlich verteidigt Amerika Freiheit. Und
Freiheit beginnt mit dem Wort.
Das ganze Interview in SPIEGEL-ONLINE, 10. Oktober 2001
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