Terrorismus oder Krieg?
Von Ernst-Otto Czempiel
Unter dem Titel "Die Globalisierung schlägt zurück" veröffentlichte die Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau die Langfassung eines Vortrags von Ernst-Otto-Czempiel, den er bei den Römerberggesprächen am 3. November 2001 in Frankfurt gehalten hatte. Wir dokumentieren an dieser Stelle den ersten Teil des Beitrags, in dem Czempiel sich mit dem Begriff des Terrorismus auseinandersetzt und beispielsweise die These vertritt, dass es sich bei den Anschlägen vom 11. September nicht um Terrorismus gehandelt habe, sondern um einen kriegerischen Angriff. Damit setzt er sich in Widerspruch zum mainstream der kritischen Friedens- und Konfliktforschung. Czempiels Argumente sind dennoch so nachdenkenswert, dass sie hier dokumentiert werden sollen.
Jeder Versuch einer Deutung des Massenmords vom 11. September 2001 in
Washington und New York muss mit einer Vergewisserung über den Umfang der
Tat beginnen. Sie hat mehreren Tausend völlig unbeteiligten Menschen das Leben
gekostet - eine unvorstellbar große Zahl. Diesen Opfern und ihren Angehörigen gilt
das menschliche Mitgefühl, galten die Kerzen, die in der atlantischen Welt zum
Zeichen der Solidarität entzündet worden sind. Hier ist ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit verübt worden, und die Menschen, nicht nur in der atlantischen
Welt, haben es so empfunden und darauf reagiert.
Mitten im Frieden ist eine Gewalttat verübt worden, die allein schon wegen der Zahl
der Opfer in die Dimension des Krieges gehört. Sie sprengt den herkömmlichen
Begriff des Terrors, dessen Opfer bisher meist zweistellig, höchstens dreistellig zu
zählen waren. Die Untaten des 11. Septembers sind mit einer arbeitsteiligen
Präzision und der Beherrschung hochkomplexer Technologie ausgeführt worden,
die auf eine generalstabsmäßig arbeitende Organisation hindeuten, also auf eine
paramilitärische Einheit. Auch deswegen muss dieser Angriff aus der Luft als
kriegerischer Akt gelten, auch wenn er eben nicht von einem Staat, sondern einem
gesellschaftlichen Akteur ausgeführt worden ist. Es steht zu befürchten, dass am
11. September ein regelrechter Feldzug eröffnet worden ist, in dem weitere Akte
der Gewalt eingesetzt werden könnten.
Die militärische Intervention in Afghanistan, ausgeführt vornehmlich von den USA
und Großbritannien, rechtfertigt sich weniger durch eindeutige Beweise dafür, dass
der gesellschaftliche Akteur in der Organisation Usama Bin Ladins zu finden ist,
als vielmehr aus dem Anspruch auf Vergeltung. Das ist auf den ersten Blick
verständlich, hält aber dem zweiten nicht stand. Natürlich müssen die Schuldigen
gefunden und bestraft werden; sie sitzen aber nicht nur am Hindukusch, sind
schon gar nicht identisch mit den Taliban. Sie müssen dort gesucht und gefunden
werden, wo sie hergekommen sind, in den USA und in Europa. Damit wäre auch
einer weiteren, noch sehr viel wichtigeren Forderung gedient. Es muss vor allem
verhindert werden, dass dieser Akteur einen weiteren Anschlag verübt. Auch das
kann nicht in Afghanistan, sondern nur in den USA und in Europa geschehen. Zwar
wird hier Es wird hier viel unternommen, bei weitem aber nicht mit dem Nachdruck,
dessen sich die militärische Intervention in Afghanistan erfreut.
Drittens muss schließlich darüber nachgedacht werden, warum diese Gewalttat
begangen worden ist. Dazu muss man den Begriff des Terrorismus fallen lassen,
weil er die Antwort schon vorgibt. Terroristische Gewalt wird nur um des Effektes
halber angewendet. Sie ist politisch blind und hat nur ein klar erkennbares
Interesse: das der Gewaltanwendung. "Es ist schwer, die Motive der neuen
Terroristen zu analysieren", schrieb Walter Laqueur 1998, "denn wie lässt sich
Fanatismus quantifizieren?" Diese Resignation sollte unter allen Umständen
aufgegeben werden. Die undifferenzierte Anwendung des Terrorismusbegriffs auf
alle Arten der Gewaltanwendung durch nicht-staatliche Gruppen, erschwert deren
differenzierte Beurteilung und damit deren gezielte Bekämpfung. Umso leichter
kann der pauschalierte Terrorismusbegriff den totalitär-autokratischen Regierungen
als Allzweckargument dienen, jeden Widerstand zu disqualifizieren und damit
jeden Kompromiss zu verweigern.
Stattdessen sollte der Terrorismusbegriff für den Fall reserviert bleiben, auf den er
wirklich zutrifft und in den beiden anderen, wichtigeren Fällen von der Anwendung
physischer Gewalt durch gesellschaftliche Akteure gesprochen werden, die damit
bestimmte, benennbare Zwecke verfolgen. Zum Terrorismus würden dann nur
diejenigen Gewaltakte zählen, die politisch gewissermaßen gesichtslos sind und
einem blinden Drang zur Zerstörung und Vernichtung von Menschenleben folgen. In
diese Kategorie fallen die Zerstörung des Bürohochhauses in Oklahoma City, für
die der Urheber McVeigh im Frühjahr 2001 hingerichtet worden ist, und der
Giftgasangriff der japanischen Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn, für den ebenfalls
viele Todesstrafen verhängt worden sind. Diese Gewaltakte sind Terrorismus pur. In
diese Kategorie fallen wahrscheinlich auch die Milzbrandanschläge in den USA.
Sie verbreiten Terror und erzeugen Angst, aber sie tragen keinerlei politische
Signatur, denn: sie haben kein Publikum.
Ganz anders verhält es sich mit der physischen Gewalt, die gesellschaftliche
Akteure zugunsten konkreter politischer Ziele dann einsetzen, wenn alle anderen,
nicht gewaltsamen Mittel versagt haben. In der Regel findet diese
Gewaltanwendung innerhalb eines Staates statt. Revolutionäre versuchen, eine für
sie untragbar gewordene Regierung zu stürzen; unterdrückte Minderheiten, eine
ihnen aufgezwungene Herrschaft abzuschütteln. Im nationalen oder ethischen
Befreiungskampf wird dann die Sezession angestrebt. Der bewaffnete Widerstand
gegen eine als Besatzung empfundene Fremdherrschaft dient der Herstellung oder
der Wiederherstellung eigenstaatlicher Autonomie. In diese Kategorie der
physischen Gewaltanwendung fallen die Auseinandersetzungen in Nordirland, im
Baskenland, in Korsika, im Kosovo und in den von Israel besetzten Gebieten
Palästinas.
Die die Gewalt proklamierenden und ausübenden Gruppen sind bekannt, ebenso
ihre Führer; sie verfolgen ein klar formuliertes politisches Programm, das sie mit
gewaltsamem Widerstand zu verteidigen und mit der autonomen Anwendung von
Gewalt durchzusetzen versuchen.
Sie werden von der Regierung, gegen die sie sich richten, schnell als Terroristen
bezeichnet, der Begriff dient hier als politische Waffe. Er unterfordert aber die
exakte Situationsanalyse und überbetont die Kompromissverweigerung der
Regierung. Die Widerstandskämpfer der Albaner im Kosovo wurden von Belgrad
ebenso als Terroristen bezeichnet wie die im Westen Mazedoniens operierende
UCK von Skopje. In beiden Fällen verhalfen Eingriffe der NATO diesen "Terroristen"
zur politischen Gleichberechtigung. Der Freiheitskämpfer Nelson Mandela wurde
von Pretoria jahrzehntelang als Terrorist gefangen gehalten, bis er dann zum
Staatspräsidenten aufstieg. Der Präsident der palästinensischen
Autonomiebehörde Arafat wurde jahrzehntelang von Jerusalem als Terrorist
disqualifiziert.
Diese große Gruppe von Gewalttätern sollte nicht pauschal als Terroristen
diskriminiert, sondern als gesellschaftliche Akteure bezeichnet werden, die
zugunsten konkret benannter politischer Ziele Gewalt einsetzen. Die
Gewaltanwendung ist selbstverständlich stets illegal. Sie kann aber sehr wohl
legitim sein und in dieser Perspektive auch den Anspruch auf künftige Legalität
bereits besitzen. Wie beide verteilt sind, kann und muss durch eine sorgfältige
Analyse erhoben werden.
Wie lässt sich der Massenmord vom 11. September 2001 einordnen?
Mit dem Schrecken, den sie in den USA und in der industrialisierten Welt verbreitet
und mit der Anonymität, hinter der sich ihre Urheber versteckt haben, scheint diese
Gewaltanwendung den Begriff des Terrorismus zu rechtfertigen. Dennoch wäre es
falsch, diesen Gewaltakt in die oben erwähnte Kategorie des blinden,
gesichtslosen Terrors einzuordnen. Gerade weil so viele unschuldige Menschen
ums Leben gekommen sind, muss der Gewaltakt gedeutet und nicht durch die
Verwendung des Terrorismusbegriffs gegen jegliche Analyse immunisiert werden.
Mit der Auswahl des World Trade Centers und des Pentagon haben die Gewalttäter
Symbole der USA und der westlichen Welt zerstört, deren Repräsentativität
genauso groß ist wie weiland die der Monarchen, die Attentätern zum Opfer fielen.
Mit Recht muss daher ein politischer Hintergrund vermutet werden. Er muss
unbedingt erhellt werden, damit er politisch bearbeitet werden kann. Dies ist nach
der Verhinderung weiterer Anschläge und der Bestrafung der Täter die dritte
Aufgabe, die der Gewaltakt des 11. September hinterlässt. Es ist bei weitem die
wichtigste und gleichzeitig auch die schwierigste Aufgabe.
Wer diese Gewalttat ausgeführt hat, wissen wir, wer sie angeordnet und organisiert
hat, wissen wir nicht. Dass es Bin Ladin war, ist nur eine Vermutung. Selbst wenn
sie zutrifft, war er es nicht allein, sondern als Teil eines Netzwerks, das sich über
viele Staaten erstreckt. Präsident George W. Bush hat eine Woche nach dem
Anschlag Usbekistan und Ägypten als Staaten genannt, in denen sich solche
Netze befinden. Vermutlich sind sie in mehr als 60 Staaten anzufinden.
Ob die Mitglieder dieser Netze, wenn ihnen die Selbstmordattentätern von New
York und Washington zuzurechnen sind, aus politischen Motiven handelten, lässt
sich nicht feststellen. Individuell können die unterschiedlichsten Ursachen
zusammengeflossen sein, aus denen die Gewaltanwendung erwuchs. Religiöser
oder politischer Fanatismus, individuelle Frustration, Rachegefühle und reine
Mordlust können eine Rolle gespielt haben. Da die Täter ums Leben gekommen
sind, kann nicht mehr geklärt werden, welche Ursachen die einzelnen von ihnen zu
dieser Untat getrieben haben.
Deutlich sichtbar aber sind die Adressaten der Aktion, es sind alle diejenigen, die
sie als richtig und angemessen betrachtet, sie sogar begrüßt haben. Sie sind vor
allem in der arabischen Welt, aber nicht nur dort zu finden. Diese Öffentlichkeiten
bilden die Quelle, die die Bereitschaft zur Gewaltanwendung speist. Sie sind nicht
deren Ursache; sie bleibt, wie erwähnt, unerforschlich. Aber auch der aus diesen
unentwirrbaren Einzelmotiven handelnde Gewalttäter ist darauf erpicht, für seine
Gewalttat Anerkennung bei einer erkennbaren politischen Gruppe zu finden. Sie
bildet sozusagen den Kontext, auf dessen Zustimmung die Gewalttat gesetzt hat.
Von der Größe dieser Zustimmung hängt der politische Erfolg des Gewalteinsatzes
ab. Ist der Konsens marginal, oder fehlt er gar, war die Tat vergebens und wird auf
Dauer nicht wiederholt werden.
In dieser Situation fand sich die RAF in der Bundesrepublik. Ihre mörderischen
Attentate fanden in der deutschen Bevölkerung keinerlei Resonanz; auch ihre
Fortsetzung über eine gewisse Zeit vermochte nicht, diese Zustimmung zu
erzeugen. Daran ist die RAF zusammengebrochen - wozu selbstverständlich die
erfolgreiche Verfolgung der Haupttäter einen unentbehrlichen Beitrag geleistet hat.
Mao Tse Tung hat diese allgemeine Abhängigkeit des politischen Gewalttäters von
der Zustimmung seiner Adressaten in dem Bild der Fische festgehalten, die auf
das Wasser angewiesen sind, um schwimmen zu können. Das Wasser hat die
Fische nicht erzeugt, es hat mit ihnen direkt nichts zu tun, aber es trägt sie. Läuft
es aus oder gibt es kein Wasser, gibt es keine Fische.
An der Reaktion der Umwelt lässt sich ablesen, ob es sich um blinden Terrorismus
oder eine politisch gerichtete Gewalt handelt. Reagieren Öffentlichkeiten einer
kritischen Größe auf die Gewaltanwendung, dann hat sie eine politische Quelle.
Über diesen Kontext seiner Adressaten lässt sich der politische Gewalttäter nicht
nur erkennen, sondern auch beeinflussen. Er ist in seinem Erfolg abhängig von der
Zustimmung jenes Teils der Gesellschaft, an den er sich wendet. Diese
Zustimmung muss nicht von Anfang an vorhanden sein; der politische Gewalttäter
kann versuchen, sie gerade mit seinem Gewaltakt zu erzeugen bzw. zu
vergrößern. Wenn er sie in keiner Weise findet, verkümmert seine Bereitschaft zur
Gewalttat.
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