Terroranschläge: "Ein niederschmetternder Schlag für die Armen und Unterdrückten"
Noam Chomsky im Interview mit einer Schweizerischen Zeitung
Der amerikanische Sprachwissenschaftler und Gesellschaftskritiker Noam Chomsky äussert sich in einem Interview mit der Baseler Zeitung (BaZ) am 21. September 2001 über die Ursachen und Folgen des Terrors und erklärt, wie die USA angemessen auf die Anschläge reagieren könnten. Wir dokumentieren Teile des Interviews.
...
Noam Chomsky: Das Attentat war ein niederschmetternder Schlag für jeden,
der sich gegen konzentrierte Machtstrukturen wendet. Es war ein
niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und
Unterdrückten und alle anderen - weil es ihre legitimen Ängste und Klagen
in
den Hintergrund gedrängt hat. ...
BaZ: Wie hat sich die öffentliche Meinung in den USA nach dem Anschlag
verändert?
Man muss unterscheiden zwischen den Medien und der öffentlichen Meinung.
Die
öffentliche Meinung ist beherrscht vom Schock, von Wut und Angst, aber bei
weitem nicht so uniform und hysterisch, wie die Berichterstattung glauben
macht. Die öffentliche Meinung drückt sich auch anders aus: Im Moment
finden
gerade Hunderte von Teach-ins statt, im ganzen Land. Wenn man den
oberflächlichen Meinungsumfragen glaubt, dann sieht es so aus, als ob eine
Mehrheit will, dass gebombt wird - egal, wer dabei draufgeht. Aber ich
bezweifle, dass eine wirkliche Mehrheit für einen Militärschlag ist.
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BaZ: Was sollten die USA tun?
Es gibt einen klaren Weg, wie man in solchen Fällen zu reagieren hätte. Es
gibt ein internationales Recht, und das wird auch von anderen Ländern
befolgt. Wir sind schon Zeugen von schlimmeren terroristischen
Grausamkeiten
gewesen. Nicaragua beispielsweise musste Mitte der achtziger Jahre schwere
Angriffe durch die USA erleiden. Das Land ist daraufhin vor den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen. Der Gerichtshof hat die
USA
wegen unrechtmässiger Gewaltanwendung verurteilt - ein anderes Wort für
Terrorismus - und sie aufgefordert, Reparationen zu zahlen. Die USA haben
dieses Urteil schlichtweg in den Wind geschlagen, daraufhin hat sich
Nicaragua an den Sicherheitsrat gewandt. Der Sicherheitsrat hat eine
Resolution erlassen, die allen Staaten auferlegt, sich an internationales
Recht zu halten. Die UNO-Vollversammlung hat dies mit überwältigender
Mehrheit unterstützt - mit Ausnahme der USA und Israels. Die USA könnten
den
gleichen Kurs einschlagen - Beweise finden und sie dem Internationalen
Gerichtshof vorlegen.
BaZ: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag urteilt nur über Staaten.
Dass der Gegner diesmal kein Staat ist ...
... macht im Prinzip keinen Unterschied. Es gibt in diesem Fall, in dem es
sehr schwierig ist, Indizien zu finden für das, was passiert ist, umso
mehr
Gründe, nicht einfach blindlings loszuschlagen. Nehmen wir an, jemand
bringt
Ihren Bruder um, und Sie wissen nicht, wer es getan hat. Wenn Sie dann
einfach jeden umbringen, der auf der anderen Strassenseite wohnt, wäre das
die richtige Reaktion?
BaZ: Glauben Sie, dass das Attentat einen historischen Wendepunkt
darstellt?
Ich stimme Leuten zu, die meinen, dass es ein neues Kapitel in der
Geschichte ist. Man muss nur in die Geschichte der USA zurückblicken: Das
ist das erste Mal seit dem Krieg von 1812, dass das Territorium der USA
angegriffen, ja auch nur bedroht worden ist. Seit dieser Zeit haben die
USA
einen grossen Teil der indigenen Bevölkerung ausgerottet, ein Drittel von
Mexiko erobert und sich ausgedehnt, Hawaii und die Philippinen erobert und
haben seit einem halben Jahrhundert weltweit interveniert. So sind wir das
gewohnt: Wir greifen andere an. Jetzt haben sich die Kanonen in die andere
Richtung gedreht.
BaZ: Das heisst, Sie sehen den Anschlag als Reaktion auf die
amerikanische
Nahost-Politik?
Die Attentäter sind eine Kategorie für sich. Aber es gibt keinen Zweifel,
dass sie aus einem grossen Reservoir aus Wut und Angst schöpfen. Das Wall
Street Journal beispielsweise hat, ein paar Tage nach dem Anschlag, eine
Untersuchung durchgeführt, um die Einstellung von reichen Menschen in der
Region zu erfragen: Akademiker, Banker, Geschäftsleute mit Verbindungen zu
den USA. Diese Leute sind im Grunde sehr proamerikanisch. Aber auch sie
haben grosse Vorbehalte gegenüber dem Vorgehen der USA in der Region. Was
befürchten sie? Alles hängt jetzt davon ab, wie die US-Regierung reagieren
wird. Wenn sie bin Ladens Gebete erhört und einen massiven Angriff gegen
Afghanistan oder irgendeine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann
wird genau das passieren, was bin Laden und seine Verbündeten wollen -
eine
Mobilisierung gegen den Westen. Das ist die gleiche Dynamik, die man aus
Nordirland kennt, vom Balkan und aus Palästina. Sie stärkt die repressiven
Kräfte auf beiden Seiten. ...
BaZ: Worum ging es denn den Attentätern bei dem Anschlag?
Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob das Netzwerk von bin Laden
dahinter
steht, aber es scheint plausibel. Die Attentäter sind eine Kategorie für
sich: Das sind Leute, die in den achtziger Jahren durch die US-Regierung
und
den Geheimdienst Pakistans rekrutiert und trainiert, ausgerüstet und
unterstützt wurden, um den Russen grösstmöglichen Schaden zuzufügen.
Natürlich wurden dafür die besten Killer unter Vertrag genommen, die man
finden konnte - und das waren nun mal radikale islamische
Fundamentalisten.
Das eigentliche Ziel dieser so genannten Afghanis war, die Russen aus
Afghanistan zu vertreiben. Nachdem die Russen Afghanistan verlassen
hatten,
haben sie das Land in Schutt und Asche gelegt. Das Ende vom Lied waren die
Taliban. Dieselben «Afghanis» kämpften später auch in Tschetschenien und
anderswo. Ihre Hauptgegner sind heute aber Saudi-Arabien und die Regimes
der
Region, die sie als unislamisch betrachten. ...
BaZ: Seinen Wünschen Folge zu leisten, würde aber doch darauf
hinauslaufen,
die autoritären Regimes der Region - etwa in Saudi-Arabien - durch andere,
noch repressivere zu ersetzen?
Wenn man versucht zu verstehen, was er sagt, heisst das nicht, seinen
Anweisungen zu folgen. Die Frage ist: Was wollen sie? Sie wollen den Nahen
Osten in eine Art islamisch befreite Zone verwandeln - ähnlich, wie es
rechtsradikale Milizen gerne, von ihrer Seite aus, mit den USA machen
würden. ...
...
BaZ: Und wie beugt man solchen Attentaten in Zukunft vor?
Es gibt fast immer Elemente legitimen Grolls in diesen Taten. Man muss
versuchen, deren Ursachen zu reduzieren. Und natürlich muss man die
Attentäter verfolgen. Das ist das, was man tun sollte - wie in jedem
anderen
Fall.
Interview Daniel Bax
Aus: Baseler Zeitung, 21. September 2001
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