Die USA haben kein Recht auf vorsorgliches Töten
Juristische Anmerkungen zum Terrorismus und Staatsterrorismus
Mit dem folgenden Text nimmt der Autor Jörg Arnold Bezug auf einen Aufruf ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, der am 13. Dezember 2001 unter dem Titel "Wir haben es satt" veröffentlicht wurde (vgl. unsere Dokumentation ). Arnolds Artikel, den wir im Folgenden leicht gekürzt dokumentieren, ist im "Freitag" vom 11. Januar 2002 erschienen.
Von Jörg Arnold
...
Kritische Stimmen sind unerwünscht und werden kaum zur Kenntnis
genommen, wie eine Freiburger Juristen-Erklärung zur Achtung des
Völkerrechts (taz / 5.11.2001). Darin hieß es, die völkerrechtliche
Zulässigkeit der Militärschläge gegen Afghanistan stehe entgegen der
Auffassung im Regierungslager nicht fest. Vor allem deshalb nicht, weil die
nach dem 11. September verabschiedeten Sicherheitsratsresolutionen, auf
die immer wieder Bezug genommen wird, gerade keine Grundlage für die
Operationen der USA und ihrer Alliierten darstelle. Der Sicherheitsrat habe
die Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der
UN-Charta nämlich gar nicht festgestellt. Dabei gingen die Freiburger
Juristen noch nicht einmal so weit wie der amerikanische Völkerrechtler
Francis Boyle, der unumwunden von einem "illegalen Krieg gegen
Afghanistan" spricht.
Die Arroganz der Macht, die das Völkerrecht domestiziert, ist ebenfalls
nicht neu. Als die UdSSR 1979 den Krieg gegen Afghanistan begann,
wurde durch die DDR-Machthaber die "Wahrheit" verkündet, es handle sich
um einen durch Artikel 51 der UN-Charta legitimierten Verteidigungskrieg.
Diese "Wahrheit" sei absolut, weiteres Nachdenken überflüssig. Den Aufruf
der DDR-Bürgerrechtler empfinde ich daher nicht zuletzt als Appell an
diejenigen, die erkannt haben, dass es - wie der argentinische
Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel schreibt - auch in der
Demokratie gelungen ist, ein "Einheitsdenken" durchzusetzen. Und ein
juristisches Denken, das sich Herrschaftsstrukturen nicht widerspruchslos
unterwirft, ist insofern ein Mittel, um dem "Einheitsdenken" in der Frage von
Krieg und Frieden zu entrinnen.
Der amerikanische Strafrechtler George Fletcher diskutiert diese Frage
anhand der Differenz zwischen Gerechtigkeit und Krieg und frei von jenem
Zynismus, wie ihn etwa Michael Walzer offenbart, wenn er Krieg als
Chance für die Linke betrachtet, weil der die Leute zwinge, mehr auf die
Rolle des Staates zu achten. Hätte es sich am 11. September um eine
"Kriegserklärung der Terroristen" gehandelt, dann - so Fletcher - sei die
militärische Antwort auf den Schutz vor diesen Terroristen gerichtet. Wenn
man aber nicht von einem "Krieg der Terroristen" sprechen könne, müsse
es um die Herstellung von Gerechtigkeit gehen, die allerdings nicht mit
Krieg, sondern mit einer juristischen Bestrafung der Täter zu erreichen sei.
Ist damit das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Krieg geklärt? Anders
formuliert: Kommt es darauf an, das am 11. September begangene
Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem gewaltsamen Angriff zu
unterscheiden? In einem gerade an der Berliner Humboldt-Universität
gehaltenen Vortrag bejaht der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat
diese Frage. Nach allgemeiner Ansicht - so Tomuschat - habe es sich bei
den Anschlägen nicht um einen Krieg gehandelt. Die Attentäter seien
daher nicht wie Kombattanten in einem bewaffneten Konflikt zu
privilegieren. Vielmehr handele es sich um einen terroristischen Akt, der
durch das Strafrecht geahndet werden müsse.
Kriege werden in der Regel im Namen der Gerechtigkeit geführt. Mit Blick
auf den 11. September wird gar von einem "heiligen Krieg" und
"grenzenloser Gerechtigkeit" gesprochen. Angreifer und Verteidiger können
unter Hinweis auf die Gerechtigkeit ihre Perspektiven beliebig wechseln;
aus dem Angreifer wird der Verteidiger und aus dem wieder der
Angreifende. Ein solcher Gebrauch des Begriffs Gerechtigkeit erscheint
also nicht sehr hilfreich. Sinnvoller könnte es sein - um an den deutschen
Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann anzuknüpfen -, Gerechtigkeit nach
Maßgabe der jeweils bestehenden situativen Umstände zu konkretisieren
und als friedensstiftende Vernunft anzusehen.
Was würde das für die Reaktion auf den 11. September bedeuten? Zum
einen könnte es legitim und gerecht sein, dass auf den Angriff der
Terroristen mit militärischer Gewalt reagiert wird, und zwar dann, wenn es
sich um Notwehr handelt, das heißt, wenn die Gewaltanwendung zur
Abwehr des Angriffs dient, sich also als Verteidigungsmittel erweist.
Legitim ist auch Nothilfe, sprich: die Abwehr eines Angriffs durch einen
anderen. Legitim wären des weiteren militärische Maßnahmen, würde es
sich mit dem 11. September um eine Bedrohung des internationalen
Friedens handeln. Die Legitimität eines solche Krieges muss sich
allerdings strikt im Rahmen der Legalität bewegen. Gerade auf der Ebene
des Völkerrechts gibt es im Kontext Krieg-Frieden keine Legitimität ohne
Legalität.
Für die gegebene Situation bedeutet das: Die Legitimität der militärischen
Maßnahmen ist an die Voraussetzungen gebunden, die in der UN-Charta
verankert sind. Entweder muss der Sicherheitsrat Staaten zum Einsatz
militärischer Gewalt ermächtigen, um eine Bedrohung des internationalen
Friedens abzuwenden (Kapital 7/UN-Charta), oder es liegen die
Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts der USA nach Artikel
51/UN-Charta vor. Der Sicherheitsrat hat jedoch keine Ermächtigung zur
Gewaltanwendung ausgesprochen, sondern lediglich in allgemeiner Weise
bekräftigt, dass die UN-Satzung ein Selbstverteidigungsrecht anerkennt.
Militärschläge gegen die Taleban wären demnach nur dann zulässig,
stünde zweifelsfrei fest, dass diese für die Attentate vom 11. September
verantwortlich und in naher Zukunft weitere schwere Anschläge von
afghanischem Territorium aus denkbar seien, die sich nur durch
militärische Gewalt verhindern ließen. Nicht eine dieser Tatsachen wurden
bisher stichhaltig bewiesen.
Wäre dies der Fall, wäre also Verteidigung damit legal, dann müssten die
Verteidigungsmittel wie auch die militärischen Maßnahmen
verhältnismäßig und begrenzt sein. Das völkergewohnheitsrechtliche
Prinzip der Verhältnismäßigkeit wurde beispielsweise in den Genfer
Rot-Kreuz-Abkommen konkretisiert, die von allen 189 UN-Mitgliedsstaaten
ratifiziert wurden.
Das Völkerrecht kennt weder ein Recht auf Rache, noch auf Vergeltung,
noch auf vorsorgliche Tötung - die schon von daher illegalen
Bombenangriffe der USA und Großbritanniens auf Afghanistan respektieren
nun aber noch nicht einmal den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ius in
bello). Man denke nur an den Einsatz von Streubomben, deren Opfer nicht
selten Zivilisten in einer ohnehin von Landminen verseuchten Region sind.
Hierin drückt sich ein krasser Verstoß gegen die Ziel-Mittel-Relation aus.
Wenn aber die legalen Voraussetzungen einer Selbstverteidigung nicht
gegeben sind und selbst die Mittel der demzufolge illegalen Reaktion - die
ihrerseits noch so legitim erscheinen mag - unverhältnismäßig und gar
untauglich sind, dann bleibt als unmittelbare Reaktion (der Gerechtigkeit)
nach dem 11. September nur die juristische Ermittlung, Verfolgung und
Bestrafung der Täter - dann bleibt nur die Möglichkeit einer begrenzten
internationale Polizeiaktion, für die rechtliche Voraussetzungen vorliegen
müssen (allerdings nicht im Sinne der US-Aktion in Panama gegen
General Noriega Ende 1989, der damals 3.000 Menschen zum Opfer
gefallen sein sollen). Das Vorliegen eines Haftbefehls, der sich auf einen
durch Beweise abgesicherten Verdacht für die Urheberschaft,
Unterstützung oder Ausführung der Terrorakte stützen muss, wäre dabei
eine juristische Selbstverständlichkeit. Ein Tötungsbefehl ohne
Gerichtsurteil kommt einer vorweggenommenen Todesstrafe gleich und
verbietet sich.
Von diesem Grundsatz der juristischen Ermittlung, Verfolgung und
Bestrafung von Terrorismus kann der "Staatsterrorismus" nicht
ausgenommen werden - auch dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Ein
krasser Verstoß gegen die Ziel-Mittel-Relation ist letztlich Ausdruck von
"Staatsterrorismus", wozu auch die Tötung unschuldiger Menschen durch
eine Bombardierung ziviler Einrichtungen des Roten Kreuzes und der UNO
gehört. Zwar ist es ungewöhnlich, den Begriff "Staatsterrorismus" mit
demokratischen Systemen in Zusammenhang zu bringen, zumal eine
juristische Definition bislang fehlt. Aber welcher andere Begriff wäre besser
geeignet, um damit einerseits zumindest der propagandistischen
Beschönigung "Kollateralschäden" zu entgehen und andererseits darauf
hinzuweisen, dass es sich beim Afghanistan-Krieg um die Vernichtung
menschlichen Lebens auch aus geostrategischen und ökonomischen
Interessen handelt? Juristisch gesehen wäre der Begriff der
Kriegsverbrechen heranzuziehen, soweit es um die Unverhältnismäßigkeit
von Kriegsführung geht (auch eine künftige Definition von Staatsterrorismus
wird ihn wohl berücksichtigen müssen).
Die deutsche Regierung, die diesen "Staatsterrorismus" bislang nur
psychisch unterstützt ("uneingeschränkte Solidarität"), setzt sich damit
dem Verdacht auf Beihilfe zu staatsgesteuerten, schweren
Menschenrechtsverletzungen aus. Das besagt das sogenannte
"Weltrechtsprinzip" (§ 6 Nr. 9 StGB), wonach das deutsche Strafrecht
auch bei Verletzung der Genfer Rot-Kreuz-Abkommen zur Verfolgung von
Kriegsverbrechen zur Anwendung kommt. Ein zumindest bedingter Vorsatz
ergibt sich nach deutschem Recht aus einer bewussten,
uneingeschränkten Zustimmung zur Anwendung unverhältnismäßiger
Kriegsmittel. Der Tatbestand aktiver Beihilfe wäre dann erreicht, sollte es
eine Beteiligung - etwa durch die Entsendung von Soldaten - an einem mit
unverhältnismäßigen Mittel geführten Krieg geben. Dies gilt unabhängig
davon, ob ein aktiver Beitrag zur Anwendung dieser Mittel geleistet wird.
Würden sich Juristen der Erkenntnis nicht verschließen, dass nicht nur
diktatorische Systeme, sondern auch die westlichen Demokratien und ihre
Regierungen vor schweren Menschenrechtsverletzungen nicht halt machen,
wäre bereits viel gewonnen. Dann nämlich ließen sich die Bemühungen um
ein Völkerstrafrecht zum Schutz der Menschenrechte und des Friedens
(wie mit dem Rom-Statut zur Errichtung eines Internationalen
Strafgerichtshofs) in eine universelle Richtung lenken, um die bisherigen
Einbahnstraßen zu verlassen. Nicht nur privater, kommerzialisierter
Terrorismus, sondern auch Staatsterrorismus jeglicher Prägung könnte
dann durch die Strafjustiz verfolgt werden.
Dr. Jörg Arnold ist Rechtsanwalt und Privatdozent, er war sowohl in der Justiz
als auch in der Rechtswissenschaft tätig. Heute forscht er unter anderem zu
den Themen staatsgesteuerte Kriminalität und Menschenrechtsschutz durch
Strafrecht (vgl. Freitag: 14/17 und 18/2001). Arnold ist Autor und Herausgeber
des Buches Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am
Beispiel der DDR, Nomos Verlag, Baden-Baden 2000, sowie Verfasser
zahlreicher Veröffentlichungen, unter anderem: Überpositives Recht und
Andeutungen völkerrechtsfreundlicher Auslegung von Strafrecht, in: Festschrift
für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag, Nomos Verlag, Baden-Baden 1999.
Aus: Freitag Nr. 03, 11. Januar 2002
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