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Standortschließungen: Unglück oder Chance?

Von Johannes M. Becker, Privatdozent am Zentrum für Konfliktforschungen der Universität Marburg*

Nun scheint über 100 Kommunen unseres Landes wieder großes Unglück hereinzubrechen. Das Militär zieht ab! Wo man eigentlich Aufatmen oder Freudentränen erwarten sollte, verbreitet sich Friedhofstimmung. Im Vorfeld der Bekanntgabe der Entscheidung des Verteidigungsministeriums waren Bundes- und Landtagsabgeordnete, Landräte und Bürgermeister nach Berlin gefahren, um dort ihrer Sorge Ausdruck zu verleihen über die drohende Schließung von Standorten in ihrem Wahlkreis. Fortfall von Kaufkraft war und ist das dominierende Argument. Es herrscht Frieden im Lande, unser Staat ist seit langen Jahren "von Freunden umzingelt" (H. Kohl), und der Abzug von Militär verbreitet Katastrophenstimmung!

Nun sind Minister Struck und seine Berater nicht einer kurzfristigen Laune verfallen, sondern sie setzen jetzt in praktische Politik um, was seit 1992 als Planung bekannt ist. Seit den Zeiten der Minister Stoltenberg und Rühe hat die Bundeswehr sich eine neue Aufgabe gegeben: Nicht mehr die Landesverteidigung steht in ihrem Aufgabenzentrum, sondern die "Wahrnehmung von Interessen". Diese betreffen bspw. die Versorgung mit Rohstoffen oder die Zugänge zu Märkten. Struck selbst hat dies in die Formel gekleidet von der Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch.

Nun werden deutsche Interessen am Hindukusch nicht mit Truppenmassen und großen Panzermengen verteidigt, sondern mit kleinen, hochmobilen Truppenteilen. Der hochtechnologisierte Helikopter hat den Kampfpanzer mit den dazu gehörigen Truppenmassen abgelöst: Die Bundeswehr wird quantitativ abgerüstet. Auch die EU hat dem Rechnung getragen. Zum einen hat sie bereits 1992 in den Maastricht-Verträgen die Realisierung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) begonnen. Und sie hat dies nach dem wenig kollegialen Umgang der USA mit ihren westeuropäischen "Partnern" im Jugoslawienkrieg 1999 durch den Beschluss zum Aufbau der 60.000 Mann starken hochmobilen "Schnellen Eingreiftruppe" eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dies alles müssen Bürgermeister, Landräte und Abgeordnete wissen. Seit zwölf Jahren.

Zum zweiten ist das Verschwinden jeglicher Konversionsüberlegungen aus der sozialdemokratisch-grünen Sicherheitspolitik zu beklagen, ja, dieser Bazillus hat auch die Gewerkschaften erfasst. Ein von einem deutschen Arbeitnehmer gebauter oder bedienter Panzer scheint ein guter Panzer zu sein. Die herrschende Politik zieht die Kaufkraft von Kasernenbewohnern der Kaufkraft von bspw. lebenslangen Fortbildnern, qualifizierten Altenbetreuern oder Radwegebauern vor. Rüstung und Kriegführen sind im deutschen Massenbewusstsein als "normaler" Politikvollzug verankert; die Bundesrepublik hat ihre von Zivillogik dominierte Nachkriegsphase beendet und ist ein "normaler" interventionsbereiter Staat geworden. Die (nicht stattfindende) Diskussion über die Rüstungsbestimmungen in der EU-Verfassung, über die Ausschaltung des EU-Parlaments und der Verfassungsgerichtsbarkeit bezeugen dies deutlich. Die Verlängerung von Mandaten für Auslandseinsätze der Bundeswehr läuft mittlerweile ohne jeden Reibungsverlust ab. Die debakulösen Folgen des Jugoslawien- oder auch des Afghanistankrieges werde nicht mehr öffentlich diskutiert. Betreffend Jugoslawien wird problematisiert, ob Minister Struck über den Tod eines Menschen im Bundeswehreinsatzgebiet informiert war oder nicht. Nicht mehr diskutiert werden die Folgen der deutschen Anerkennungs- sprich: Separationspolitik zu Beginn der 90er Jahre, nicht mehr die grausamen Folgen des Bombardements von 1999.

Aus Marburg ist indes zu berichten, dass die Stadt durch den Fortzug eines Divisionsstabes und zweier Bataillone in den 70ern und 80er Jahren enorm gewonnen hat. Nicht nur, dass Militär-LKW den Stadtverkehr nicht mehr belasten, dass militärische Uniformität dem farbeifrohen studentischen Flair gewichen ist. In den großenteils vorbildlich sanierten Kasernen haben Studierende, haben Wohngemeinschaften oder Alleinerziehende Wohnraum gefunden; vor allem das Marburger Südviertel hat enorm an Lebensqualität gewonnen. In einer der konvertierten Kasernen hat gar ein Denkmal für den zivilen Widerstand gegen den deutschen Faschismus seinen Platz gefunden.

* Der Beitrag, den uns Johannes M. Becker freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, erschien am 2. November in der Frankfurter Rundschau


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