Münchner Sicherheitskonferenz 2002: "Der 11. September hat alles verändert"
Rede des Stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz
Im Folgenden dokumentieren wir die Rede des Stellvertretenden Verteidigungsministers Paul Wolfowitz bei der 38. Münchner Konferenz zur Sicherheitspolitik vom 2. Februar 2002.
...
Vor zehn Jahren, am Ende des Kalten Kriegs, sagten viele Menschen auf
beiden Seiten des Atlantiks, wir bräuchten die NATO nicht mehr. Einige sagten,
die Bedrohung sei verschwunden. Andere sagten, das amerikanische Engagement in
europäischen Sicherheitsangelegenheiten sei nicht länger erforderlich.
Zehn Jahre später ist die NATO weiterhin der Schlüssel für Sicherheit und
Stabilität in Europa, vor allem auf dem Balkan. Präsident Bush erklärte
bereits letzten Juni in Warschau: "Wir sind zusammen auf den Balkan
gegangen, und wir werden zusammen zurückkommen." Und jetzt hat die NATO
zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall erklärt - nicht wegen eines
Angriffs auf Europa, sondern weil die Vereinigten Staaten von Terroristen
angegriffen wurden, die vom Ausland aus operieren.
Nach den Anschlägen vom 11. September können diejenigen, die die NATO in
Vergessenheit geraten lassen wollten, nicht länger den Wert dieses
Bündnisses von Nationen bezweifeln, die sich der Freiheit verschrieben
haben. Der andauernde Krieg gegen den Terror unterstreicht, dass unsere
transatlantischen Bande nicht veraltet sind Sie sind unerlässlich.
Die Antwort der NATO auf den 11. September beweist, dass dieses Bündnis
von
Demokratien mit Unsicherheit und unerschlossenem Terrain umgehen kann.
In unserem Krieg gegen den Terror ernten wir die Früchte über 50-jähriger
gemeinsamer Planung, Ausbildung und gemeinsamer Operationen im Rahmen der
NATO.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses helfen AWACS der NATO bei
der Überwachung des amerikanischen Luftraums, um weitere Terroranschläge
zu
verhindern. Sieben NATO-AWACS, die vom Luftwaffenstützpunkt Tinker aus
starten, patrouillieren den Luftraum über den Vereinigten Staaten und
nehmen
so unserer eigenen AWACS-Flotte eine beträchtliche Last ab, die durch
Einsätze auf zwei Kriegsschauplätzen ziemlich belastet ist. In Afghanistan
tragen einzelne NATO-Länder zusammen mit vielen anderen aus der ganzen
Welt
zu den Kriegsbestrebungen und zum Wiederaufbau nach dem Sturz des
Taliban-Regimes bei.
Unsere Partner haben allein nach Afghanistan 3.500 Soldaten zur Operation
Enduring Freedom und zur Internationalen Schutztruppe für Afghanistan in
Kabul entsandt - das ist nahezu die Hälfte der zurzeit im Land
befindlichen
8.000 nichtafghanischen Truppen. Weil wir absichtlich darauf bedacht
waren,
unsere Präsenz in diesem Land gering zu halten, haben wir tatsächlich sehr
viel mehr Hilfsangebote erhalten, als wir bisher annehmen könnten. Aber
machen Sie sich keine Sorgen - der Feldzug ist noch lange nicht beendet.
27 Koalitionspartner arbeiten jetzt im Central Command Headquarters der
Vereinigten Staaten in Tampa zusammen, und 16 Nationen dienen Seite an
Seite
auf dem Kriegsschauplatz. Die meisten von ihnen sind NATO-Bündnispartner.
Weitere 66 Nationen haben während des Feldzugs Unterstützung in
unterschiedlicher Form gewährt. Und ohne die Unterstützung und Hilfe einer
Reihe von Ländern in der Region, allen voran Pakistan, hätten wir
unmöglich
das erreichen können, was wir bisher erreicht haben.
Heute möchte ich mich kurz auf vier Fragen konzentrieren, die von
Bedeutung
sind, wenn wir die uns heute konfrontierenden Sicherheitsherausforderungen
ansprechen:
-
Erstens, was haben wir aus den Ereignissen des 11. September gelernt?
-
Zweitens, was können wir aus dem bisherigen Verlauf des Kriegs gegen den
Terrorismus lernen?
-
Drittens, wie können wir die Koalition gegen den Terrorismus ausdehnen,
besonders in der muslimischen Welt?
-
Und viertens, wie können wir eine stärkere Sicherheitsgrundlage für das
21.
Jahrhundert schaffen?
Viel zu lange hat die internationale Gemeinschaft Terrorismus wie eine
hässliche Tatsache des internationalen Lebens behandelt, eine Tatsache mit
tragischen und manchmal schrecklichen Konsequenzen, aber eine, mit der wir
leben können. Häufig wurde Terrorismus einfach als ein Problem der
Strafverfolgung angesehen. Das Ziel war, die Terroristen zu fangen, sie
anzuklagen und zu bestrafen in der Hoffnung, damit andere Terroristen
abzuschrecken, aber das war nicht der Fall. Es wurde oft von Vergeltung
gesprochen, aber selten gehandelt. Und wenn gehandelt wurde, war es
häufiger
gegen die unteren Chargen der Terroristen gerichtet als gegen diejenigen,
die letztlich verantwortlich waren.
Der 11. September hat das alles verändert. An diesem Tag haben wir zu
einem
enormen Preis gelernt, dass das Problem über Verbrechen und Bestrafung
hinausgeht. Die Anschläge dieses Tages demonstrieren nicht nur das
Scheitern
vorheriger Ansätze, sondern sie unterstreichen auch die Gefahren, denen
wir
uns gegenübersehen werden, wenn wir weiterhin mit dem Terrorismus leben.
Was
am 11. September geschah, ist - so schrecklich es auch war - nur ein
kleiner
Vorgeschmack dessen, was geschehen wird, wenn Terroristen
Massenvernichtungswaffen einsetzen.
Unser Ansatz muss sich auf Prävention und nicht nur auf Bestrafung
konzentrieren. Wir befinden uns im Krieg. Selbstverteidigung erfordert
Prävention und manchmal Präventivmaßnahmen. Man kann sich nicht gegen jede
Bedrohung an jedem Ort zu jeder denkbaren Zeit verteidigen. Die einzige
Verteidigung gegen den Terrorismus ist, den Krieg zum Feind zu bringen.
Der
große Vorteil der Terroristen ist ihre Fähigkeit, sich nicht nur in den
Bergen Afghanistans, sondern auch in den Städten Europas und der
Vereinigten
Staaten zu verstecken. Wir müssen sie unbarmherzig jagen, aber wir müssen
ihnen auch die Zufluchtsorte verweigern, an denen sie sicher planen und
organisieren können, und ihnen die finanziellen und materiellen Ressourcen
entziehen, die sie für ihre Einsätze benötigen. Verteidigungsminister
Rumsfeld hat gesagt: "Wir müssen den Sumpf austrocknen", in dem sie
leben.
Keiner, der die Bilder des 11. September gesehen hat, kann bezweifeln,
dass
unsere Antwort breit gefächert sein muss. Genauso wenig sollte irgend
jemand die sehr viel größere Zerstörung bezweifeln, die Terroristen mit
stärkeren Waffen anrichten könnten. Wie Präsident Bush festgestellt hat,
deutet das in den Höhlen Afghanistans Gefundene das Ausmaß dessen an, was
uns drohen könnte: Diagramme amerikanischer Kernkraft- und Wasserwerke,
Karten unserer Städte und Beschreibungen von Wahrzeichen, nicht nur in
Amerika, sondern auf der ganzen Welt, zusammen mit detaillierten
Anweisungen
für die Herstellung von Chemiewaffen.
Seit dem 11. September ist uns klar geworden, was Terroristen mit
Verkehrsflugzeugen machen können - etwas, das davor in weiter Ferne
liegend
und hypothetisch erschien. Wir können es uns nicht leisten zu warten, bis
uns klar wird, was Terroristen mit Massenvernichtungswaffen machen können,
bevor wir einschreiten, um das zu verhindern.
Angesichts dieser Gefahr müssen die Länder eine Entscheidung treffen.
Diejenigen, die für Frieden, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit
eintreten -
die große Mehrheit der Länder der Welt - sind mit uns in diesem Kampf
zwischen Gut und Böse vereint. Die Länder, die sich dafür entscheiden,
Terrorismus zu tolerieren und sich weigern, Maßnahmen dagegen zu ergreifen
oder - schlimmer noch - die Länder, die ihn weiterhin unterstützen,
werden
Konsequenzen zu fürchten haben. Wie Präsident Bush eindeutig klargestellt
hat, weiß jetzt jede Nation, dass wir Staaten nicht akzeptieren können und
werden, die die Agenten des Terrors finanzieren, ausbilden oder ausrüsten.
Sie sind gewarnt worden; sie werden beobachtet, und sie werden zur
Rechenschaft gezogen.
Was können wir aus dem bisherigen Verlauf des Kriegs gegen den Terrorismus
lernen?
Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld haben wiederholt betont,
dass der Krieg gegen den Terrorismus ein langer Kampf werden wird. Obwohl
in
Afghanistan und bei der Bekämpfung der Terrorzellen weltweit schon sehr
viel
geleistet worden ist, bleibt selbst dort noch sehr viel zu tun.
Deswegen ist es vielleicht ein wenig vorzeitig, schon Schlussfolgerungen
zu
ziehen. Dennoch glaube ich, dass bereits wichtige Lektionen aus dem
bisherigen Feldzug gezogen werden können.
Von Anfang an hat Verteidigungsminister Rumsfeld die Bedeutung der
richtigen
Festsetzung der wichtigsten Ziele und der wichtigsten Konzepte der
Operation
betont. Vor kurzem hat er eine Liste der Konzepte erstellt, die für unsere
Aktionen bisher von entscheidender Bedeutung waren. Es ist in der Tat eine
lange Liste, aber ich möchte heute einige der wichtigsten Punkte mit Ihnen
erörtern.
Eines unserer bedeutendsten Konzepte betrifft das Wesen von Koalitionen in
diesem Feldzug und die Idee, dass, "die Mission die Koalition bestimmen
muss, und nicht andersherum." Ansonsten wird die Mission, wie der Minister
sagt, "auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner" reduziert.
Als Nebeneffekt wird es nicht eine einzige Koalition geben, sondern
vielmehr
verschiedene Koalitionen für verschiedene Missionen, die der Minister als
"flexible" Koalitionen bezeichnet.
In der Tat bestand unsere Politik in diesem Krieg darin, von anderen
Länder
Hilfe anzunehmen auf der für sie am besten geeigneten Basis. Einige werden
uns öffentlich zur Seite stehen; andere werden stille und diskrete Formen
der Zusammenarbeit wählen. Wir sind uns bewusst, dass es am besten für
jedes
Land ist, seine Hilfsleistungen selbst festzulegen und nicht wir das tun.
Letztlich maximiert das ihre Zusammenarbeit und unsere Effektivität.
Unser vielleicht wichtigster Koalitionspartner ist das afghanische Volk
selbst. Wir haben den Wunsch des afghanischen Volks unterstützt, von den
Taliban und den ausländischen Terroristen befreit zu werden, die so viel
Zerstörung über das Land gebracht haben. Und vom allerersten Tag an haben
wir die Betonung auf humanitäre Einsätze als Teil unserer militärischen
Bestrebungen gelegt.
Ein weiteres Konzept war, nichts auszuschließen, einschließlich des
Einsatzes von Bodentruppen. Von Anfang an war uns klar, dass dies kein
antiseptischer "Krieg mit Marschflugkörpern" werden würde. Wir waren zum
Einsatz von Bodentruppen bereit, wo und wann es erforderlich war.
Dieser Feldzug war militärisch erst wirklich erfolgreich, als wir
Sonderbodentruppen einsetzten, die die Effektivität der Luftschläge
drastisch verbesserten. Wir sahen mit Gewehren bewaffnete Soldaten zu
Pferd
mit hochmodernen Kommunikationsmitteln Luftschläge 50 Jahre alter Bomber
dirigieren. Als Journalisten Verteidigungsminister Rumsfeld über die
Wiedereinführung der Pferdekavallerie aus dem 19. Jahrhundert in einem
modernen Krieg befragten, sagte er: "Das ist alles Teil meines
Umgestaltungsplans."
Wie können wir die Koalition gegen den Terrorismus ausdehnen, besonders in
der muslimischen Welt?
Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht nur der Kampf der westlichen
Länder, sondern der Kampf all derer, die sich Frieden und Freiheit auf der
Welt wünschen, insbesondere in der muslimischen Welt selbst. Aus meiner
eigenen Erfahrung als amerikanischer Botschafter in Indonesien, dem Land
mit
der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, weiß ich, dass die große
Mehrheit der Muslime auf der Welt nichts mit den extremen Doktrinen
anfangen
kann, die von Gruppen wie der Al Qaida und den Taliban vertreten werden.
Im
Gegenteil, sie verabscheuen den Terrorismus und die Tatsache, dass die
Terroristen nicht nur Flugzeuge entführten, sondern auch versuchten, eine
der bedeutenden Weltreligionen für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen.
Um den Krieg gegen den Terror zu gewinnen, müssen wir uns an die hunderten
von Millionen gemäßigter und toleranter muslimischer Bürger der Welt
wenden,
auch in der arabischen Welt. Sie stehen im Kampf gegen den Terrorismus an
vorderster Front. Indem wir ihnen helfen, sich den Terroristen furchtlos
zu
widersetzen, helfen wir uns selbst. Und, was ebenso wichtig ist, wir
helfen
die Grundlagen für eine bessere Welt zu schaffen, nachdem der Kampf gegen
den Terror gewonnen ist.
Unser Ziel muss mehr sein als nur der Sieg über die Terroristen und die
Zerschlagung der terroristischen Netze. Präsident Bush sagte in seinem
Bericht zur Lage der Nation: "...in dieser Zeit des Krieges haben wir eine
große Chance, die Welt zu den Werten zu führen, die dauerhaften Frieden
mit
sich bringen werden... Amerika", sagte der Präsident, "wird die Partei der
mutigen Männer und Frauen ergreifen, die für diese Werte auf der ganzen
Welt
eintreten, einschließlich der islamischen Welt, weil wir ein größeres Ziel
als die Beseitigung von Bedrohungen und die Eindämmung von Ressentiments
haben. Wir möchten eine gerechte und friedliche Welt über den Krieg gegen
den Terror hinaus."
Kein Staatschef hat im Kampf gegen den Terrorismus größere Risiken auf
sich
genommen als Präsident Muscharaf aus Pakistan, und für kein Land steht in
diesem Kampf mehr auf dem Spiel.
Und hier in der NATO haben wir einen Bündnispartner - die Türkei - der ein
Beispiel für das Streben der muslimischen Welt nach demokratischem
Fortschritt und Wohlstand ist. Auch die Türkei verdient unsere
Unterstützung. Diejenigen, die die Türkei wegen ihrer Probleme
kritisieren,
verwechseln Problematisches mit Grundlegendem, konzentrieren sich zu sehr
darauf, wo die Türkei heute steht und ignorieren, in welche Richtung sie
sich entwickelt.
Das Grundlegende ist der demokratische Charakter der Türkei. Eine Türkei,
die ihre gegenwärtigen Probleme überwinden und die Fortschritte fortsetzen
kann, die das Land im Laufe des letzten Jahrhunderts gemacht hat, kann ein
Vorbild für die gesamte muslimische Welt werden - ein Beispiel für die
Möglichkeit, religiösen Glauben mit modernen säkularen demokratischen
Institutionen in Einklang zu bringen.
Indonesien ist ein weiteres wichtiges Beispiel für ein Land, das versucht,
eine demokratische Regierung auf einer Kultur der Toleranz aufzubauen.
Und wir benötigen mehr Erfolgsbeispiele in der arabischen Welt selbst.
Wenn
Länder sich um Fortschritte bemühen, wie Jordanien und Marokko es tun,
brauchen sie unsere Unterstützung. Es ist kein Zufall, dass Jordanien
heute
einen der größten Beiträge zur Koalition in Afghanistan leistet, oder dass
König Abdullah den Terrorismus in klaren und von Herzen kommenden Worten
verurteilt. Und unsere Unterstützung sollte sich über die Regierungen
hinaus
auf die "mutigen Männer und Frauen" erstrecken, von denen Präsident Bush
sprach.
So schwierig es auch sein mag, inmitten dieser großen Anstrengung an
andere
Herausforderungen zu denken, müssen wir doch über den Krieg gegen den
Terrorismus hinausdenken, wenn wir eine solide Grundlage für Frieden und
Sicherheit in diesem Jahrhundert schaffen wollen. Die Stärkung und
Erweiterung der NATO und der Aufbau neuer Beziehungen zu Russland sind der
Schlüssel zur Schaffung dieser Grundlage in Europa.
Vorigen Juni in Warschau betonte Präsident Bush die Bedeutung der
"NATO-Mitgliedschaft für alle Demokratien Europas, die sie anstreben und
bereit zur Übernahme der mit dem NATO-Beitritt einhergehenden Pflichten
sind." Dies ist heute ebenso wichtig wie vor dem 11. September.
Im Gegensatz zu den düsteren Prophezeiungen, die wir damals - bei der
ersten
Runde der NATO-Erweiterung - hörten, wurde mit dieser Runde keine neue
Mauer
durch die Mitte Europas gezogen. Es wurden neue Strukturen aufgebaut, aber
diese Strukturen sind Brücken, keine Mauern.
Bei unseren Planungen für den Gipfel in Prag sollten wir auf den Appell
von
Präsident Bush hören und "nicht berechnen, mit wie wenig wir davonkommen,
sondern, wie viel wir tun können, um die Sache der Freiheit
voranzubringen".
Alle Länder, die die NATO-Mitgliedschaft anstreben, müssen ernsthaft daran
arbeiten, die Standards der Mitgliedschaft zu erfüllen, und diese
Standards
sollten hoch bleiben. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass die Erweiterung
der NATO die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa gestärkt hat. Alle
Länder haben von diesem Prozess profitiert, einschließlich Russlands.
Heute haben wir außerdem die historische Chance, neue Beziehungen zu
Russland aufzubauen. Vor kurzem haben die Vereinigten Staaten und Russland
einen neuen Dialog aufgenommen, mit dem neue strategische Beziehungen
ausgearbeitet werden.
Wir haben eine bewusste Entscheidung getroffen, uns über auf der Bewahrung
der gegenseitigen Androhung massiver nuklearer Zerstörung beruhende
Beziehungen hinauszubewegen und uns stattdessen auf gemeinsamen
Sicherheitsinteressen beruhende Beziehungen hinzubewegen: auf Beziehungen,
die zwischen sich nicht mehr als tödliche Rivalen betrachtenden Staaten
normal sind. Bei unserer Entwicklung normaler, gesunder Beziehungen
konnten
wir die Ängste der Vergangenheit beschwichtigen und den radikalen Abbau
der
nuklearen Streitkräfte - ein Vermächtnis des Kalten Kriegs - planen.
Die NATO als Bündnis spielt eine entscheidende Rolle bei der Integration
Russlands in die Rahmenvorgaben der europäischen Sicherheit. In der
gemeinsamen Erklärung, die sie bei ihrem Treffen im November in Crawford
(Texas) abgaben, bestätigten Präsident Bush und Präsident Putin ihre
Entschlossenheit, "mit der NATO bei der Verbesserung, Stärkung und
Erweiterung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland
zusammenzuarbeiten".
Die NATO hat diese Gelegenheit ergriffen, als sie sich entschied,
Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Russland und einem Bündnis mit
20
Mitgliedern zu finden. Es ist wichtig, mit praktischen, konkreten Formen
der
Zusammenarbeit zu beginnen, die auf den gemeinsamen Sicherheitsinteressen
der NATO und Russlands aufbauen. Während die NATO und Russland wo immer
möglich zusammenarbeiten, ist auch die Bewahrung der Fähigkeit der NATO
von
entscheidender Bedeutung, bei wichtigen Sicherheitsfragen unabhängig zu
entscheiden und zu handeln.
Bei der Erweiterung der NATO und beim Aufbau neuer Beziehungen zu Russland
dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass die NATO im Grunde ein
Militärbündnis ist. Die Glaubwürdigkeit und Fähigkeit der NATO, einen
Krieg
zu verhindern, hängt entscheidend von ihrer militärischen Stärke ab.
Ein Schlüsselziel für den Gipfel in Prag wäre die Einführung einer Agenda
für die Umgestaltung des Militärs. Eine Agenda, die tiefgreifende
Auswirkungen haben kann. Im Kalten Krieg waren unsere Streitkräfte auf
konkrete geographische Ziele gerichtet. Dennoch kam der einzige den
Bündnisfall auslösende Angriff in der Geschichte der NATO von einer
unerwarteten Quelle, in unerwarteter Form. Das zeigt uns, dass unsere
alten
Annahmen, unsere alten Pläne und unsere alten Fähigkeiten überholt sind.
Bedrohungen, die unter Artikel 5 fallen, können von überall und in vielen
Formen kommen .
Statt zu versuchen zu erraten, mit welchem Feind das Bündnis in Jahren
oder
Jahrzehnten konfrontiert sein wird, oder wo dies geschehen könnte, sollten
wir uns auf die Fähigkeiten konzentrieren, die unsere Gegner gegen uns
verwenden könnten, auf den Ausgleich der eigenen Schwächen und die Nutzung
neuer Fähigkeiten zur Stärkung unserer militärischen Vorteile. Dies ist
die
Quintessenz einer fähigkeitsorientierten Vorgehensweise bei der
Verteidigungsplanung.
Wir befinden uns in einer neuen Zeit, sehen uns neuen Gefahren gegenüber,
und wir benötigen neue Fähigkeiten.
Abschließend möchte ich betonen, dass der Kern des Erfolgs der NATO und
ihrer Fähigkeit, unter erheblich veränderten Umständen und über eine so
lange Zeit eine solch entscheidende Rolle zu übernehmen, nicht nur ihre
militärische Stärke ist, sondern es sind auch die Werte, die diesem
Bündnis
zu Grunde liegen. Was Ronald Reagan einmal den "instinktiven Wunsch eines
Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung" nannte, hat in den letzten 20
Jahren außergewöhnliche und wunderbare Veränderungen herbeigeführt - das
Ende des Kalten Kriegs und der tragischen Teilung Europas sowie den
Untergang totalitärer und autoritärer Regime auf beiden Seiten der
Trennlinie des Kalten Kriegs. Und heute ist der Wunsch nach Freiheit eine
Macht im Krieg gegen den Terrorismus.
Die Demokratien der Welt regieren mit Rechtsstaatlichkeit und dem
Einverständnis des Volkes. Die Taliban regierten - wie andere Tyrannen
auch
- mit Terror. Es ist kein Zufall, dass jeder Staat, der den Terrorismus
unterstützt, auch sein eigenes Volk terrorisiert.
Und das ist eine ihrer grundlegenden Schwächen.
Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung hat das Bündnis seit nunmehr
einem halben Jahrhundert zusammengehalten. Präsident Reagan sagte am 40.
Jahrestag der Invasion der Alliierten in der Normandie: "Wir sind heute
den
gleichen Loyalitäten, Traditionen und Überzeugungen verbunden, denen wir
[damals] verbunden waren. Wir waren damals auf Ihrer Seite, wir sind heute
auf Ihrer Seite. Ihre Hoffnungen sind unsere Hoffnungen, und Ihr Schicksal
ist unser Schicksal."
Diese Geisteshaltung ist auch zwanzig Jahre später lebendig und stark. Ich
hatte erst vor einigen Tagen die Ehre, Mannschaftsmitglieder des deutschen
Zerstörers, der Luetjens zu treffen. Nur zwei Wochen nach dem 11.
September
bat der Zerstörer Luetjens im Ärmelkanal um Erlaubnis, längsseits der USS
Winston Churchill zu gehen. Als die Luetjens nah genug gekommen war, waren
die amerikanischen Matrosen zutiefst bewegt, eine amerikanische Flagge auf
Halbmast wehen zu sehen. Als sie noch näher kam, konnten unsere Männer die
gesamte Mannschaft der Luetjens in ihrer Galauniform an Deck sehen, wo sie
ein handgemaltes Schild zeigten, auf dem stand: "Wir stehen an eurer
Seite".
Ein junger amerikanischer Marineoffizier nannte es "das Bewegendste, was
ich
in meinem ganzen Leben gesehen habe" und schrieb nach Hause: "...es blieb
kein Auge trocken, als sie einige Minuten längsseits lagen, und wir
salutierten... Die deutsche Marine hat für diese Mannschaft etwas
Unglaubliches getan... Die in ganz Europa und auf der Welt demonstrierte
Verbundenheit zu sehen, macht uns alle stolz, hier zu sein und unsere
Arbeit
zu tun."
Als Bündnis waren wir nie stärker. Wir waren nie geschlossener. Wir waren
nie entschlossener, gemeinsam voranzugehen. Lassen Sie uns diese Reise mit
dem Versprechen der Matrosen eines Bündnispartners an die Matrosen des
anderen machen: "Wir stehen an eurer Seite."
Vielen Dank.
Originaltext: Remarks of Deputy Secretary of Defense Paul Wolfowitz at
38th Munich Conference on Security Policy
Zu anderen Berichten von der Sicherheitskonferenz
Zurück zur Homepage