Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die Bundeswehr kann kämpfen und führen"

Verteidigungsminister Thomas de Maizière auf der Münchner "Sicherheitskonferenz" - Über "smart defence", Raketenschirm und Europas Streitkräfte *

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung

Auszüge aus der Rede

(...) Die Blockkonfrontation ist Vergangenheit. Und doch stehen wir gerade in diesem Jahr vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Ich muss sie vor diesem Kreis nicht näher erläutern, nur nennen:
dynamische und asymmetrische Bedrohungen, Entwicklungen in der arabischen Welt, keine Fortschritte im Nah-Ost Konflikt, iranisches Atomprogramm, Terrorismus, Afghanistan und seine Nachbarn, Korea, failed states, neue Sorgen im Westen Afrikas u.s.w.

Und die verfügbaren finanziellen Mittel, diesen Herausforderungen zu begegnen, sind begrenzt, oder nehmen sogar ab. Die Finanz- und Staatsschuldenkrise belastet die Haushalte und damit unweigerlich auch die Verteidigungsbudgets beiderseits des Atlantiks.


Die vollständige Rede von Thomas de Maizière im livestream: www.securityconference.de



Die Art und Weise, wie wir mit dieser Situation umgehen, wird die Zukunft der NATO und auch die Zukunft der EU maßgeblich prägen.

„Die Rolle Deutschlands in der Welt“ – unter diesem Gesichtspunkt wollen wir die aktuellen Herausforderungen in unserem ersten Panel diskutieren.

Lange Zeit wäre alleine diese Fragestellung, insb. die Frage nach der militärischen Rolle oder Verantwortung Deutschlands, einem Tabubruch gleichgekommen. (...)

Bis 1990, das kann ich so offen sagen, dominierte in Deutschland durchaus die Vorstellung, Bündnis hieße zuvorderst, Deutschland profitiert von einer Sicherheitsgarantie (hauptsächlich) unserer amerikanischen Freunde (und unserer west-europäischen Nachbarn). Wir nehmen viel und geben wenig. Allerdings war der Raum, auf den sich das Scheitern der Abschreckung ausgewirkt hätte, auch Deutschland. Und ebenso offen will ich sagen, dass vielen unserer Bündnispartner eine starke ökonomische Rolle der Bundesrepublik Deutschland, aber gleichzeitig eine schwache sicherheitspolitische Rolle durchaus Recht war.

Das alles ist vorbei (wenn auch vielleicht noch nicht in allen Köpfen). Viele unsere Partner sehen uns längst als „gleichberechtigten“ und damit auch „gleichverpflichteten“ Partner an. In Europa wird im übrigen im Moment eher über zu viel deutsche Führung (als über zu wenig deutsche Führung) die Stirn gerunzelt.

Als bevölkerungsreichstes Land, stärkste Volkswirtschaft Europas und dritt-stärkste Exportnation der Welt, sind wir besonders von internationaler Stabilität abhängig.

Wir tragen aber auch längst selbst erheblich zur Stabilität bei. Seit 1990, seit der Wiedererlangung der vollen Souveränität, hat unser Land ziemlich schnell einen langen Weg zurückgelegt. Wir nehmen aus guten Gründen schon jetzt mehr internationale Verantwortung wahr als wir es manchen unserer Bürger vermitteln können. Mentalitäten verändern sich langsamer als die Lage.

Heute leisten über 7000 deutsche Soldatinnen und Soldaten auf drei Kontinenten ihren Dienst. Seit 1991 waren über 300.000 Soldaten im Einsatz. In Afghanistan haben wir als einzige Nation außer den USA seit 2007 die Führung einer Region des RC North inne. Wir sind einer der größten Truppensteller. Die Bundeswehr kann kämpfen und führen. Wir beteiligen uns aktiv und nachhaltiger als andere an der Operation ATALANTA.

Im Kosovo mit KFOR haben wir auch eine anerkannte Führungsrolle. Wir brauchen unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Gerade wir Deutschen wissen dabei: wir sind nur so stark, wie die Bündnisse, in denen wir uns bewegen. Und das gilt auch umgekehrt.

Bei seiner Brüsseler Abschiedsrede richtete Robert Gates recht deutliche Worte an die europäischen NATO-Partner. Er sprach – viele von Ihnen werden sich lebhaft erinnern – von einer drohenden „collective military irrelevance“.

(...)

Amerikas Aufforderung an die Europäer, „nicht mehr nur zuzuschauen, sondern eine Rolle in diesem großen Weltringen zu spielen“ (so Präsident Kennedy im Jahr 1962) ist heute so aktuell wie früher. Aber sie ist eben historisch nicht einmalig. Seit Bestehen der NATO diskutieren wir mit leicht klagendem Ton über burden sharing. Ich bin hier für Nüchternheit, für Diskussionen, aber bitte ohne klagenden Unterton.

Auch Amerika richtet seine Streitkräfte neu aus und muss sparen. Nicht zuletzt durch die verstärkte strategische Ausrichtung der Amerikaner in Richtung Pazifik wird Europa künftig stärker für die eigene Sicherheit sorgen müssen – ob Europa das will oder nicht. Der Abzug von Kampfbrigaden der USA aus Europa ist für mich als deutscher Verteidigungsminister jedoch kein Grund zur Klage.

Erstens, bleiben viele US-Soldaten in Deutschland. Jeder und jede einzelne von ihnen ist hier willkommen.

Zweitens, das Ziel der Veränderung von Quantität zu Qualität, eine andere Zusammenstellung der Fähigkeiten, all das machen wir doch genauso.

Ich kann nicht in Deutschland Standorte schließen und den USA Gleiches vorwerfen, wenn dies überlegt und maßvoll geschieht. Die stärkere Fokussierung der Amerikaner auf andere Weltregionen ist im übrigen auch die Folge eines jahrelangen stabilen Friedens in Europa. Es ist auch eine Antwort auf den Erfolg Europas, ein Zeichen für das große Vertrauen, dass die Amerikaner in uns, ihre europäischen Partner setzen. Wenn wir dieses Vertrauen nicht enttäuschen wollen, wenn wir unsere Interessen vertreten wollen, und wenn wir wollen, dass Europas Stimme in der Welt auch sicherheitspolitisch vernehmbar wird, dann müssen wir insgesamt noch mehr in die Waagschale werfen.

Europa muss in der Lage sein, (auch militärisch) Verantwortung für sich selbst und die Sicherheit in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu übernehmen.

Und das in der NATO. Ich halte mehr davon, die europäische Stimme in der NATO zu stärken als den Versuch zu unternehmen, ein europäisches Sicherheitsbündnis in Doppelung zu schmieden.

Noch bleibt die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weit hinter ihren schon bestehenden Möglichkeiten zurück. Das sehen wir zum Beispiel in Somalia. (Wir sollten an gemeinsamer vernetzter Sicherheitspolitik erst einmal praktisch einlösen, was wir angekündigt haben, bevor wir neue Ankündigungen über neue weitere institutionelle Schritte machen.)

Europas Streitkräfte müssen leistungsfähiger werden. Sie müssen belastbarer und durchhaltefähiger werden. Und sie müssen NATO-komplementär europäischer plan- und führbar werden. Kurz: Wir müssen mehr können (Fähigkeitsprofil). Und wir müssen mehr gemeinsam können.

Deutschland wird dazu weiterhin einen großen Beitrag leisten und – wo nötig – auch vorangehen.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist ein solcher entscheidender Beitrag, ebenso wie das Engagement Deutschlands für multinationale Kooperationsprojekte: im Weimarer Dreieck, in der Gent-Initiative und in der Smart Defence Initiative der NATO. Diese Konzepte haben große Erwartungen geweckt.

Ich werbe hier intensiv dafür, unseren Worten nachprüfbare Taten folgen zu lassen, aber vor allem, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. Was verstehen wir eigentlich unter „Lastenteilung“? Und was verstehen wir unter „smart defence“?

Manche meinen, sie bekommen eine Fähigkeit umsonst, die sie nicht haben. Und andere meinen, sie bekommen Geld von anderen für eine Fähigkeit, die sie haben. Beides ist eine Illusion.

Smart defence ist richtig, aber spart kein Geld, sondern erspart künftige Aufwendungen. Das ist schon viel, aber weniger, als viele angekündigt oder erwartet haben.

Dabei müssen wir auch unsere Mentalitäten ändern. Man kann nicht smart defence wollen und Abhängigkeiten ablehnen. Smart defence heißt, eine Fähigkeit gemeinsam zu haben. Das ist gegenseitige Abhängigkeit. Abhängigkeiten, auch dies lehrt das Verhältnis zwischen Europa und Amerika, sind kein Ausdruck von Schwäche – sondern, richtig eingesetzt, Nachweis von Vertrauen, Effizienz und Stärke.

Es gibt schon heute viele Felder der Zusammenarbeit im Bündnis und zwischen einzelnen Bündnispartnern. Die Anzahl und die Qualität neuer Vorschläge ist jedoch überschaubar, vor allem wenn es darum geht, eine Federführung zu übernehmen. Deutschland hat sich zum Beispiel bereit erklärt, die Federführung für die Einrichtung eines Pools von Seeraumüberwachungsflugzeugen zu übernehmen. Wir bieten ein multinationales Hauptquartier zur operativen Führung von Einsätzen im Rahmen von NATO und EU an. Auch der Schutz des Luftraumes im Rahmen des „Air Policing“ ist „smart“ – aber er ist keine neue Erfindung.

Darüber hinaus gibt es eine weitere Möglichkeit, Fähigkeiten für Einsätze bereitzustellen, die ich als sehr „smart“ erachte: die gemeinsame Beschaffung und den gemeinsamen Unterhalt von Fähigkeitsträgern.

Ich denke hier besonders an das Aufklärungssystem „Alliance Ground Surveillance“, AGS. Auch das ist nicht neu. (Das Vorhaben AGS ist keine Erfindung von smart defence.) Deutschland und 12 weitere Nationen sind bereit, das System zu beschaffen und der NATO uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Im Kreise der NATO Verteidigungsminister haben wir gestern intensiv über sogenannte „contribution in kind“ (also nationale Beistellungen als Ersatz für die Beteiligung an der Finanzierung) diskutiert. Entscheidend ist, dass die nationalen Beiträge den Fähigkeiten, die uns AGS bietet, weitgehend entsprechen. (...)

„Smart Defence“ darf keine Mogelpackung sein, um „alten Wein in neuen Schläuchen“ zu verkaufen. Konzentrieren wir uns also lieber auf wenige neue Projekte als auf viele kleine Projekte, die es bereits so ähnlich gibt. Und reden wir die unzähligen Projekte der Zusammenarbeit zwischen den NATO- und EU-Partnern nicht klein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Staats- und Regierungschefs der NATO haben beim letzten Gipfel in Lissabon eine gemeinsame Raketenabwehr („Missile Defence“) beschlossen. Ich bin froh, dass wir mit der Umsetzung mittlerweile so weit sind, dass wir in Chicago eine begrenzte Einsatzbereitschaft feststellen können.

Auch wenn die Hauptlast von unseren amerikanischen Verbündeten getragen wird, so werden sich eine Reihe europäischer Verbündeter, darunter auch Deutschland, an dem System mit eigenen Fähigkeiten beteiligen. Wir setzen darauf, dass wir diesen Abwehrschirm gemeinsam mit Russland auf den Weg bringen. Denn die Gefährdungen, gegen die er gerichtet ist, sind Gefährdungen, die auch Russland betreffen können. Hier hoffe ich auf konkrete Vereinbarungen. Bis zum Gipfel in Chicago sollte es dazu noch ein Signal geben.

In Chicago werden wir uns auch erneut mit Afghanistan beschäftigen: Wir haben den Afghanen unser Wort gegeben: Wir lassen sie nicht im Stich. Und auch wenn der Weg mühsam ist: In Chicago können wir dies mit einer klaren Aussage zu einem post-2014 Beitrag der NATO und der anderen beteiligten Staaten bekräftigen.

Für eine dauerhafte Stabilisierung der gesamten Region spielt Pakistan eine zentrale Rolle. Wir wollen mit Pakistan kooperieren. Die innere Situation in Pakistan bleibt jedoch schwierig. Insgesamt ist aber klar, dass der militärische Erfolg in Afghanistan weiter ist als der politische. Das „politische Partberung“ hinkt dem „militärischen Partnering“ hinterher. Das ist kein Vorwurf, aber ein Auftrag. (Und: die Soldaten wollen nicht für politische Probleme, die sie nicht alleine lösen können, verantwortlich gemacht werden.)

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir Europäer sollten nicht angstvoll auf eine strategische Neuausrichtung der Amerikaner starren. Wir haben Grund zur Gelassenheit. Viele Zukunftsfragen bedürfen auch künftig einer gemeinsamen Antwort: Klimawandel, Energieversorgung, freie See- und Handelswege, Zugang zu Rohstoffen, Zollfragen, Themen der Standardisierung – und das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was uns in den kommenden Jahren beschäftigen wird.

„Old Europe“ ist alt – kulturell alt, alt an Rechtstraditionen, erfahren im Streit und Versöhnung zwischen europäischen Staaten. Europa ist vielleicht nicht ganz so sexy wie manch eine wirtschaftlich aufstrebende Boom-Region woanders – aber das macht es eher zu einem guten Partner. Sexy bleibt man schließlich nicht ewig… Europa braucht den Vergleich mit anderen Regionen nicht zu scheuen. Wir sind zwar nicht immer einer Meinung, aber wir verfügen über gemeinsame Werte, Ziele und Institutionen. (wie sieht das in der pazifischen Region aus?)

Wir bieten unseren Partnern – allen voran den USA – Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, Verlässlichkeit – und das seit 60 Jahren. Wir stehen nachhaltig für Demokratie und Freiheit. (welche andere Region kann das von sich behaupten?)

Deutschland weiß, was es an der NATO, an der transatlantischen Partnerschaft hat. Und wir sollten auch wissen, was das an Geben und Nehmen, Streiten und Einigsein, an Interessenunterschieden und Interessengemeinsamkeiten bedeutet – selbstbewusst und verantwortungsvoll. (...)

* 3. Februar 2012; Website der Münchner Sicherheitskonferenz www.securityconference.de


Zurück zur Münchner "Sicherheitskonferenz"

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage