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Feindbild Islamismus

Das Böse als Vorwand zur Militarisierung der Politik

Von Horst-Eberhard Richter*

Den Organisatoren dieser Veranstaltung in dieser Stadt und zu diesem Zeitpunkt sei Dank. Sie erfüllen ein wichtiges Bedürfnis vieler Menschen, die zumal nach der erschütternden Katastrophe in Südostasien auf Anstöße warten zur Entwicklung eines Friedens der Solidarität und der Humanität - Menschen, die es allmählich satt haben, sich den Sprachverdrehungen á la Orwell zu unterwerfen, wonach Verteidigung mit Angriffskrieg und Freiheit mit Machtmissbrauch gleichgesetzt werden. Wie wir sehen, ist Krieg nicht das Gegenteil von Terrorismus. Sir Peter Ustinov hat noch kurz vor seinem Tod festgestellt: „Der Terrorismus ist der Krieg der Armen gegen die Reichen, der Krieg aber ist der Terrorismus der Reichen gegen die Armen.“ Und Richard Rorty, der amerikanische Philosoph, hat nach dem Überfall auf den Irak erklärt, der Krieg gegen den Terrorismus sei inzwischen schon gefährlicher als dieser selbst. So spiegelt sich jede Seite in ihrem Feindbild wider. Deshalb sprechen Analytiker angesichts der kreisförmigen Selbstverstärkung dieser Dynamik bereits von einer unbewussten Komplizenschaft des Hasses und des Leidens.

Nur kurz werde ich rekapitulieren, wie die USA neuerdings selbst daran mitgewirkt haben, in den islamischen Ländern antiamerikanischen Hass aufzubauen. Daran werde ich die Frage anschließen, ob von der islamischen Region, wie behauptet, eine reale Weltgefahr ausgehe, werde dann jedoch davor warnen, der Ablenkung von den vordringlichen globalen Aufgaben zu erliegen, das sind der Kampf gegen Hunger, Armut und Aids in den Elendsgebieten, gegen nukleare und sonstige Rüstung, und nun ist es die Aufgabe aller, den überlebenden Opfern des Südostasien-Infernos beizustehen.

Die USA haben dem Islamismus im Mittleren Osten einen mächtigen Aufschwung verschafft, als sie 1953 im Iran zusammen mit der CIA das demokratische System unter der Regierung Mossadegh zu Fall brachten und Reza Pahlewi auf den Thron setzten. Die Folge war 25 Jahre später die antiamerikanische Revolution mit dem Sieg der Islamisten. Aus Furcht vor deren Ausbreitung rüsteten die USA dann den Irak auf und trieben diesen zum ersten Golfkrieg gegen das Mullah-Regime im Iran von 1980 bis 1988. Fortan wuchs die antiamerikanische Stimmung in der islamischen Region vor allem durch die einseitige amerikanische Unterstützung Israels auf Kosten des Palästina-Problems. Als die USA nach Ende des zweiten Golfkrieges nicht davor zurückschreckten, sich in Saudi-Arabien, dem Land des heiligen Mekka, als Besatzung fest zu etablieren, schwoll der antiamerikanische Hass noch um weitere Grade an und entlud sich in den Anschlägen auf US- Botschaften in Afrika. Hinzu kam noch ein im Westen kaum beachteter, aber in den islamischen Ländern anhaltende Erbitterung stiftender Vorfall. Das war 1998 die amerikanische Bombardierung der sudanesischen Pharmafabrik Al-Shifa, die tatsächlich nur Arzneimittel und keine Chemiewaffen produziert hatte, was von der US-Propaganda fälschlich verbreitet worden war. Der Ausfall dieser Firma als Lieferant wichtiger Medikamente wirkte sich auf das sudanesische Gesundheitssystem verheerend aus. Nach Schätzungen des deutschen Ex-Botschafters im Sudan sind längerfristig mehrere 10 000 Opfer den Folgen dieser Bombardierung zuzurechnen.

Die Frage ist aber nun, wie ist das Ausmaß der islamistischen Bedrohung heute einzuschätzen? Übereinstimmend mit der Mehrheit seiner Fachkollegen lautet die Antwort des Islam- und Nahostexperten Prof. Kai Hafez ganz nüchtern:

„Der islamische Fundamentalismus und ‚Jihadismus’ können den USA und dem Westen durch Terrorismus sporadischen Schaden zufügen. Die islamische Welt befindet sich insgesamt aber in einer historischen Schwächeperiode, sodass weder militärisch noch ökonomisch auf absehbare Zeit eine vitale Gefahr von ihr ausgeht.“

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Mit anderen Worten: Es ist eine Irreführung, die westliche Welt gegen eine übertrieben dargestellte islamistische Bedrohung auszurichten, nachdem man diese durch die amerikanische Nahostpolitik und den Irakkrieg erst selbst aufzubauen geholfen hat. Will man der unheilvollen Entwicklung glaubhaft entgegenwirken, muss man die friedlichen Mehrheiten in den islamischen Ländern, die den Terror ablehnen, ungleich mehr als heute unterstützen und Zeichen der Achtung für die islamische Kultur und Religion setzen, anstatt den Menschen eine entfremdende Amerikanisierung aufzudrängen.

Da waren die führenden Theologen, Philosophen und Politikberater an den mittelalterlichen Höfen der Mächtigen während der Kreuzzüge weiser als ihre heutigen Nachfolger in ähnlichen Rollen. Erlauben Sie mir dazu eine kurze historische Reminiszenz: Der arabische Philosoph Ibn Ruschd, auch Averroes genannt, Leibarzt des Kalifen von Marokko, der jüdische Philosoph Maimonides, Leibarzt am Hofe des Sultans in Kairo, und später der Dominikaner, Philosoph und Naturforscher Albertus Magnus entwickelten die Idee einer Universalreligion, angelehnt an die Ethik des Aristoteles. Verkürzt und vergröbert lautete das Konzept: Jede der drei monotheistischen Religionen habe zwar einen eigenen Offenbarungsteil. Darüber hinaus existiere jedoch eine gemeinsame Vernunft und Ethik, also eine gemeinsame Wertewelt, gültig für alle Menschen und Religionen. – Es war dies ein Anstoß, die geistige Mauer zwischen den Fronten auf den blutigen Schlachtfeldern der Kreuzzüge zu überwinden. Zumindest dem Araber Ibn Ruschd und dem Juden Maimonides erging es allerdings nicht anders als Heutigen, die der Einschwörung auf ein verordnetes Feindbild widerstehen. Obwohl berufener Interpret des Koran, wurde Ibn Ruschd von seinem Kalifen fallengelassen und durch ein Tribunal zeitweise verbannt. Erbitterte jüdische Glaubensgenossen des Maimonides schrieben auf dessen Grab das Wort „Ketzer“ und verbrannten seine Bücher. So etwas kennen wir. In den 80er Jahren waren wir Friedenskämpfer ein angeblich von Moskau gesteuertes Sicherheitsrisiko, heute wie damals gelten wir als einäugige Anti-Amerikaner oder bestenfalls als kitschige Weichlinge.

Die gegenwärtige Situation der Friedensbewegung ähnelt in gewisser Hinsicht derjenigen des Waffeninspekteurs Blix im Irak, dessen vergebliches Suchen nach verbotenen Waffen den Frieden zu erhalten schien, während wir uns in der Hoffnung wiegen könnten, mit der Relativierung des Feindbildes Islamismus eine erwünschte Beruhigung zu schaffen. Indessen müssen wir uns darüber klar sein: Wer gegen den Islamismus weiter aufrüsten und noch mehr Überwachungsstaat will, dem kann das Böse gar nicht böse genug sein, um die Fortsetzung der eigenen Kriegsstrategie moralisch abzusichern. Wenn laufend vorhergesagte Anschläge ausbleiben, so erfüllen die Vorwarnungen wenigstens den Zweck, die Angst wachzuhalten. Die Angst erlaubt, weiter zu rüsten und noch mehr zu überwachen. Und sie hat Präsident Bush zum erneuten Wahlsieg verholfen, weil er sich das Image verschafft hat, mit dem Zuschlagen nicht lange zu fackeln, wenn Gefahr zu drohen scheint. Noch sehen die USA ihre moralische Führerschaft abhängig von der Überzeugungskraft ihrer Botschaft, die Welt werde vom Bösen verfolgt und könne nur in williger Unterordnung unter ein stetig erstarkendes Amerika der Hölle entkommen. Mit der Schwächung oder mit dem Verlust des Bösen entfiele das Notwehrargument, das im Falle des Irak gerade noch halbwegs funktionierte, um die partielle Duldung eines vermeintlich präventiven Angriffskrieges durchzusetzen.

Momentan stehen die USA vor der Wahl: Entweder sie heizen den militanten Islamismus neu an, indem sie auf eine Bombardierung des Iran zusteuern, oder sie brächten es tatsächlich fertig, sich mit dem Iran zu arrangieren, gleichzeitig erfolgreich auf einen lebensfähigen Palästinenserstaat hinzuwirken, um dem Terrorismus eine wichtige Antriebsquelle zu entziehen. Aber das hieße, sich selbst neu definieren zu müssen. Denn ohne das Böse könnte sich der eigene Herrschaftswille nicht mehr als Erlösungsanspruch nach dem Drachentöter-Muster verkleiden. Es ginge nicht mehr um Siegen und um Freiheit als Machtwillkür, sondern um die nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit eingeschränkte Freiheit innerhalb der Gemeinschaft unter Gleichen, wie es die UN-Charta vorsieht. Aber soeben hat die neue Außenministerin Condolezza Rice die Welt wieder in die Richtigen und die Falschen eingeteilt und im Iran einen Regierungswechsel verlangt. Das sind genau die gleichen Drohungen wie vor dem Irak-Krieg.

Jedenfalls, ist der moralische Sonderbonus des 11. September für die USA aufgebraucht. Und es ist mit der Tsunami Flutkatastrophe ein Ereignis eingetreten, das in den Köpfen eine grundlegend gewandelte moralische Weltsicht freilegt. Robert Jungk hat einmal das Wort vom „Menschenbeben“ als Buchtitel erfunden. Jetzt haben wir ein solches Menschenbeben erlebt, das noch andauert und noch eine Weile andauern wird und das nicht wie der 11. September eine Abreaktion nach dem Gut-Böse-Schema erlaubt. Es ist keine Niederlage, keine Verletzung, die durch einen Sieg wettgemacht werden könnte. Es ist ein Ereignis, das nur zu Mittrauern und zu einem weltweiten Helfen nötigt.

Dabei geschieht etwas Eigenartiges. Auch in weitab liegenden Ländern fühlen sich Menschen wie Mitbetroffene und Mitverantwortliche. Als seien alle durch diese Katastrophe mit hindurchgegangen und hätten durch dieses Schicksal eine neue Orientierung gewonnen. Als wüssten sie nun über ihr Leben, über ihre Zerbrechlichkeit und über die Verbindung mit allen anderen jetzt erst voll Bescheid.

Albert Einstein hat nach Hiroshima und Nagasaki einmal geschrieben, im Schatten der Atombombe müsste den Menschen doch aufgegangen sein, dass sie alle Geschwister sind. Damals waren nur zwei Städte getroffen worden. Jetzt handelt es sich um die Naturkatastrophe mit der größten Ausdehnung seit Menschengedenken. Und Gläubige wie Ungläubige fühlen, es ist ein Signal, das dazu zwingt, vieles scheinbar Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich zu betrachten. Es stimmt nicht, dass wir im Computerzeitalter dicht davor ständen, alles berechenbar machen zu können. Oberirdische wie Unterwasser-Erdbeben lassen sich heute genauso wenig vorhersagen wie vor Tausenden von Jahren. Unsicherheit ist eine elementare Seite unseres Lebens, was immer wir schon zu mehr Sicherung erfunden haben. Kein technisches System schützt uns in dem Maße, wie es uns die Anführer der wissenschaftlich-technischen Revolution verkünden. Die akute Weltkatastrophe belehrt uns, dass die wichtigsten Kräfte immer noch in uns selbst liegen: die Kraft, Leid und Trauer zu tragen, zu helfen, zu hoffen, zu vertrauen und sich Vertrauen zu verdienen, sich in Verantwortung zu bewähren.

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Aber von diesen Kräften war in der Ansprache Bushs bei Antritt seiner zweiten Amtszeit nicht die Rede, dafür 42mal in großem Pathos von Freiheit. Diese nennt er ein „ungezähmtes Feuer“. Ungezähmt, das erinnert fatal an die angemaßte Freiheit, eigenmächtig Angriffskriege zu führen; und es erinnert an die Willkür, sich unentbehrlichen Gemeinschaftsverpflichtungen wie der Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag zu entziehen. Schließlich nimmt Amerika sich die Freiheit, die Welt mit der Geißel übermächtiger atomarer Bedrohung in die furchtbarste aller Unfreiheiten zu versetzen. Denn durch die erstrebte eigene Unverwundbarkeit mittels eines Raketenschutzschildes geriete die übrige Welt in eine Art nuklearer Geiselhaft, ihr droht der Zustand permanenter Erpressbarkeit, einer Unfreiheit des Schreckens.

Es existiert für die USA auch nicht die Freiheit, internationale Verträge zu missachten – wie etwa den Atomwaffensperrvertrag von 1970, der die Vertragsmächte zur Einleitung von Verhandlungen mit dem Ziel vollständiger atomarer Abrüstung verpflichtet und der in Artikel 1 die unmittelbare oder mittelbare Weitergabe von Kernwaffen an kernwaffenfreie Länder strikt verbietet. Noch immer existieren 30.000 nukleare Sprengköpfe. Es ist ein klarer Vertragsbruch der USA, in Deutschland bis heute über 60 Atombomben zu stationieren. So fordern wir in Übereinstimmung mit 92% der Deutschen, die vertragswidrig in der Bundesrepublik gehorteten Atombomben umgehend zu beseitigen.

M.D.u.H., Unsere Alternativveranstaltung behandelt scheinbar das gleiche Thema wie die Sicherheitskonferenz nebenan. Aber das sieht nur so aus. Denn unsere Vorstellung von Frieden im 21. Jahrhundert ist eine ganz andere. Nebenan bedauert man es, dass nur Nummer drei des amerikanischen Verteidigungsministeriums in München erschienen ist. Versammelt sind im Übrigen alle Verteidigungsminister der Nato-Länder. Das lässt erkennen, dass man die Sicherheitslage der Welt erneut in erster Linie von militärischen Bedrohungen, von Rüstungsfragen und militärpolitischen Bündnisfragen her begreift. Daher also auch diesmal wie jedes Jahr das starke Aufgebot von Militärpolitikern und Militärs.

Darin steckt schon eine falsche Vorentscheidung, nämlich die Verkennung, dass eine Friedens- und Sicherheitspolitik im Zeitalter der Ausrottungswaffen ein gewandeltes Denken von der Art verlangt, wie es gerade die Südostasien-Katastrophe zum Vorschein gebracht hat. Dazu müssten in erster Linie Abrüstungsexperten, Friedens- und Konfliktforscher, Völker-, Menschenrechts- und Ökoexperten mit am Tisch sitzen. Es gilt endlich zu lernen, dass Zusammenhalt in der Völkergemeinschaft nicht eine fromme Gutmenschen-Utopie ist, sondern die schlichte Respektierung der Tatsache, dass die Völker, - welche Vorurteile und Ressentiments sie auch gegenseitig hegen - aufeinander zum eigenen Erhalt und zur Sicherung der Zukunft aufeinander angewiesen sind. Vielleicht, ja hoffentlich sind Israel und Palästina endlich auf dem Wege, der Welt zu demonstrieren, welches Konzept allein dazu taugt, eine scheinbar endlose Kette von Drohung, Gewalt, Hass, Rache und Leiden zu durchbrechen. Nämlich die Beherzigung der Einsicht, dass die Angst und das Leiden, das man den Anderen bereitet, nur das Spiegelbild der eigenen Angst und des eigenen Leidens sind. Die Chance zum Aufbau einer gemeinsamen Sicherheit liegt darin, dass sich die Einen in den Anderen wiedererkennen. Wenn dieser Durchbruch im Denken erreicht wird, kann man anfangen, ein Verhältnis gegenseitiger Achtung herzustellen und in allen kulturellen Bereichen Bindungen zu knüpfen, die am Ende eine auf Vertrauen gegründete Sicherheit stiften, die hundertmal mehr wert ist als die teuersten Abwehrsysteme und die mächtigsten militärischen Drohkulissen.

Nelson Mandela hat es wunderbar beschrieben, wie in seinen Häuptlingen und in ihm selbst in den Jahren quälender Gefangenschaft die Erkenntnis gereift ist, die erlittene eigene Verfolgung nicht mit Gewalt, sondern mit einer Initiative der Verständigung zu beantworten. Wir müssen auf beiden Seiten das Leiden beenden, schreibt er, unser eigenes Leiden als Unterdrückte, aber auch das Leiden unserer Unterdrücker, die im Gefängnis ihres Hasses eingesperrt sind. Mandela bemerkte, dass seinen Wärtern im Kerker unwohl dabei war, ihre Menschlichkeit zu verraten. Dass er mit seinem Vertrauen in die beiderseitige Versöhnungskraft kein realitätsferner Träumer war, erwies sich dann, als Schwarze wie Weiße mithalfen, einen schon unvermeidlich scheinenden Bürgerkrieg abzuwenden und in den Wahrheitskommissionen eine gemeinsame Verarbeitung der Vergangenheit einzuleiten.

M.D.u.H., die Zeit ist reif dafür, daran zu glauben, dass in uns allen Energien stecken, wie sie in Südafrika zum Frieden geführt haben. Wir dürfen uns nicht länger suggerieren lassen, Mandela sei ein Wundermann, eine Art Franziskus, zu gut, als dass sein Beispiel in der Welt von heute Schule machen könnte. Gerade die Welt von heute schreit nach dem Mut, an unsere eigene Friedensfähigkeit zu glauben, anstatt uns gefallen zu lassen, dass ein Drohpotential von Nuklearwaffen uns gewissermaßen gegen eigene Gewaltbereitschaft versichern soll. Das ist absurd. Wir haben nicht nur Mandela als Beispiel vor Augen. Alle großen erfolgreichen Friedensinitiativen des 20. Jahrhunderts sahen Menschen an der Spitze, die auch und gerade auf den Höhepunkten großer Krisen daran geglaubt haben, dass sich Völker mit Völkern, Menschen mit Menschen verständigen können und müssen.

Da war Gandhi, ein gläubiger Hindu, den das Prinzip der ahimsa leitete, das besagt, Widerstand mit aller Hartnäckigkeit zu leisten, ohne zu demütigen und zu erniedrigen. So hat er ein Volk von 300 Millionen befreit. Auch Willy Brandt, Martin Luther-King und Gorbatschow bauten auf die Fähigkeit zu gemeinsamer Humanisierung. Willy Brandt säte weltweit Hoffnungen mit seiner Politik der Compassion und öffnete den Weg für eine Ost-West-Versöhnung. Gorbatschow durchbrach den Wall von Misstrauen, Angst und Rüstungswahn, indem er vor aller Welt den großen Dissidenten und Menschenrechtler Andrej Sacharow als glaubwürdigen Botschafter seines Friedenswillens gewann. (Ich habe das in einer kleinen internationalen Gruppe miterlebt, die von Gorbatschow bis zum Ende seiner Amtszeit betreut wurde, der neben Sacharow auch US-Ex-Verteidigungsminister McNamara, Susan Eisenhower, verschiedene Wissenschaftler, darunter auch Hans-Peter Dürr angehörten. Ich habe miterlebt, wie Sacharow bei seinen Auftritten in den USA als glaubwürdigster Kronzeuge Gorbatschows half, eine Brücke des Vertrauens zu bauen.) Martin Luther King, stark von Gandhi inspiriert, verkündete immer wieder: „Nicht siegen wollen wir über die Weißen, sondern siegen für die Versöhnung, für das Gerechte!“

Es ist bemerkenswert, dass jede dieser großen Friedensinitiativen aus einem Zustand des Leidens entsprang. Die Inder waren von britischer Unterdrückung gequält, als Gandhi ihre friedliche Widerstandskraft weckte. Brandt traf auf ein Volk, das nach 20 Jahren verschwiegener Vergangenheit moralische und soziale Erneuerung erstrebte. Der Warschauer Kniefall am Gettodenkmal war zugleich Bekenntnis wie Bitte um Versöhnung. In Russland zehrte Gorbatschow von dem Selbstheilungswillen nach Jahrzehnten stalinistischer Unterdrückung. Nun ist die Menschheit gerade von der Tsunami-Katastrophe erschüttert worden und hat in aller Welt in dem Strom von Hilfsinitiativen ein tief wurzelndes Mitfühlen und Solidarisierungsbedürfnis sichtbar gemacht. Natürlich kann und wird diese Stimmung wieder abebben. Aber sie bleibt eine Mahnung, das Wissen von dieser globalen Empathie im Kopf zu behalten und politisch zu beherzigen.

Ich erinnere an den Skeptiker Kant, der angesichts des bis in die Nachbarvölker ausstrahlenden Enthusiasmus über die Ideen der Französischen Revolution schrieb: Die Revolution werde vielleicht in Blut und Gräueltaten untergehen, aber bereits die leidenschaftliche Zustimmung zu ihren Ideen im weiten Umfeld sei ein Beweis dafür, dass allen Menschen eine moralische Anlage innewohne. Und diese bedeute allein schon eine Chance, zum Besseren voranzuschreiten.

In unserer Friedensbewegung sind wir von dieser Chance längst überzeugt, bestätigt durch die eben genannten Erfolgsbeispiele und nicht zuletzt durch die Bewährung nach der Flutkatastrophe. Wir erkennen einen weit verbreiteten spontanen Widerwillen gegen die Nötigung, die Welt ständig in gut und böse gespalten zu begreifen unter dem Diktat: Entweder ihr seid für uns oder ihr seid für die Schurken, die Islamisten, die Tyrannen.

Die Psychoanalyse lehrt, dass solche zwanghaft dichotomische Weltsicht immer einen neurotisch pubertären Hintergrund hat. Der Mensch, der nicht oder noch nicht mit sich selbst eins ist, der braucht einen Feind, den er besiegen muss, um sich vollständig oder großartig zu fühlen. Aber „der wahre Feind der Menschheit ist der Mensch selbst“, so ist es im Bericht des Club of Rome von 1991 zu lesen. Ein zivilisatorischer Aufstieg verlangt von uns das Bewusstsein, die Welt als ein Ganzes und nicht als einen Western in Großformat zu begreifen, der des High Noon Heldentums bedarf.

Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat genau diese Einsicht unlängst seinen Landsleuten entgegengehalten, indem er feststellt: „Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird.“ Sein Landsmann, der Sozialforscher Jeremy Rifkin pflichtet ihm bei, wenn er schreibt, es komme darauf an, die menschliche Empathie auszuweiten. Aber er fügt hinzu, dies sei vorläufig erst der Traum der Europäer und nicht der Amerikaner. Rifkin stützt sich auf vergleichende Umfragen in den Ländern der Europäischen Union und in den USA, aus denen z.B. klar hervorgeht, dass den Europäern Hilfsbereitschaft und soziale Gerechtigkeit deutlich wichtiger sind als den Amerikanern. In seinem soeben erschienen Buch „Der europäische Traum“ schreibt Rifkin: „Ich habe fast 20 Jahre lang sowohl in Europa als auch in Amerika gearbeitet, und meine größte Sorge ist, dass die Europäer vielleicht nicht optimistisch genug sind, um ihre neue Zukunftsvision durchzusetzen. Träume brauchen Zuversicht, das Gefühl, dass die Hoffnungen sich erfüllen werden.“

M.D.u.H., weil wir in der Friedensbewegung mit genau dieser Zuversicht leben und sie ringsum in die Herzen und Köpfe pflanzen wollen, versammeln wir uns hier und zu vielen sonstigen Veranstaltungen. Hoffnung ist nur so viel wert wie die persönliche Bereitschaft, sich für ihre Realisierung unermüdlich praktisch zu engagieren. Unsere Zuversicht in der Friedensbewegung ist nicht die von Zuschauern, die für ihre Sache den Daumen drücken, sondern wir wollen dem Verantwortungsbewusstsein, das über die Grenzen von Völkern, Religionen und Systemen hinausreicht und das Rifkin mit Empathie meint, einen politischen Ausdruck verschaffen.

Wir müssen aus der Zivilgesellschaft heraus noch viel mehr als bisher Druck machen. Was soll denn noch passieren nach über 100 000 Toten im Irak mit einem hohen Anteil von Frauen und Kindern, nach Aufdeckung der Kriegslügen und der Folterverbrechen, um Europa endlich zu offenem Widerstand gegen die nächste amerikanische Kriegsandrohung aufzurütteln? Dieses „Anti“ muss laut und klar und darf nicht geduckt und leisetreterisch zum Ausdruck kommen. Aber das „Anti“ allein ist, wie gesagt unzureichend. Über allem muss das „Pro“ als Bewusstsein der globalen Zusammengehörigkeit stehen, das nicht sogenannte „westliche Werte“ von der alle Völker, Rassen und Religionen übergreifenden Moral der Menschlichkeit abtrennt.

* Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter hielt diesen Vortrag auf der alternativen Friedenskonferenz in München am 11. Februar 2005 im Saal des Alten Rathauses. Diese Konferenz war als Gegenveranstaltung zur Münchner "Sicherheitskonferenz" (früher: "Wehrkundetagung") von der Friedensbewegung veranstaltet worden.


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