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Autoritärer Kapitalismus

Europäische Antifaschisten diskutierten Ursachen des Stimmenzuwachses für extreme Rechte bei den Europawahlen. »Komitee der Wachsamkeit« gefordert

Von Gitta Düperthal *

Wie hat es zu diesem Fiasko kommen können? Die Debatte über die Ursache des Stimmenzuwachses für neofaschistische und rechtspopulistische Kräfte bei den Europawahlen muß dringlich geführt werden. Darüber waren sich Vertreter der Mitgliedsorganisationen der antifaschistischen Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) aus Frankreich, den Niederlanden, Griechenland und Ungarn einig. Die Analyse des Phänomens war Thema einer Veranstaltung zu »Neofaschismus und Rechtspopulismus in Europa« am Freitag in Frankfurt am Main. Veranstalter war die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, die am Wochenende ihren Bundeskongreß abhielt, in Kooperation mit dem örtlichen DGB und dem Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945.

»Niemals haben wir uns solchen unsäglichen Naziauftritten entgegenstellen müssen«, beklagte die Französin Anita Baudouin. Hinter der Wahlentscheidung der Franzosen, Marine Le Pens Front National mit 25 Prozent der Stimmen ins EU-Parlament einziehen zu lassen, vermutet sie einen »Zustand der Hoffnungslosigkeit verbunden mit Arbeitslosigkeit« sowie »zunehmenden Konkurrenzkampf und Individualismus«. In Frankreich habe das kurz vor der Europawahl angekündigte neoliberale Sparprogramm Wirkung getan, stimmte sie mit Kees van der Pijl aus den Niederlanden überein. Löhne einfrieren, Renten reduzieren, Steuern senken: Diese drastischen Wirtschaftsreformen, ausgerechnet vom sozialistischen Präsidenten François Hollande in Aussicht gestellt, hätten viele enttäuscht.

Daß die neofaschistische Goldene Morgendämmerung nun mit knapp zehn Prozent als drittstärkste griechische Kraft ins Europaparlament einziehen kann, führte der Grieche Gregorius Touglides darauf zurück, daß »die Arbeiterklasse sich nicht genügend gegen den Kapitalismus gewehrt hat«. Für triumphale Wahlerfolge der Faschisten trügen sozialdemokratische Parteien Mitverantwortung, da sie das internationale Kapital unterstützt hätten. Die Polizei in Griechenland bediene sich fleißig der Goldenen Morgendämmerung, um Mitglieder derselben in linke Demonstrationen einzuschleusen und dort Krawalle anzuzetteln. Er betonte »die fatale Rolle« der Massenmedien: Die hätten etwa die rechtsradikale Partei freundlich begleitet, wenn diese Essenspakete an Arme verteilt habe – nur an Griechen, nicht an Migranten.

In Ungarn sei die Situation besonders schlimm, so David Tucker von der ungarischen Vereinigung der Widerstandskämpfer und Antifaschisten (MEASZ). Die dortigen Rechtsparteien Fidesz und Jobbik kamen bei der Europawahl zusammen auf rund 66 Prozent der Stimmen. Die Ursache hierfür sieht Tucker in der Enttäuschung über die ehemalige linksliberale Regierung: Wer früher für sie gestimmt habe, wähle nun mitunter die rechtsradikale Jobbik, die Rassismus als Antwort auf alle Probleme anbiete. Die Frage aus dem Publikum, ob Ungarn zum Polizeistaat tendiere, verneinte Tucker. Die Polizei mache ihre Aufgabe, habe 2006 rechte Aufmärsche in die Grenzen verwiesen. Sie greife nur dann hart durch, wenn die Regierung dies anweise. Ein desillusionierendes Bild oppositioneller Bewegungen in Ungarn zeichnete Tucker. Das Klima sei von Angst geprägt: geschwächte, kraftlose Gewerkschaften; Roma-Vereine, die kaum ihre Stimme erheben würden, einzig damit beschäftigt, ihr Überleben über die nächsten Tage zu sichern. Das Fernsehen sei bereits Ziel von Attacken der Faschisten geworden.

Der niederländische Politikwissenschaftler van der Pijl sieht ein »im Zusammenbruch begriffenes System« auf dem Weg zum autoritären Kapitalismus. Für antifaschistische Kräfte sei es an der Zeit, »sich auf eine ernste Schlacht vorzubereiten«. Wirtschaftswachstum sei nicht mehr zu erwarten, Faschismus aber werde aus Verelendung geboren. Die EU werde zunehmend mit kapitalistischer Macht identifiziert. Jegliche Opposition von links werde als Terrorismus diffamiert. Wie ist Neofaschismus und Rechtspopulismus entgegenzutreten? Als Gegenmacht, damit nicht aggressiver Nationalismus profitiert, schlägt van der Pijl ein aus außerparlamentarischen Kräften bestehendes »Internationales Komitee der Wachsamkeit« vor: getragen von Künstlern, Gewerkschaftern, Umweltaktivisten, Intellektuellen, Kirchenleuten etc.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. Juni 2014


Bundeskongress der VVN-BdA tagte in Frankfurt am Main

Antifaschisten berieten in ernster Lage neue Aufgaben

Von Ulrich Sander


Zu den zahlreichen Aktionen für den Frieden in der Ukraine und den Frieden mit Rußland, die am Wochenende in der gesamten Republik stattfanden, ist auch der 5. Bundeskongress der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten mit über 200 Teilnehmern zu rechnen, der gleichzeitig im Haus Gallus in Frankfurt am Main tagte. Vor den 158 Delegierten der rund 6.300 Mitglieder der traditionsreichen ältesten antifaschistischen Organisation verurteilte die fast einstimmig wiedergewählte Bundesvorsitzende Cornelia Kerth die Rolle der führenden Bundespolitiker in der gegenwärtigen gefährlichen Krise. (weiter…)

Diese Politiker wie auch führende Medien „verleumden all jene, die aus der Geschichte des deutschen Militarismus, aus Vernichtungskrieg und Holocaust den Schluß gezogen haben, daß die Verantwortung Deutschlands aus seiner Geschichte nur Zurückhaltung sein kann, ganz besonders militärische.“ Die in Europa entstandene gefährliche Lage „hat viele Dimensionen, von der Aneignung des Volksvermögens durch ‚Oligarchen’ und ihre Folgen über die Förderung jeder Art von Nationalismus durch sämtliche Regierungen der Region seit Ende der Sowjetunion bis hin zum Vorstoß von EU und NATO bis an die Grenzen Rußlands“. Unerträglich sei die „anti-russische Hetze in nahezu allen Medien“, die an Zeiten des Kalten Krieges erinnere.

Der Kongress bekräftigte die Notwendigkeit des Zusammengehens und der verstärkten Aktivitäten der Friedensbewegung, der Gewerkschaften und der antirassistischen/antifaschistischen Bewegungen. Er wurde als große Zukunftswerkstatt durchgeführt, so daß alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich zu den vielfältigen Politik- und Arbeitsfeldern der Vereinigung äußern konnten. Nach dem Erfolg der Organisation, mit der Kampagne „NoNPD“ zur Bundestagsinitiative gegen die NPD beigetragen zu haben, steht die Aufklärungsarbeit über den Rechtspopulismus etwa der deutschnationalen „Aktion für Deutschland“ mit ihren antidemokratischen und fremdenfeindlichen Positionen ebenso auf der Agenda wie die breite antifaschistische Bildungsarbeit. Mit einer neuen Ausstellung „Neofaschismus in Deutschland“ wird die VVN-BdA in Schulen und in der gesamten Öffentlichkeit dazu ihren Beitrag leisten. Die Ausstellung wurde mit starker Zustimmung im traditionsreichen Haus Gallus zum ersten Mal gezeigt. In dieser Stätte des Auschwitz-Prozesses tagte die Konferenz. Sie war – passend zum Schwerpunkt „Erinnerungsarbeit“ - mit einer Peter-Weiß-Lesung eröffnet worden.

Die VVN-BdA warnte vor der großen Zahl untergetauchter gewalttätiger Nazis, denn auch nach dem bisherigen Verlauf der Untersuchungen zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ sind wichtige Fragen noch nicht geklärt. Sprecher von Mitgliedsverbänden der Föderation der Widerstands-kämpfer FIR nahmen am Kongress des FIR-Mitgliedsverbandes VVN-BdA teil . Sie machten bei einer Podiumsdiskussion am Vorabend der Konferenz im gut gefüllten Saal des Hauses auf die gewachsene Gefahr seitens der Rechtskräfte im EU-Bereich aufmerksam. In Frankreich, Griechenland, den Niederlanden und Ungarn – von dort kamen die Gäste – wurde durch die EU-Wahlen in vorher nicht gekanntem erschreckendem Ausmaß diese Tendenz sichtbar. Der Rassismus der „Festung Europa“ wurde unter die Anklage der Antifaschisten gestellt, ebenso der wachsende Antiziganismus.

Mit starkem Beifall und bewegenden Gesten wurde Prof. Heinrich Fink, der langjährige Bundesvorsitzende der VVN-BdA verabschiedet und gleichzeitig zum Ehrenvorsitzenden bestimmt. Mit Heinrich Fink und Esther Bejarano wird es nun zwei Persönlichkeiten in dieser Ehrenfunktion geben. Außer Cornelia Kehrt aus Hamburg wurde Dr. Axel Holz (Schwerin) zum Bundes-vorsitzenden gewählt. Neben den Bundesvorsitzenden und der wiedergewählten Bundesschatzmeisterin Regina Elsner (Hoyerswerda) gehören auch künftig Dr. Regina Girod (Berlin), Ulrich Sander (Dortmund) und Dr. Ulrich Schneider (Kassel) dem Bundessprecherkreis, dem Bundesvorstand der VVN-BdA, an, der von elf auf sechs Personen verkleinert wurde. Bestätigt wurden die von den Mitgliedsorganisationen und Landesvereinigungen benannten Mitglieder des Bundesausschusses. Dieser bekommt einen Haufen Arbeit, denn ihm wurden zehn Anträge zur Behandlung überwiesen, die auf Grund des durch die neu entstandene dramatische Situation erfolgten umfassenden Diskussionsbedarfs der Delegierten nicht mehr in Frankfurt behandelt werden konnten. Der Bundesausschuss wird am 5. und 6. Juli in Magdeburg zusammentreten. Vorher, am 21. Juni, beabsichtigen zahlreiche VVN-BdA-Aktivisten in Riesa zu einem Aktionstag gegen die NPD und ihr Organ „Deutsche Stimme“ zusammenzukommen.


Eine Organisation erfindet sich neu

Ein Kommentar von Ulrich Sander

Nicht dass der Name "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" in Frage gestellt wurde. Und auch der Zusatzname - seit 1972 "Bund der Antifaschisten", der die generationsübergreifende Rolle der größten und ältesten Opferorganisation verdeutlicht - wird bleiben. Denn die Verfolgten brauchen weiterhin ihren Fürsprecher. Und dazu zählen die 2. und 3. Generation der Hinterbliebenen und die niemals entschädigten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen. In einigen Bundesländern nennen sich die entsprechenden Gruppen innerhalb der VVN-BdA "Kinder des Widerstandes".

Es trifft sich gut, dass der deutsche Bund der Antifaschisten keine nationale Herkunftsbezeichnung hat. Angesichts der heutigen ernsten Lage, die ja nicht wie ein böser Traum wieder weggewischt werden kann, muss die Vereinigung immer internationaler und verstärkt zum Bund der Antifaschisten wie auch der Antimilitaristen werden. Sie muss sich immer mehr mit ihren Partnern im EU-Bereich verbünden, die nach der EU-Wahl wie wir ziemlich fassungslos auf das Ergebnis - besonders in Frankreich - blicken.

Auf dem Bundeskongress der VVN-BdA am 30. 5. bis 1. 6. 14 im ebenfalls traditionsreichen Haus Gallus, wo der Auschwitzprozess stattfand, wurde für Beobachter erkennbar: Diese Vereinigung erfindet sich neu, ohne das Vermächtnis ihrer Gründer zu vernachlässigen.

Kaum eine Delegierte oder kaum ein Delegierter ist noch im Krieg geboren. Nur sechs hatten Emigration und Verfolgung vor 1945 zu erleiden, allerdings auch eine nicht ermittelte und nicht unbeträchtliche Zahl lernte politische Verfolgung nach 1950 - Blitzgesetze des Dr. Adenauer und FDJ- wie KPD-Verbot - kennen. Internationaler wird die Organisation infolge ihres Auftrages, im Lande für die Opfer von Rassismus und Antiziganismus einzutreten. Zugleich erfordert die internationale Rolle Deutschlands eine demokratische und friedliche Antwort. Die ökonomische Dominanz Deutschlands in der EU hat dieses Land zum Ausbeuter von Millionen gemacht. Zugleich ist Deutschland führend dabei, die EU zu einem militärischen Block zu machen. In der Ukrainekrise versieht Deutschland für die Nato sogar militärische Vorreiterdienste. Während der Bundestag das Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht beantragt hat, bemüht sich die Bundesregierung um eine "Stabilität" in der Ukraine, die auch Abstützung durch faschistische Kräfte erfährt. Im Lande die NPD verbieten und in Europa die Faschisten hoffähig machen, das ist gegenwärtig die Rolle dieses Landes!

Viele Menschen in aller Welt haben Anlass, voll Sorge und Zorn auf dieses Land zu blicken. Da wird auch die Verantwortung der Antifaschisten Deutschlands größer, eine Rolle als solidarische internationalistische Kraft einzunehmen. Ansatzweise, aber auch noch sehr ausbaufähig, wurde diese Rolle auf der VVN-BdA-Konferenz erkannt und angenommen.


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