Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wo vor 80 Jahren die Nazis wüteten

Eine digitale Landkarte markiert die Orte der faschistischen Bücherverbrennung

Von Gitta Düperthal *

Seit vergangenem Freitag ist unter der Internetseite verbrannte-orte.de ein Atlas zu den Bücherverbrennungen der Nazis zu finden. Jan Schenk, freier Fotograf aus Berlin, hat das Projekt Ende 2012 ins Leben gerufen. Auf einer Deutschlandkarte will er mehr als 80 Orte und Plätze verzeichnen, wo die Nazis einst die Werke unliebsamer Autoren öffentlich vernichteten – in manchen Städten geschah das gleich an mehreren Stellen.

Schenk will verdeutlichen, wie flächendeckend die »Aktion wider den undeutschen Geist« angelegt war. »Im Geschichtsunterricht erfahren Schüler zu wenig«, so der 32-jährige Fotograf gegenüber jW. Er selber habe deshalb früher gedacht, einzig am Bebelplatz in Berlin seien 1933 Bücher verbrannt worden. Nun ist er quer durch die Republik gereist, um diese Schauplätze zu fotografieren und mit historischen Erläuterungen und Erinnerungen von Zeitzeugen darzustellen: Neubrandenburg, Neustrelitz, Rostock, Greifswald, Schwerin, Pirna und Dresden sind mit Panoramen und Hintergrundinformationen bereits online. Schenk arbeitet mit lokalen antifaschistischen Initiativen zusammen, recherchiert in Stadtarchiven und organisiert Veranstaltungen: »Wie sehen diese Orte 80 Jahre nach den Bücherverbrennungen aus? Was passiert dort heute? Betrachten wir sie anders, wenn wir wissen, was dort passiert ist?«

Nach neun Monaten erfolgreichem Spendensammeln sind fast 4000 Euro für das Projekt zusammengekommen. Nun werden erste, eher unspektakuläre Fotos jener Plätze sichtbar, wo einst der Naziterror gegen die kulturschaffenden Autoren und ihre Werke tobte. Meist existiere nicht einmal ein Gedenkstein, um die Erinnerung an die Verbrechen der Faschisten wach zu halten, so Schenk. Hintergrund: Bereits kurz nach der Machtübertragung an Hitler Ende Januar 1933 hatten Einschüchterungspraktiken mit einer schwarzen Liste »verbrennungswürdiger Bücher« begonnen, auf der sich 131 Autoren befanden. Herausgegeben hatte sie der Berliner Bibliothekar Wolfgang Herrmann als »allgemeines Hilfsmittel für Bibliothekare und Kommissare, die mit der Säuberung beauftragt sind«. Am 10. Mai 1933 waren dann auf öffentlichen Plätzen in mehr als 20 Städten Bücher verbrannt worden, unter anderem von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Irmgard Keun und Anna Seghers.

Schenk hat die Orte – orientiert an Forschungsergebnissen des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums – nach drei Kategorien eingestuft. Erstens: die systematische zerstörerische Aktion an jenem 10. Mai, ausgehend von der deutschen Studentenschaft und unterstützt durch Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels. Zweitens: spontane Bücherverbrennungen bereits im März und April 1933. Drittens: Aktionen von Nachahmern nach dem 10. Mai, zu denen Gauleiter aufriefen.

Schenk gestaltet die Dokumentation interaktiv; auch, um durch Hinweise, Korrekturen oder Hinzufügen von Dokumenten mögliche Fehler zu korrigieren. Zustimmende Anrufe hat er kürzlich von zwei Zeitzeuginnen erhalten: Die Bücherverbrennungen hätten sie nicht persönlich miterlebt, das Internet nutzten sie selber nicht – sie hielten Schenks Herangehensweise aber für die adäquate Art, das Vergessen des einstigen Terrorstaats im Interesse der nachfolgenden Generationen zu verhindern. Der Fotograf benötigt weiterhin finanzielle Unterstützung: Rund 400 Euro pro Stadt, hauptsächlich für Material- und Reisekosten. Die Arbeit am Projekt wird noch bis 2015 andauern.

verbrannte-orte.de [externer Link]

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. Januar 2014


Zurück zur Seite "Rassismus, Rechtsradikalismus, Faschismus"

Zur Seite "Rassismus, Rechtsradikalismus, Faschismus" (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage