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Das letzte Tabu

Vorabdruck. Lange Zeit ein blinder Fleck: Die Verbrechen der Großbanken und Konzerne während der Nazizeit

Von Ulrich Schneider *


In diesen Tagen erscheint im Kölner PapyRossa-Verlag unter dem Titel »Von Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr von 1933 bis 1945« ein Sammelband zur Rolle der Großkonzerne und Banken während der Nazizeit. Herausgegeben von dem Bundessprecher der VVN-BdA, Ulrich Sander, enthält der Band Texte von u.a. Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker und Hans Heinrich Holland. Die "junge Welt" veröffentlichte einen Auszug aus dem einleitenden Aufsatz von Ulrich Schneider, den wir im Folgenden dokumentieren.

Ohne die massive Unterstützung der Großindustrie (das populärste Beispiel ist sicherlich Fritz Thyssen, »I paid Hitler«), der preußischen Großgrundbesitzer und der Großbanken wäre der Weg der NSDAP und der faschistischen Banden zur Machtübernahme und die Etablierung der politischen Herrschaft nicht möglich gewesen. Die politische Unterstützung durch Denkschriften und andere Formen der Einflußnahme auf die Politik, die finanzielle durch die Großspenden – u.a. durch den Kohlepfennig der rheinischen Schwerindustrie – und die gesellschaftliche Unterstützung durch gemeinsame Auftritte in der Harzburger Front und bei anderen Gelegenheiten, waren eine zentrale Voraussetzung zur Durchsetzung der NSDAP als Instrument der faschistischen »Krisenlösung«. Diese Fakten waren bereits 1933 bekannt. Die berühmte Fotomontage von John Heartfield »Der Sinn des Hitlergrußes« aus der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung brachte dieses Verhältnis optisch auf den Punkt. (...)

Aus diesem Grunde war es 1945 auch völlig unstrittig, daß bei der politischen Ausschaltung der für die faschistischen Verbrechen Verantwortlichen und deren juristischer Verfolgung die Wirtschaft und ihre Repräsentanten im gleichen Atemzug mit Vertretern des Militärs oder anderer gesellschaftlicher Eliten genannt wurden.

Ein deutlicher Beleg für diese Einschätzung sind die OMGUS-Akten von 1947. Das »Office of Military Government for Germany« (OMGUS) ersetzte ab dem 29. September 1945 den »US Group Control Council« (USGCC) der US-amerikanischen Armee, welcher bereits im August 1944 in London geschaffen worden war. Zu den Aufgaben der OMGUS-Mitarbeiter gehörten die Entnazifizierung und die Beschaffung detaillierter Informationen über die Verstrickungen der deutschen Wirtschaft in die Naziherrschaft.

Drei große Untersuchungsberichte wurden vorgelegt: »Ermittlungen gegen die Deutsche Bank«, »Ermittlungen gegen die Dresdner Bank« und »Ermittlungen gegen die I.G. Farbenindustrie AG«. Diese umfangreichen Dokumentationen (auch »OMGUS-Akten« genannt) belegten die Einbindung in das faschistische Regime und dienten bei den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial insbesondere gegen den I.G.-Farben-Konzern.

Material war also hinreichend vorhanden, mit dem die Rolle und Verantwortung von Industrie und Wirtschaftsführern nachgewiesen werden konnte. Folgerichtig wurden in den ersten Wochen alliierter Besatzungszeit verschiedene Wehrwirtschaftsführer und andere Verantwortliche von Rüstungsbetrieben und Banken durch die Besatzungsmacht verhaftet und in Internierungslager gebracht. Sie sollten greifbar sein, wenn die politische und juristische Aufarbeitung der faschistischen Massenverbrechen beginnen würde.

Doch mit dem politischen Wechsel in den USA [1] und dem anschließenden Wandel der westalliierten Besatzungspolitik unter General Lucius D. Clay veränderte sich auch der Umgang mit Unternehmern und Wirtschaftsführern in den Internierungslagern. Nur diejenigen, die in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und Nachfolgeprozessen angeklagt werden sollten, blieben interniert. Viele andere wurden »auf Ehrenwort« entlassen oder als »unverzichtbare Fachleute« wieder in ihre ehemalige Funktion eingesetzt – sehr zum Leidwesen der Beschäftigten in den betreffenden Konzernen, von denen sich viele einen Neuanfang ohne die ehemaligen Kapitalisten vorgestellt hatten.

Trotz dieser Rahmenbedingungen fanden die Prozesse gegen Vertreter der Wirtschaft in Nürnberg noch statt. Im April 1947 begann der Flick-Prozeß (Fall V), im August 1947 der I.G.-Farben-Prozeß (Fall VI) und im Dezember 1947 als Fall X der Krupp-Prozeß.

Die Anklagepunkte waren im Kern vergleichbar, wenngleich die jeweilige Beteiligung an den Verbrechen unterschiedlich war. Es ging um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Zwangsarbeit und Deportation zur Sklavenarbeit sowie um Plünderung in besetzten Gebieten, um die Mitgliedschaft in Himmlers Freundeskreis und die in verbrecherischen Organisationen (NSDAP, SS etc.).

»Segensreiche Freundschaft«

Im I.G.-Farben-Prozeß saßen 23 Angeklagte vor Gericht, unter ihnen als Hauptangeklagter Carl Krauch, der Aufsichtsratsvorsitzender des Konzerns, gleichzeitig Hermann Görings direkter Berater und der führende Mann der gesamten chemischen Industrie war. Görings Vier-Jahres-Plan zur wirtschaftlichen Vorbereitung des Krieges war zu 75 Prozent ein Farben-Projekt. Die I.G. entwickelte ihre eigenen Pläne für die Annexion der chemischen Industrie in den von Deutschland zu überfallenden Ländern, und zwar gleichzeitig mit den militärischen Plänen, und setzte sie sofort um, nachdem die einzelnen Eroberungen abgeschlossen waren. Die Beratung der I.G. Farben mit den militärischen und politischen Führern überstieg bei weitem das Gebiet der technischen Angelegenheiten, war äußerst aggressiv und in jeder Beziehung auf Krieg gerichtet. Selbst bezogen auf das Vernichtungslager Auschwitz sprach der Aufsichtsrat von einer »segensreichen Freundschaft mit der SS«.

Trotz einer erdrückenden Fülle von Dokumenten und Zeugenaussagen kam es in diesem Prozeß nach einer Mehrheitsentscheidung zu Urteilen, die – wie ein zeitgenössischer Beobachter formulierte – »einen Hühnerdieb erfreut« hätten. In neun von zwölf Anklagepunkten wurden alle Angeklagten – mit teilweise abenteuerlichen Begründungen – freigesprochen. (...) Der politische Wille war offensichtlich, die Verantwortlichen des I.G.-Farben-Konzerns zu entlasten.

Die Tatsache, daß die meisten von ihnen in den 50er Jahren in der Bundesrepublik wieder an den Schaltstellen der chemischen Industrie saßen, macht deutlich, wie weit hier politische und Kapitalinteressen bereits eine »unheilige Allianz« gegen die historische Wahrheit eingegangen sind.

Etwas weniger Glück hatte Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dem gleichzeitig der Prozeß gemacht wurde. Sechs der mit ihm angeklagten Manager wurden für schuldig befunden, sich an Raub und Plünderung fremder Vermögenswerte beteiligt zu haben. Alle bis auf den Angeklagten Karl Pfirsch wurden wegen der Beteiligung am Zwangsarbeiterprogramm mit Zehntausenden Ostarbeitern verurteilt. Auch der enge Zusammenhang zwischen Vernichtungspolitik und KZ-Häftlingseinsatz in einem nahe Auschwitz gelegenen Werk wurde von den Richtern benannt: »Millionen von Gefangenen wurden in KZs zusammengetrieben und dann in Fabriken und Gruben oder auch auf raschere Weise in Gaskammern in den Tod getrieben«. Krupp selber wurde zu zwölf Jahren Haft und zur Einziehung seines gesamten Vermögens verurteilt.

Auch deutsche Antifaschisten zogen, soweit sie unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung des politischen Neuanfangs nehmen konnten, Konsequenzen, die der politischen Verantwortung der Wirtschaft und Banken für die Verbrechen des deutschen Faschismus Rechnung trugen. Die »Beseitigung des Nazismus mit seinen Wurzeln« hieß in Hessen beispielsweise, den Artikel 41 in die Landesverfassung aufzunehmen, der die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und die staatliche Verantwortung für Banken, Versicherungen und Energiewirtschaft beinhaltete. Diese Forderungen wurden von CDU, SPD und KPD gemeinsam getragen, war man sich doch der Verantwortung der Großindustrie und -banken für die Errichtung und das Funktionieren der faschistischen Herrschaft bewußt. Doch bereits Ende der 40er Jahre war diese gemeinsame politische Erkenntnis Vergangenheit. Der Hintergrund dieser Entwicklung war in der beginnenden Restaurationspolitik in den Westzonen zu finden. Kalter Krieg, Ost-West-Konflikt und Spaltungspolitik hatten natürlich auch Auswirkungen auf das öffentliche Geschichtsbild über den Faschismus, seine Verbrechen, die Förderer und Nutznießer. Als es darum ging, die Bundesrepublik antikommunistisch auszurichten, da waren alle gesellschaftlichen Gruppen, auch die, die durch die Beteiligung an faschistischen Verbrechen diskreditiert schienen, wieder Verbündete.

Verdrängte Vergangenheit

Da Wirtschaftsführer des I.G.-Farben-Konzerns bei der »Zerschlagung« der alten Strukturen mitwirkten, der Geschäftsführer der Flick-Gruppe mit den Alliierten verhandelte, gelang es ihnen, daß entscheidende Geschäftsbereiche nicht aus der Hand gegeben werden mußten; Krupp wurde durch eine Entscheidung des amerikanischen Hohen Kommissars für Deutschland, John J. McCloy, am 31. Januar 1951 begnadigt und vorzeitig aus der Haft entlassen. 1953 erhielt er zudem mit dem sogenannten »Mehlemer Vertrag« [2] sein gesamtes Vermögen – unter geringen Auflagen – zurück. Damit wurde ein deutlich sichtbares Zeichen gesetzt, daß das Thema »Entnazifizierung der Wirtschaft« politisch von der Tagesordnung verschwunden war. Mittäter – wie der Naziwirtschaftsminister und Reichsbankpräsident ­Hjalmar Schacht – wurden nicht nur als »Mitläufer« verharmlost. Schacht erhob sogar selbst noch Ansprüche, als »Verfolgter des Naziregimes« zu gelten, was die Absurdität der geschichtspolitischen Entwicklung verdeutlicht.

Insbesondere in der Zeit des »Wirtschaftswunders« gab es kaum Interesse, an die Verantwortung der Großindustrie für die Verbrechen des deutschen Faschismus zu erinnern. Erst die beginnende Auseinandersetzung mit der verdrängten faschistischen Vergangenheit Ende der 60er Jahren durch die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition brachte das Thema wieder auf die Tagesordnung.

In einer Debatte der marxistischen Zeitschrift Argument Ende der 60er Jahre über »Primat der Politik oder Primat der Ökonomie« wurde zum ersten Mal wieder ausführlich über die wirtschaftliche Dimension der faschistischen Vernichtungspolitik diskutiert. Damit war die Rolle der Unternehmen als Teil des faschistischen Systems selber zum Gegenstand geworden.

Einfluß auf die Debatte hatte auch das 1974 veröffentlichte Grundlagenwerk von George W. F. Hallgarten und Joachim Radkau »Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute«. Die Deutsche Bank setzte 1976, nach Hallgartens Tod, beim Verlag durch, daß einige Passagen des Werkes über die Rolle der Deutschen Bank im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges sowie über die von Hermann Josef Abs beim Abkommen von 1952 (»Wiedergutmachung« für Israel) geschwärzt werden mußten. Auch anderen Autoren, die die Verantwortung von Industriellen und Großbetrieben für faschistische Verbrechen anprangerten, mußten damit rechnen, daß die juristische Keule geschwungen wurde. Der Schriftsteller F.C.Delius wurde in einem langjährigen Rechtsstreit gezwungen, in seinem Buch »Unsere Siemens-Welt«, das als »Anti-Festschrift« zum 125jährigen Siemens-Jubiläum erschien, Schwärzungen vorzunehmen.

Der Verfasser selber konnte erleben, daß der I.G.-Farben-Nachfolger Behringwerke AG Marburg ihm juristische Konsequenzen androhte, als er Dokumente über deren Beteiligung an Menschenversuchen im KZ Buchenwald veröffentlichte. Insbesondere die Kritik an persönlich an Verbrechen beteiligten Repräsentanten der Großindustrie, wie Friedrich Flick, Hermann Josef Abs, Hanns Martin Schleyer führte einerseits zu juristischen Auseinandersetzungen, andererseits aber auch zu einer größeren Sensibilität der Öffentlichkeit für die Rolle der Industrie und der Großbanken im Faschismus.

Der immer größeren Zahl von Publikationen kritischer Historiker über die Rolle von Unternehmen und Unternehmern im Faschismus, bei denen insbesondere Otto Köhler mit zahlreichen profunden Veröffentlichungen für Ärgernisse sorgte, stand die zunehmende Abwehrhaltung der Betriebe gegenüber, sich selbst dieser Themen anzunehmen. Betriebsarchive blieben für unabhängige Wissenschaftler verschlossen. Teilweise beauftragten Unternehmen ihnen genehme Historiker (die dann später oftmals mit gutdotierten Posten als »Hausarchivar« belohnt wurden), eine entsprechende Hausgeschichte zu verfassen. Exemplarisch kann dies an zwei Veröffentlichungen zur I.G.-Farben-Geschichte nachgezeichnet werden. 1986 legte Otto Köhler mit dem Buch »… und heute die ganze Welt. Die Geschichte der I.G. Farben und ihrer Väter« eine kritische Unternehmensgeschichte vor, in der ausgehend von den Dokumenten des I.G.-Farben-Prozesses (Fall VI) die Rolle des Konzerns im Faschismus nachgezeichnet wurde. Vier Jahre später antwortete der Konzernnachfolger mit dem Buch von Gottfried Plumpe »Die I.G. Farbenindustrie AG – Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945«. Plumpe durfte sich darin im Sinne des Konzerns auch über »die politische Rolle der I.G. in der Geschichte, über die noch immer viele Mythen und Legenden existieren«, auslassen, so der Klappentext des Buches.

Öffentlicher Druck

Einen tatsächlichen Aufschwung kritischer Unternehmensgeschichtsschreibung unter Einbeziehung der NS-Zeit erlebte man Mitte der 90er Jahre im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung. Die durch Sammelklagen juristisch unterfütterten Forderungen nach Entschädigung ehemaliger Sklavenarbeiter nicht allein aus den Rüstungsunternehmen brachten das Thema »Rolle der Wirtschaft und der einzelnen Unternehmen im Faschismus« erneut auf die Tagesordnung.

Angestoßen durch die Forderungen nach Entschädigung und den Vorschlag, einen Fonds einzurichten, in den Unternehmen und Staat einzahlen, um die Ansprüche kollektiv abzudecken, begannen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, Geschichtswerkstätten, Historiker von Regionalarchiven, universitäre Forschungsgruppen und die kapitalnahe »Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.« (GUG), sich aktiv mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern in verschiedenen Branchen und Unternehmensteilen zu beschäftigen. Es würde den Rahmen dieser Zusammenfassung sprengen, die öffentliche Debatte um Zwangsarbeit und Entschädigung hier auch nur ansatzweise nachzeichnen zu wollen.[3] Das Ergebnis dieser Initiativen war eine große Zahl von zumeist regionalen Studien zur Zwangsarbeit und Dokumentationen, die das persönliche Schicksal von Frauen und Männern, die als Sklavenarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt waren, anschaulich belegten. Begegnungen mit Überlebenden und damit Zeitzeugen dieser Verbrechen fanden einen öffentlichen Niederschlag. Damit wuchs auf der einen Seite die gesellschaftliche Erkenntnis, daß Sklavenarbeit, d.h. die Ausplünderung von KZ-Häftlingen, Deportationen zur Zwangsarbeit und die Ausbeutung von angeworbenen ausländischen Arbeitskräften ein Massenphänomen der deutschen Wirtschaft war, dem sich so gut wie kein Unternehmen entzogen hatte. Ende 1999 wurde im Neuen Deutschland und in anderen Publikationen eine Liste von 2500 deutschen Unternehmen veröffentlicht, in denen Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Es gab nicht einen Fall, in dem ein Unternehmen gerichtlich versucht hätte, die Nennung auf dieser Liste in Frage zu stellen, so daß davon auszugehen ist, daß diese Auflistung korrekt ist.

Auf der anderen Seite begannen die Unternehmen selber, ihre Firmengeschichte aufzubereiten und eine »Sprachregelung« bezüglich des Zwangsarbeitereinsatzes und anderer Formen des Eingebundenseins in die faschistischen Massenverbrechen zu suchen. Einzelne Unternehmen versuchten – an die öffentliche Resonanz des Films »Schindlers Liste« anknüpfend – darauf hinzuweisen, daß es die Zwangsarbeiter in ihrem Unternehmen doch gar nicht so schlecht gehabt hätten. Hans Mommsen beschrieb die Bereitschaft, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, in einem Interview im Dezember 2007 so: »Es gehörte allmählich zum guten Ton, daß ein Unternehmen dies tat.« Jedoch geschah dies in vielen Fällen erst auf öffentlichen Druck, und es bedeutete nicht, daß tatsächlich Verantwortung für die Verbrechen übernommen oder die Beteiligung eingestanden wurde.

Exemplarisch steht dafür der Fall der Dresdner Bank. In einer Fernsehdokumentation des Hessischen Rundfunks aus dem Jahre 1997 von Dagmar Christmann und Thomas Rautenberg wurden einer breiten Öffentlichkeit konkrete Hinweise auf die tiefbraune Vergangenheit des Unternehmens vorgestellt, von reichlich juristischen Querelen begleitet. Offiziell erklärte die Bank, das entsprechende Material sei verbrannt. Tatsächlich befanden sich die belastenden Akten weggeschlossen in einem Hinterhaus in Berlin-Kreuzberg.

Durch den öffentlichen Druck, den diese Veröffentlichung ausgelöst hatte, sah sich der Vorstand der Bank gezwungen, eine eigene Aufarbeitung vorzunehmen. Man beauftragte vier Unternehmenshistoriker, gewährte ihnen Einsicht in mittlerweile in Frankfurt am Main katalogisierte Bestände und erhielt 2006 eine Auswertung von 2374 Seiten, die ergab, wie die Dresdner Bank Teil des verbrecherischen NS-Systems wurde. Insbesondere die engen wirtschaftlichen Beziehungen zur SS verband diese Bank mit den Massenverbrechen des Faschismus. Sie trieb jüdische Firmen gezielt in den Konkurs und verdiente daran gut. Unter Tarnnamen wie »Deutsche Ansiedlungsgesellschaft« oder »Ahnenerbe« wurden die Geschäfte der SS abgewickelt. Die Dresdner Bank war als Großaktionär einer Baufirma an der Errichtung des Vernichtungslagers Auschwitz beteiligt, und nicht zuletzt profitierte sie von den europäischen Raubzügen der Nazis.

Ähnlich kritische Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren über den Flick-Konzern im Dritten Reich, über die BMW-Dynastie der Familie Quandt und über den »Freundeskreis Reichsführer SS« als Netzwerk von Wirtschaft, SS und hoher Ministerialbürokratie erschienen.[4]

Weiße Flecken bleiben

Damit könnte man den Eindruck erhalten, daß das Thema »Wirtschaft als Profiteure und Förderer des Faschismus« hinreichend bearbeitet sei. Dem ist jedoch mitnichten so. Abgesehen davon, daß es immer noch »weiße Flecken« der Geschichtsforschung gibt, steht insbesondere die Popularisierung der Erkenntnisse wissenschaftlicher Aufarbeitung für das allgemeine Geschichtsbild als Herausforderung auf der Tagesordnung. Die Tatsache, daß z.B. Dokumentationen über die Dresdner Bank oder Flick vom Umfang und vom Verkaufspreis nur auf Bibliotheken und einen Kreis von Spezialisten zielen, unterstreicht, daß hier noch viel Raum für antifaschistische Geschichtsaufklärung besteht. Gerade die Auseinandersetzung mit dieser Thematik stellt in zweierlei Hinsicht die ideologischen Vorgaben staatlicher Geschichtspolitik in Frage.

Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Verantwortung von Industrie und Banken für faschistische Verbrechen läßt zum ersten die These von der Gleichheit »zweier Diktaturen« in Deutschland in sich zusammenfallen, zeigt sie doch die reale Dimension der Verbrechen und die gesellschaftlichen Kräfte, die an diesen Verbrechen beteiligt bzw. deren Nutznießer waren. Die Beschäftigung mit den Förderern und Profiteuren des Faschismus paßt nicht in das ideologische Konstrukt der »zwei deutschen Diktaturen«. Die Kategorie des »Unrechtsstaates«, die gleichermaßen auf die NS-Zeit und die DDR-Zeit angewandt werden soll, kann die Verbrechen, derer sich Unternehmen und Banken schuldig gemacht haben, nicht erfassen. Der millionenfache Mord in den KZ, die Ausbeutung von Sklavenarbeitern und die Ausplünderung von überfallenen Ländern hat keine Entsprechung in der Geschichte des Sozialismus. Aus antifaschistischer Perspektive sind die tatsächlichen Verbrechen, die Opfer und Leidtragenden und die Täter und Nutznießer zu benennen. Und es ist zu erklären, warum ein System wie die faschistische Herrschaft in Deutschland gerade für solche Verbrechen wie Raub von Eigentum, Zwangsarbeit und Ausplünderung überfallener Länder die ideale Grundlage darstellte. Damit wird der verbrecherische Charakter faschistischer Ideologie und Politik auch für heute erkennbar.

Zum zweiten führt die Beschäftigung mit den Profiteuren faschistischer Verbrechen zwangsläufig zu der Frage, gegen wen bzw. was sich antifaschistische Strategie richten muß. Antifaschistisches Handeln kann sich unter einer solchen Perspektive nicht allein gegen das provokante und menschenfeindliche Auftreten von Neonazigruppen richten, sondern muß für eine Gesellschaft, in der »der Nazismus mit seinen Wurzeln vernichtet« ist, eintreten. Und die gesellschaftlichen Wurzeln faschistischer Herrschaft finden sich auch in den wirtschaftspolitischen Machtverhältnissen in diesem Land. Diese Erkenntnisse aus dem antifaschistisch-demokratischen Neubeginn von 1945 haben Gültigkeit bis heute. In diesem Sinne kann die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wirtschaft eine wichtige Hilfestellung für eine antifaschistische Orientierung heute und morgen liefern.

Anmerkungen
  1. Gemeint ist der Wechsel von US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu Harry S. Truman und der Beginn des »Kalten Krieges«
  2. Dieser Vertrag wurde 1953 zwischen Krupp und den Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs geschlossen. Eine wesentliche Bedingung war, daß die Berg- und Hüttenbetriebe vom Krupp-Konzern abgetrennt werden müssen
  3. Neben zahlreichen weiteren Veröffentlichungen geben folgende Titel einen guten Überblick über die Auseinandersetzung und die politischen Folgen: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000, Rolf Surmann; Dieter Schröder (Hg.): Der lange Schatten der NS-Diktatur. Texte zur Debatte um Raubgold und Entschädigung, Hamburg/Münster 1999
  4. Johannes Bähr, Axel Drecoll, Bernhard Gotto, Kim Christian Priemel, Harald Wixforth: Der Flick-Konzern im Dritten Reich, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2008; Das Schweigen der Quandts, Film von Eric Fiedler und Barbara Siebert, 2007; Tobias Bütow: Ein KZ in der Nachbarschaft. Das Magdeburger Außenlager der Brabag und der »Freundeskreis Himmler«, Köln 2004
Ulrich Sander (Hg.): Von Arisierung bis Zwangsarbeit - Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945. PapyRossa Verlag: Köln 2012, 367 Seiten, 18 s/w Abbildungen; 16,90 Euro; ISBN 978-3-89438-489-0

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 2. Mai 2012


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