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Timothy Snyder und die Entdeckung der "Bloodlands"

Viel Geschrei und wenig Wolle

Von Kurt Pätzold *

Wenn man auf der ersten Seite der Einleitung zu einem Buch über europäische Geschichte liest, »die meisten Europäer des Jahres 1914 genossen für den Rest ihres Lebens keinen vergleichbaren Wohlstand mehr«, dann fragt man sich, was der Autor vom Leben beispielsweise eines französischen Bergarbeiters oder eines ostelbischen Landarbeiters und anderer Ausgebeuteter weiß, die 1964, siebzigjährig, sich ihrer Jugend und des Jahres erinnern mochten, da der Erste Weltkrieg begann. Eine Einladung zum Weiterlesen ergibt das nicht. Doch der Band handelt von den Beiden, deren Namen am häufigsten genannt werden, wenn von der Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wird: HitlerundStalin.

Dass deren Rollen zueinander in Beziehung gesetzt werden, ist nicht neu und hat seine Berechtigung – vor allem darin, dass der eine den Staat vernichten wollte, an dessen Spitze der andere stand. Und sodann, weil Stalins Armeen mehr als alle anderen zum Sieg über Hitler beisteuerten. Bei Timothy Snyder, Professor an der Yale Universität, sind es jedoch nicht diese Fakten, die im Zentrum der Betrachtung stehen. Er hat auf dem alten Kontinent die »Bloodlands« entdeckt, eine Zone, die er zwischen Berlin und Moskau eingrenzt und die Territorien Polens, der baltischen Staaten, der Ukraine und Russlands umfasst. Was zwischen den Jahren 1933 und 1945 dort geschah, fasst er im Begriff »Zeitalter des Massenmordens «.

Dessen Aufkommen und Geschichte gilt ihm als Schöpfung der beiden Diktatoren. Wieder einmal sind es die großen Männer, in diesem Falle große Verbrecher, die Geschichte machen. Diese Sicht hatte die Historiographie eigentlich im Verlauf des 20. Jahrhunderts verabschiedet. Doch besitzt derlei Geschichtsdeutung den Vorzug, dass Verantwortung und Schuld aufs äußerste eingedampft werden. Da danach auch in den gegenwärtigen Weltzuständen Nachfrage herrscht, ist die Restaurierung kein Wunder.

Die Entdeckung, dass es noch keine Geschichte der »Bloodlands« – man muss die Vokabel in einem Dictionary nicht suchen und der Verlag vertraute bei der Übernahme des Originaltitels darauf, dass er für jedermann übersetzbar ist – gibt, hat den Autor »verblüfft«. Er sah die Zeit gekommen, sie zu schreiben. Das sei, kündigt er an, keine Geschichte »aus der politischen Geographie der Imperien, sondern aus der menschlichen Geographie der Opfer«. Die Herangehensweise erinnert ein wenig an einen Kriminalisten, der glaubt, in der Anatomie durch die Betrachtung eines Getöteten Aufschluss über Täter und Tathergang gewinnen zu können. Snyder meint, überhaupt müsse die Geschichte, womit die Wissenschaft von ihr gemeint ist, »auf einer ganz neuen Grundlage aufgebaut« werden. Seine »Methode« beschreibt er so: Die Geschichte sei erkennbar, in ihr sei alternatives Handeln möglich und sie vollziehe sich chronologisch und müsse so auch dargestellt werden. So oder so ähnlich hatten sich Historiker die Sache schon seit langem gedacht. Die Schwierigkeiten beginnen jedoch gleichsam dahinter.

Chronologisch beginnt Snyder mit dem Ersten Weltkrieg, über dessen Ursachen er nichts zu sagen weiß. Merkwürdig liest sich seine Mitteilung, dass die Deutschen Lenin nach Petrograd »schickten«. Ebenso sein Urteil, der Vertrag von Versailles sei von »moralisierenden Siegern entworfen« worden. Desgleichen die Version, die deutsche Republik von Weimar wurde in ihren Voraussetzungen nicht durch die Revolution erkämpft, sondern erklärt, »um bessere Friedensbedingungenzuerhalten «.

Dann kommt der Autor auf Hitler, seine Vision und Rednergabe, seinen Charme und Vernichtungswillen, seine imperialen Pläne und auf nicht näher bezeichnete Konservative und Nationalisten, mit deren Hilfe er – auch von der Revolutionsangst unbenannter Kreise profitierend–Reichskanzlerwurde. Dieser Buchauftakt erweckt Misstrauen gegenüber weiteren Deutungen Snyders. Demgegenüber fallen Tatsachenfehler wie dieser: Hitler sei mit einem Parteiprogramm, das den armen Bauern Land versprach, Kanzler geworden, oder – später – er habe den am 23. August 1939 geschlossenen Pakt mit der UdSSR unterzeichnet, schon nicht mehr ins Gewicht. (Es waren Ribbentropund Molotow.)

Was Snyder über die sich aller Vorstellungskraft entziehenden Verbrechen schreibt, über die Millionen Ermordeten, Verhungerten und auf vielerlei Weise ums Leben gebrachten, die auf den Konten Hitlers und Stalins und deren Mittätern stehen, ist nicht neu. Er stützt sich auf die internationale Forschung zur Topographie des Terrors, der Lager und Vernichtungsstätten und markiert seinen eigenen Beitrag dazu als gering. Was aber neu ist, ist falsch oder schief. Der im Juni 1941 beginnende Massenmord an den Juden im eroberten sowjetischen Gebiet, der Auftakt des Holocaust, war keine »Improvisation« und nicht, wie behauptet, ein Ersatzplan für die Vertreibung hinter den Ural, zu dem nach dem Scheitern des Blitzkrieges gegriffen wurde. Dem Massenmordauftrag folgten die Einsatzgruppen der Wehrmacht von den den ersten Kriegstagen an. Und ebenso wenig war Stalins »Großer Terror« ein Vernichtungsfeldzug gegen Bauern und nationale Minderheiten allein und auch nicht in erster Linie.

Worauf Snyder zielt, ist die Untaten Hitlers und Stalins zu verzahnen, sie gleichen oder mindestens ähnlichen Motiven entspringen zu lassen und zwischen ihnen eine Beziehung herzustellen, die er modisch »Interaktion« nennt. Auf dieser Linie liegt auch seine Behauptung, der Vertrag vom 23. August 1939 machte sie zu »Kriegsverbündeten «. Wie üblich wird dessen Vorgeschichte, die Außenpolitik der kollektiven Sicherheit ignoriert, der Name Litwinow taucht einzig bei seiner Ablösung auf. Stalin und Hitler, heißt es dann, ließen im September ihre Truppen »gleichzeitig« in Polen einmarschieren. In welcher Absicht? Um – wieder eine Entdeckung – »eine Zerstörung der Aufklärung « zu versuchen. (Da fehlt einige Kenntnis über das Polen Pilsudskis und seiner Nachfolger.) Den Gipfel erreicht diese Art von Beziehungsgeschichte mit der These, Stalin habe »in einem Muster kriegerischer Komplizenschaft« mit eben diesem Hitler den Partisanenkampf befohlen, um die Deutschen zu Rachefeldzügen unter der zivilen Bevölkerung in den besetzten Gebietenanzustacheln.

Die marktschreierische Reklame des Autors, zu der eine etwa 800 Titel umfassende Bibliographie gehört, und die prophetische des Verlages (»für Jahrzehnte das wichtigste Buch zum Thema«), erinnern an die anderthalb Jahrzehnte zurückliegenden Auftritte von Daniel Jonah Goldhagen und seine Entdeckung des »eliminatorischen Antisemitismus « als Antrieb der Judenvernichtung. Wer redet davon heute noch? Ausgenommen Erforscher der Geschichte der Geschichtswissenschaft, die sich auf deren Wege undIrrwegebegeben.

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, C.H. Bec,k, München. 553 S., geb., 29,95 €.

* Aus: neues deutschland, 13. Oktober 20911


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