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Das endlose Gelaber

Standpunkt. Das paßt den führenden deutschen Medien in den Kram: Mit Thilo Sarrazins demagogischen Thesen läßt sich die Bevölkerung bestens von ihrer weiteren Ausplünderung ablenken

Von Kurt Pätzold *

Das Wort »Gelaber« ist in deutschen Landen nicht gleichermaßen geläufig. Der Duden bezeichnet es in der Verbform »labern« als der Umgangssprache zugehörig. Für das Substantiv »Gelaber« aber vermerkt er, es werde regional benutzt. Auch derjenige, zu dessen aktivem Sprachschatz das Wort nicht zählt, weiß doch, daß man »labern« in »dummes Zeug reden«, »ohne Ende schwatzen«, »einfältig schwadronieren« übersetzen kann und für »Gelaber« auch die Bezeichnungen »Geschwätz«, »Geschwafel«, »Gesülze«, »Salbaderei« oder auch das neuere »Blabla« stehen können, wovon letzteres mit »Gelaber« obendrein eine Klangverwandtschaft aufweist.

Aber genug der Linguistik. Sie drängte sich beim Wort »Gelaber« hier vor, weil kaum ein angemesseneres Wort für jene nahezu Abend für Abend in deutsche Fernsehstuben gesendeten Talkshows gefunden werden kann, Veranstaltungen, die irreführend auch »Sarrazin-Debatte« genannt werden. Das kann einem vorkommen, als würde der Garderobenhaken mit dem Mantel verwechselt, der an ihn gehängt ist. Was wird hier in Wahrheit be- und zerredet und worüber wird geschwiegen? Was besagt das Echo eines Buches, das in diesem Fall mehr Interesse beanspruchen kann als das Gedruckte selbst. Denn dieses gibt über seinen Inhalt hinaus häufig auch Auskunft über den Autor, das Echo dagegen viel über die Gesellschaft, in der es entsteht.

Erledigen wir die Sache mit dem »jüdischen« und dem »baskischen Gen« vorab. Eine aufgeklärte Gesellschaft wäre daran so souverän vorbeigegangen wie ein gut genährter Wachhund an einem Stück Aas. Und ein wenig mehr noch: Solch eine Gesellschaft würde sich um einen Text als Ganzes nicht weiter gekümmert haben, aus dem es so riecht. In der hiesigen indessen ist deren Gliedern diese geistige Absonderung in Auszügen serviert und zum Konsum empfohlen worden. Zuerst in der Zeitschrift Spiegel und – gleichzeitig – in dessen Bruderorgan Bild. Beide kamen ihrer Informationspflicht nach. Dann folgte eine Schreibergilde quer durch den deutschen, zunehmend geschädigten Pressewald. Dazu gesellten sich, wie erwähnt, auf Ausbeutbares lauernde Meisterinnen und Meister der Volksaufklärung in den Fernsehstudios.

So und nicht durch Auslagen in Buchhandlungen wurde der deutsche Michel geweckt und mit Dogmen und Parolen versorgt, die ihm der Mann mit dem sozialdemokratischen Parteibuch, der Vergütung eines Noch-Vorstandsmitgliedes der Bundesbank und nun einer auf 10000 Euro erhöhten Pension mitzuteilen wünschte. Ohne diese eilfertige Kollaboration der Medien wäre diese Wirkung nie erreicht worden. Fragt sich: Warum haben sich diese Richtungsweiser der öffentlichen Meinung des Buches so liebevoll angenommen?

Endlich »Wahrheiten«

Nach kurzer Zeit verband sich mit der weitgehend nur vorgetäuschten Debatte über den Inhalt des Buches eine weitere. Gefragt wurde: Darf derlei in der Bundesrepublik eigentlich gedruckt und verbreitet werden? Wer dagegen Einwände erhob, geriet unter die Anklage, das Recht auf Meinungsfreiheit beschneiden zu wollen, kein Demokrat zu sein, zumindest eine andere Meinung, besser aber noch: die unangenehme Wahrheit nicht »aushalten« zu können. Er wurde in die Lage gebracht, in Deckung zu gehen und sich zu verteidigen. Die zu stellende Frage aber, die Klärung verdient, lautet nicht: Zulassung oder Verbot? Sie richtet sich vielmehr an Verleger von Büchern (in diesem Fall an die Deutsche Verlags-Anstalt) sowie an Redaktionen von Zeitungen (insbesondere an die schon genannten) und zielt darauf ab, wie die Medien ihre beanspruchte Rolle als Aufklärer mit der massenwirksamen Verbreitung widerwissenschaftlicher, erkennbar volksverdummender Thesen und Ansichten vereinbaren können.

Auf die vorwurfsvolle Frage haben die Damen und Herren der einschlägigen Häuser indessen eine Entgegnung parat. Niemand von ihnen identifiziert sich mit dem Autor, niemand erklärt sich als dessen Parteigänger, jede und jeder wehrt sich, Verfechter einer seiner Thesen zu sein. Sie erklären einhellig ihr mehr oder weniger tief gespaltenes Verhältnis zu diesem Druckwerk, dessen Autor sich »schrecklich verirrt« habe. Was er schreibe, bestehe jedoch aus zwei in dieser Betrachtung als ganz unzusammenhängend dargestellten Teilen. Den einen charakterisieren die »Rezensenten« mit der verharmlosenden Vokabel »Unsinn«, gelegentlich fallen gar Wörter wie »Mist«. Darauf folgen im Minimum drei in Versalien geschriebene »ABER«. Denn da wäre doch jener andere Teil, der Seiten der bundesdeutschen Wirklichkeit richtig abbilden würde. Jener andere sei demgegenüber zu vernachlässigen, eigentlich auch etwas Alltägliches, bei dem man sich nicht weiter aufzuhalten hätte. Diese Absolution wird mit Argumenten gestützt wie: Auch in der Bibel stünde Falsches und Richtiges beieinander. Wer aber die Wahrheit schreibe, dem könne doch ein gewisses Verdienst nicht abgesprochen werden.

Die famose Differenzierung läßt fragen, wie dieses Personal Reden Adolf Hitlers analysieren würde? Es lassen sich ihm nämlich deren viele präsentieren, in denen dieser Demagoge von Format und ohne geringsten Skrupel neben seinem »Unsinn« Wahrheiten die Menge gesetzt hat, namentlich solche, die Zu- und Mißstände der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik betrafen. Der Mann würde das Reichskanzlerzimmer Bismarcks in der Berliner Wilhelmstraße nie gesehen haben, wäre er auf Plätzen und in Versammlungssälen den Deutschen nur mit dem »deutschen«, »artverwandten«, und »jüdischen Blut« und mit den Germanen und den Ariern gekommen. Er hat von der Armut von Millionen, von der Gleichgültigkeit der Regierenden, der Korruption in den Kreisen der Politik und weiterer Tatsachen gesprochen und so seine Gefolgschaft formiert. Und damit mit diesem Verweis in die deutsche Geschichte niemand kommt und erklärt, hier sei der Sarrazin zum Nazi oder zu Hitlers Lehrling erklärt worden, sei gesagt: Hier wird einzig illustriert und darauf bestanden, wie unsinnig es ist, ein antiaufklärerisches Buch zu empfehlen, weil sich in ihm auch »Wahrheiten« finden lassen.

Zu den »Verdiensten« des Autors gehört nach dem Befund vieler, er habe ein Tabu gebrochen. Das ist eine modische Empfehlung und erprobte Reklamefloskel, mit der heutzutage viele Druckwerke auf den Weg zu ihren Lesern geschickt werden. Hier aber, so die differenzierenden Geister weiter, handele es sich nicht um das Ende eines Beschweigens allein. Der Mann habe der Seele des Volkes endlich Gehör verschafft: Was er niederzuschreiben sich getraute, habe Millionen geradezu eine Erleichterung verschafft, sie mit neuer, längst aufgegebener Hoffnung erfüllt. Die Wirkung des »Wahren« und »Richtigen«, das sich auf den Seiten dieses Werkes lesen lasse, wird in den Rang einer endlichen Erlösung geredet und geschrieben. Man müsse offen über die Zukunfts- und Sicherheitsängste der Menschen sprechen. Am besten, in dem man diesen ungenannten noch das Horrorszenario hinzufügt, daß ihre Nachfahren dereinst sich im Gewimmel primitiver Fremder werden behaupten müssen. Auch das hatten wir schon. Doch mögen weitere Reminiszenzen beiseitebleiben. Hier sei nur noch angemerkt, daß von den anderen, die keiner Erlösung dieser Art bedürfen, dieses Buch ablehnen, seinen Inhalt verwerflich und als Ausgangspunkt für jegliche Debatte ungeeignet finden, in seinem Erscheinen und der dafür gemachten Reklame einen Skandal erblicken, ungleich weniger gesprochen wird. Vorgeführt werden »Erlöste«, die übrigens selten gefragt werden, ob sie gelesen haben, was da in Rede steht und ihre Billigung findet. Kritiker entgehen hingegen im Straßeninterview nur selten der Frage nach ihrer Belesenheit.

Die Verbindung zu den Massen

Ein gesondertes Wort verdient das Echo aus den Mündern »unserer« Politiker. Die wurden zahlreich vor Fernsehkameras und Rundfunkmikrofone gebeten, wo sie dem Autor und dazu Journalisten, Publizisten, gar einer Schriftstellerin begegneten, Runden, in die sich merkwürdigerweise aus der doch nach Tausenden zählenden Schar von sachkundigen Medizinern und Biologen niemand einfand. (Die haben sich auch sonst verhalten wie der schon beschriebene satte Wachhund.) »Unsere« Politiker nun lieferten zunächst wortreich Beweise der auch ihnen gegebenen Fähigkeit differenzierten Denkens und Urteilens von sich wiesen jede Unterstellung von sich, daß es ihnen an Demokratieverständnis mangele. Sodann bezogen sie die Position »großer Jagdhund«, will sagen, sie zeigten sich selbstkritisch. Was ihr sozialdemokratischer Kollege da an Richtigem geschrieben habe, verweise auf Versäumnisse der Politik im allgemeinen und, da werden die Stimmen leiser, auch der eigenen. Da müsse geändert, gebessert, korrigiert, präzisiert, gehandelt und gewandelt werden.

Was vor allem? Die Verbindung zu den Massen. An der habe es mehr oder weniger weitgehend gefehlt. Wie diese »Lücke« zustande gekommen sei, ob es sich um eine strukturelle, zufällige oder sonst irgendeine handelte, erklärt niemand. Ursachenforschung ist nicht angesagt, hingegen das Versprechen eigenen Lernens, und zwar alsbald. Jedenfalls müsse der Abstand zwischen Regierenden und Regierten beseitigt werden, zumal daraus Gefahren verschiedenster Art drohen würden.

Was wird zu diesem Zwecke getan werden? Die Antwort lautet unisono: Wir müssen mehr miteinander reden. Das hört sich bekannt an und erinnert an reiche Erfahrungen. Die Rollen sind klar verteilt. Die einen reden und die anderen hören zu. Die Redenden erklären, daß es zu ihren Beschlüssen und Wegen keine Alternative gibt, verweisen auf Sachzwänge, fordern Einsicht und Geduld. Über diese Methode und ihren Zweck hat Heinrich Heine das Nötige gesagt. Zu diesen Reden vom Wandel gehört der wortreiche Hinweis: Wir haben ja manches schon getan. Es muß aber noch mehr und besser getan werden. Das können wir nicht allein, dabei müßt ihr uns helfen und mitmachen. So weiß das Völkchen Bescheid und fühlt sich obendrein gerufen und gebraucht. Werden die Versprechen der Politiker eingehalten, steht den Deutschen eine weitere Redeschwall- und Charmeoffensive bevor.

Von Hauptfragen ablenken

Zurück zu der bis hierher zurückgestellten Frage, warum den Chefs der großbürgerlichen Presse und den Dirigenten von Rundfunk und Fernsehen das Buch Sarrazins so bedeutsam erschien, daß sie ihm solche gesellschaftliche Aufmerksamkeit verschafften. Kurz gesagt: Mit ihm ließ sich eine landesweite Auseinandersetzung auslösen und nähren, die ihnen in den ideologischen und politischen Streifen paßt. Ihr vorgegebenes Thema lautet: die Integration der Menschen mit »Migrationshintergrund«. Gemeint sind in Wahrheit zwei Fragen: Wie viele Ausländer sollen in Deutschland bleiben? Und wie haben sich diese Ausländer unter uns und zu uns zu verhalten, besser: zu benehmen. Noch besser: Wozu sind sie verpflichtet? Beide Fragen müßten nun endlich in dieser Gesellschaft besprochen, geklärt und beantwortet werden.

Warum sagte in diesen Laberrunden eigentlich niemand einmal laut: Hier wird eine Nebenfrage der Gesellschaft zu ihrer aktuellen Hauptfrage gemacht? Weil nicht eingestanden werden darf, daß die Probleme des Lebens dieser hoch fraktionierten Menschengruppe, auf die momentan die Scheinwerfer grell gerichtet werden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Probleme sind, die aus dieser Gesellschaft erwachsen, gleichsam einen ihrer Spezialfälle darstellen. Hier liegt in Wahrheit die Tabuzone. Diese deutsche Gesellschaft driftet auseinander, das bestreitet noch kaum jemand, statt dessen werden dafür Erklärungen und Rechtfertigungen geliefert. Das dafür gebräuchliche Bild ist die auseinandergehende Schere von reich und arm. Die Tatsachen sind längst in unserem Sprachgebrauch, Prekariat beispielsweise. In den Städten sondern sich reich und arm in Wohngegenden in einem bisher unbekannten Grad voneinander ab. Die Zahl der vornehm »Tafeln« genannten Armenküchen und Verpflegungsstellen wächst. Kinder erhalten in Schulen ihre erste Tagesmahlzeit, nicht in ihren Familien. Hunderttausende angestrengt Arbeitende können ihre Familien nicht durchbringen und erbetteln auf Ämtern ein wenig von dem, was ihnen fehlt.

Das ist der »Hintergrund«, vor dem die speziellen Situationen und Probleme entstehen, die in dieser »Sarrazin-Debatte« unerträglich genannt und deren Abschaffung gefordert werden. Brauchen wir nicht vielleicht eine Diskussion über diese Generalprobleme unserer Gesellschaft, ihre Ursachen und Wege und Methoden, ihnen beizukommen? Diese Debatte hätte ein anderes Thema als die jetzt oktroyierte: Welche Gesellschaft haben wir – und welche wollen wir? Für uns und für die mit uns Lebenden. Dies sind keine Fragen, die Spiegel und Bild gefallen. Wofür beide die Initialzündung geliefert haben, ist ein Lärm, der ablenkende Funktion besitzt. Warum ist in Runden vor den Fernsehkameras darauf keiner gekommen? Warum haben die dazu Eingeladenen statt dessen immer wieder die Rolle von Lautverstärkern übernommen?

Diesen Zusammenhang herstellen, heißt nicht, daß über das, was selbst unter den herrschenden, widrigen allgemeinen Bedingungen auf dem Feld der Integration geschehen kann, nicht zu reden wäre. Das erste Verdienst, das sich ein aufklärendes Medium erwerben kann, besteht darin klarzustellen, was das Wort »Integration« meint und was nicht. Eine gebildete Dame unter den Debattierenden hat ihr Fehlverständnis mit der Forderung ausgedrückt, es müßte dazu die Beschäftigung mit deutscher und europäischer Geschichte und Kultur gehören. Das erinnerte an das blamable Ergebnis einer kürzlich vor einem Goethe-Gymnasium vorgenommenen Lehrer- und Schülerbefragung, wer der Autor der Gedichtzeile »Über allen Wipfeln ist Ruh’« sei. Kopfschütteln, Achselzucken und Rateversuche. Von denen, die mit dem Begriff »Integration« hantieren, will ein Teil nicht mehr und nicht weniger, als daß diese Leute gefälligst Deutsche werden, weil es Höheres nicht gibt. In derlei Haltung offenbart das Reden über den deutschen Forderungskatalog an Immigranten eine nicht zu vergessende Seite und Wirkung. Nebenher erhöhen sich dabei Selbstwert- und Überlegenheitsgefühl. Da wären wir wieder in der Vergangenheit, in die wir nicht zurückwollen.

Wer klären will, was aktuell zu tun wäre, kann nicht mit dem Fingerzeig auf die »Integrationsunwilligen« beginnen, woran sich mit erkennbarer Vorliebe die Fragen anschließen: Besitzen wir schon genügend Instrumente für Sanktionen und werden die nur nicht strikt genug angewendet oder müssen sie vermehrt werden? Genügt die Kürzung von Sozialhilfen oder muß nicht ...? Und so weiter.

Worüber vor allem, wenn nicht nur Luft bewegt werden soll, geredet werden muß, ist die Tatsache, daß das Zusammenleben mit Türken oder Angehörigen arabischer Völker sowie deren Nachkommen nicht so billig zu haben ist wie die Eingliederung der Deutschen, die aus der DDR »in den Westen« kamen. Das hat die vielen Gewinner dieser aus »Republikfluchten« herrührenden Einwanderung etwas – sagen wir – verwöhnt. Diese Schwestern und Brüder kamen durchweg gut ausgebildet, sprachen deutsch. Der sächsische Einschlag war unangenehm, aber doch zu verstehen, auch waren sie nicht durchweg katholische oder evangelische Chronisten, doch dies ließ sich verschmerzen. Diese Integration ersparte Kosten in übrigens überschaubarer Höhe.

Wenn hingegen am Tisch der Bundesregierung heute Beschlüsse über Maßnahmen zur Förderung von Integration gefaßt werden, ohne daß gesagt wird, wer dafür die Kosten aufbringt, sondern dies von den hochverschuldeten Kommunen erwartet wird, so sind das Gesten, denen keine Taten folgen werden. Auf diesem Feld halten sich die Runden in den Fernsehateliers, deren Teilnehmer meist Universitäts- und Hochschulausbildungen hinter sich haben, auch besonders vornehm zurück. Dabei ließe sich doch vorschlagen, es sollten die Gelder, die für den Krieg der Bundeswehr ausgegeben werden, dessen Aussichtslosigkeit inzwischen eingestanden wird, hierzulande investiert werden. Übrigens: Gelder erfordern auch Bildungsprogramme, aus denen Deutsche – unverpflichtet – ein wenig über den viel zitierten »Hintergrund« erfahren könnten, aus dem Migranten in unserer Mitte und vielfach an unserem Rande aufgetaucht zu sein scheinen.

Rückbesinnung auf eine Tradition?

In der derzeit geführten Debatte drängen sich namentlich jene Politiker vor, die seit kurzer Zeit mit Mißbehagen sehen, daß aus schwer erklärlichen Gründen die deutsche Sozialdemokratie aus ihrem Umfragetief herauskrabbelt. Ließe sich, fragen die darob Besorgten, dagegen nicht auch das langjährige Mitglied, das in und mit der SPD eine einträgliche Karriere in Politik und Wirtschaft gemacht hat, und der Propagandarummel um sein Buch ein wenig mit Bremswirkung verwenden? Die einen lasten der SPD an, daß sie sich nicht schon vor längerem von ihrem Genossen getrennt hat, andere, daß sie es nun tun will. Und dann ist da der unausgestandene Streit in den eigenen Reihen, wie mit dem Dissidenten verfahren werden soll.

Da hat der Parteivorsitzende Siegmar Gabriel – das verdient Erwähnung allein schon deshalb, weil es selten vorkommt – sich der fernen Parteigeschichte erinnert und eine Tradition erwähnt, der er sich verpflichtet fühlt. Er mag ein Jahrhundert und mehr zurückgedacht haben, an die Rolle Liebknechts und Bebels, Bernsteins und Kautskys, Zetkins und Luxemburgs – wahrscheinlich nicht an sie alle –, und hat dabei jene Verpflichtung zum Kampf gegen Rassismus und die Gliederung der Menschheit in Höher-, Weniger-, Minder- und Unwertige aufgespürt. Mit der Vermittlung dieses humanistischen Gedankengutes an die Mitgliedschaft hätte er ein Auftaktprogramm für ein Parteilehrjahr. Es wäre für viele Mitglieder kein Wiederholungskurs. Im Programm zum Lehrjahr könnte dann auch gehören, was die Altvorderen über Kriege, die Kolonialkriege im besonderen, dachten, schrieben und sagten.

* Aus: junge Welt, 15. September 2010


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