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Eine Gefahr für die Demokratie

Anwalt Eberhard Schultz stellte Strafanzeige gegen Thilo Sarrazin

Die einen streiten sich in den Feuilletons über sein Buch, andere protestieren auf der Straße, wieder andere diskutieren seinen Parteiausschluss. Zwei Frauen haben sich zu einer Strafanzeige gegen Thilo Sarrazin entschlossen.

ND: Sie haben Strafanzeige gegen Thilo Sarrazin bei der Berliner Staatsanwaltschaft gestellt – im Auftrage von ...?

Schultz: Im Auftrag von Azize Tank und Gabriele Gün Tank, zwei Berlinerinnen, bekannt als Immigrantenbeauftragte a. D. von Charlottenburg-Wilmersdorf bzw. gegenwärtige Immigrationsbeauftragte von Schöneberg-Tempelhof, aber nicht »von Amts wegen«, sondern als Privatpersonen. Azize Tank meint: »Sarrazins Äußerungen führen zu Vorurteilen, verknüpft mit weitreichenden, in dieser Radikalität nur von antidemokratischen, rechtsextremen Parteien erhobenen Parolen. Sie sind auch eine Gefahr für unsere Demokratie und Wertegemeinschaft. Sie schaden dem Bild Deutschlands in der Welt.«

Nur die beiden Frauen klagen?

Es besteht die Möglichkeit sich der Strafanzeige anzuschließen und so zum Ausdruck zu bringen, dass sie eine breite Unterstützung findet.

Gegen welche Paragrafen hat Sarrazin verstoßen?

Insbesondere gegen den der Volksverhetzung nach Paragraf 130 Abs. 1 Nrn, 1, 2 des Strafgesetzbuches wegen der Verbreitung von Schriften, die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt und deren Menschenwürde angreift, also nach Paragraf 130 Abs. 2 StGB. Sodann wegen Beschimpfung von Religionsgesellschaften nach Paragraf 166 Abs. 2 StGB sowie Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung entsprechend den Paragrafen 185 und folgende des StGB.

Glauben Sie, dass Sie Erfolg haben werden, die Staatsanwaltschaft den Strafantrag ohne Ansehen der Person aufnimmt? Sarrazin ist kein dumpfer, Basebalschläger schwingender und Ausländer-raus grölender Skinhead, sondern eine Person mit Macht und Einfluss. Dass solche oft nicht belangt werden, ist ein Erfahrenswert.

Ein Erfolg wäre schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach Bejahung eines Anfangsverdachtes gegen den Bundesbankvorstand. Ob am Ende eine Anklage oder gar eine Verurteilung herauskommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben den juristischen Fragen auch von der Unterstützung durch die Öffentlichkeit. Die Strafanzeige ist umfangreich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet worden, damit sie nicht wie im letzten Jahr abgelehnt wird, weil kein Anfangsverdacht vorliege.

Juristisch wird das Problem, dass menschenverachtendes, rassistisches Denken nicht nur an Stammtischen, sondern auch von der Elite Deutschlands geäußert wird, nicht zu lösen sein.

Ja, selbst eine Bestrafung Sarrazins, die er sicher verdient hat, würde das in der Gesellschaft weit verbreitete rassistische, islamophobe Denken nicht beseitigen, aber vielleicht dazu beitragen, dass immer mehr Menschen begreifen: Rassismus ist – nach heutigem Stand der Wissenschaft und der internationalen Diskussion – keineswegs nur ein biologisch begründeter Herrenrassenwahn. Zunehmend basieren rassistische Argumentationsmuster auf Zuschreibungen, unterschiedliche Zitate wie »Kulturen«, »Nationen«, »Ethnien« oder »Religionszugehörigkeit«. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion vermeintlich homogener Gruppen, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte, negative Eigenschaften zugeschrieben werden.

Dieser Tage wird es 75 Jahre her sein, da die Nazis die Nürnberger Rassengesetze verabschiedeten. Mit einigen Äußerungen liegt Sarrazin nicht allzu fern von deren Rassebiologie. Wenn demokratische Selbstzensur seitens eines Verlages ausbleibt, müsste dann nicht ein Buch verboten werden können?

Auch wenn ein Verlag nur an kurzfristigen finanziellen Erfolgen interessiert ist, sollte er doch den Inhalt von Büchern mit solchen umstrittenen gesellschaftlichen Problemen genau analysieren und im Fall Sarrazins dessen Parteigänger am äußersten rechten Rand beobachten. Und wenn ein Verlag seinen aufklärerischen Anspruch ernst nimmt, müsste ein solches Buch da landen, wo es hingehört: nicht auf den Markt, sondern auf den Müllhaufen der Geschichte.

Auch das renommierte Deutsche Institut für Menschenrechte hat festgestellt, »dass wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen jenseits des menschenrechtlich zulässigen und des unveränderlichen Kerns des Grundgesetzes liegen«; zudem seien seine »rassistischen Kategorisierungen in einer Gesellschaft, die sich zu den Menschenrechten bekennt, nicht hinnehmbar«.

Was ein Verbot des Buches anbetrifft – dies müsste von den zuständigen Stellen geprüft werden.

Welche persönlich Erfahrungen haben Sie mit Migranten?

Ich vertrete Migranten und Migrantinnen seit drei Jahrzehnten anwaltlich, die meisten aus der Türkei und aus den angrenzenden arabischen Ländern. Ich habe die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht, ähnlich wie bei den »bio-deutschen« Mandanten. Zwei möchte ich hervorheben: Selbst diejenigen, die die deutsche Sprache nicht beherrschten, waren keineswegs dümmer als die »Bio-Deutschen« ähnlicher sozialer Herkunft und Bildung und die meisten von ihnen wussten engagierte Rechtsanwaltstätigkeit sehr viel mehr zu schätzen. Migranten haben mein Leben kulturell und persönlich in vieler Hinsicht bereichert.

Fragen: Karlen Vesper

* Der Jurist Eberhard Schultz (Jg. 1943) ist u. a. in der Internationalen Liga für Menschenrechte engagiert. Unterstützung der Strafanzeige möglich unter: Anwaltskanzlei Schultz, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin, Tel.: 030/43725026 oder wwww.menschenrechtsanwalt.de

Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010



Körnchen und Brocken

Von Gesine Lötzsch **

Gibt es nicht ein Körnchen Wahrheit in Thilo Sarrazins Äußerungen? Natürlich, ein Populist ist nur dann erfolgreich, wenn er seinem Gebräu auch offenkundige Wahrheiten untermischt. Die Frage ist, ob wir uns jetzt mit diesem Körnchen oder dem großen Brocken befassen wollen, den uns die Bundesregierung vor die Füße gerollt hat. Die »Bild«-Zeitung hat einen Märtyrer gefunden. Sarrazin wird als der dargestellt, der im Gegensatz zu allen anderen Politikern, endlich die Wahrheit sagen würde. Das propagandistische Strickmuster der »Bild«-Zeitung ist das gleiche wie bei der Bundespräsidentenwahl: Joachim Gauck wurde gegen das politische Establishment und gegen die demokratischen Institutionen in Stellung gebracht.

Die Reaktionen der meisten Politiker auf Sarrazin sind verlogen. Schon als Finanzsenator fiel er mit absurden Speiseplänen für Arbeitslose auf und empfahl dicke Pullover, wenn das Geld für die Heizung nicht reichen sollte. Bereits zu dem Zeitpunkt hätte man ihn entlassen müssen. Ihn zur Bundesbank wegzuloben, war ein Fehler der SPD. Auch die Kanzlerin ist unaufrichtig. Denn sie setzt Sarrazinsche Forderungen um. Die Abschaffung des Elterngeldes für Arbeitslose ist eine klare Ansage: Kinder aus armen Familien sollen erst gar nicht auf die Welt kommen. So stellt sich die Bundesregierung die Beseitigung der Kinderarmut vor. Die Krisenkosten sollen arbeitslose Schwangere zahlen. Ihnen wird das Einkommen um bis zu 32 Prozent gekürzt.

Die Banker und Spekulanten, die in den Krisenjahren mehr staatliche Transferleistungen erhalten haben als alle Arbeitslosen zusammen, sind aus den Schlagzeilen verschwunden. Sie zahlen keinen Cent aus ihrer eigenen Tasche zur Finanzierung der Krisenkosten. Das ist der eigentliche Skandal, der die Titelseiten füllen müsste.

Für DIE LINKE ist Sarrazin nur eine Sumpfblüte. Wir wollen den ganzen Sumpf trocken legen. Im Mittelpunkt unserer Kritik steht deshalb die Bundesregierung. Dabei geht es nicht nur um mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch um den Erhalt der Demokratie. Die Anzeigenkampagne der Atomlobby zeigt, dass es Kräfte in diesem Land gibt, die jede Achtung vor demokratischen Institutionen verloren haben. Es wird offen gedroht und gezeigt, wer in diesem Land das Sagen hat.

Die Kanzlerin hat ihre Autorität selbst zerstört. Wer den Lobbyisten bisher alle Wünsche von den Augen abgelesen hat, muss sich nicht wundern, dass schon Nachdenklichkeit als Ungehorsam empfunden wird. Die Herren, die die Anzeigenkampagne starteten, haben sie nicht aus der eigenen Tasche bezahlt. Die Kosten werden den Stromkunden in Rechnung gestellt. Man stelle sich vor, arbeitslose Frauen würden solche Anzeigen gegen die Streichung des Elterngeldes schalten – wem sollten sie die Rechnung präsentieren?

Die Demokratie nimmt Schaden, weil die Reichtümer in dieser Gesellschaft immer ungerechter verteilt werden. Die Überbezahlten kaufen sich Kampagnen und Politiker, die Unterbezahlten werden das Ohr der Kanzlerin nie erreichen; es sei denn, sie machen sich mit vielen anderen Menschen auf den Weg, um diese Regierung zu stoppen. DIE LINKE wird diesen Weg mitgehen, für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie.

** Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010 (Gastkolumne)


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