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20 Jahre später

Eine Demonstration erinnerte am Sonnabend an die ausländerfeindlichen Pogrome von Rostock

Von Fabian Lambeck *

»Du hast das Haus ja schon wieder angemalt.« Es war ein Ritual. Immer wenn ich mit meinem Großvater, einem alten Reichsbahner, zum Strand nach Warnemünde fuhr, kamen wir an jenem Haus mit den drei großen Sonnenblumen vorbei. Jedes Mal deute Opa Günther auf die Blumen und behauptete, ich hätte sie dort heimlich angemalt. Im Laufe der Jahre wurde es so irgendwie auch mein Haus. Ich freute mich, wenn ich es sah. Damals in den 80ern war ja noch nicht abzusehen, dass es mein Haus im Jahre 1992 zu trauriger Berühmtheit bringen sollte. Beinnahe hätte ein entfesselter Mob aus Neonazis, Halbstarken und jubelnden Bürgern hier 150 Vietnamesen gelyncht. In letzter Minute hatten sich die ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter mit ihren Kindern aus dem bereits brennenden Haus retten können.

Auch heute, 20 Jahre danach, stellt sich mir die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Wenn man so will, begann alles am 9. November 1989 mit der Öffnung jener Mauer, die bei uns offiziell Antifaschistischer Schutzwall hieß. Offenbar trug er seinen Namen nicht zu Unrecht. Denn schon kurz nach seinem Fall wurde der rote Osten braun. Die wunderbare Anarchie der ersten Wendemonate, in denen wir Kinder unsere neuen Freiheiten genossen, war schnell verflogen. Irgendwann im Frühjahr oder Sommer 1990 kippte die Stimmung. Plötzlich tauchten die ersten Bomberjacken auf. Diese ersten Modelle trugen einen riesigen Aufdruck: »Born to kill« - »Geboren um zu töten«. Auf dem Schulhof hatten die Jungs ihr Butterfly-Messer in der Tasche. Reizgas kaufte man bei vietnamesischen Straßenhändlern und testete es an den Kleinen aus den unteren Klassen. Bald trugen die ersten Glatze und Springerstiefel.

Jene Teenager, die man über Nacht aus der wohlmeinenden Strenge der sozialistischen Erziehung entlassen hatte, fanden sich in einer Welt wieder, in der die alten Regeln nicht mehr galten. Ja, in der gar keine Regeln mehr galten. Weil es keine Autoritäten gab, die die neuen Regeln durchsetzten. Weder die verunsicherten Lehrer, noch die demotivierten Volkspolizisten. Erst recht nicht die eigenen Eltern, die genauso verwirrt wie ihre Kinder durch die neue Welt taumelten. Man hatte die D-Mark herbei geschrien, doch das ökonomische System dahinter hatte man einfach ignoriert. Als die Betriebe in diesem neuen System ins Schlingern gerieten und Massenentlassungen folgten, da kippte die Stimmung endgültig - auch bei vielen Älteren. Aber anstatt ihre Wut gegen jene zu richten, die ihnen blühende Landschaften versprochen hatten, wandte man sich gegen jene, die ebenfalls ihren Platz im neuen System suchten. Die Atmosphäre wurde zunehmend frostiger. Vor allem in den vielen Neubauvierteln Rostocks. Wir aus der Innenstadt mieden die »Ghettos« so gut es ging. Im Nachhinein betrachtet, waren die Ereignisse vom August 1992 der folgerichtige Höhepunkt dieser Entwicklung.

Das brennende Sonnenblumenhaus im Fernsehen hatte keine Ähnlichkeit mit jenem Gebäude, an dem ich mit meinem Großvater in jedem Sommer vorbeigefahren war. Lichtenhagen schien in jenen Tagen im August kein Teil meines Rostocks. So weit weg, so fremd. Es blieb fremd, auch als ich eine Woche später durch Lichtenhagen lief. Zusammen mit 20 000 anderen. Die antifaschistische Demonstration am 29. August 1992 hatte etwas Gespenstiges. Es war, als würde das Viertel diese Fremden belauern. Kaum ein Anwohner ließ sich auf der Straße blicken. Zum ersten Mal hörte ich den Slogan: »Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein«. Doch niemand kam runter. Manche standen auf ihrem Balkon, manche versteckten sich hinter weißen Gardinen. In einem Hochhaus wähnte sich ein Neonazi in Sicherheit und zeigte den Hitlergruß. Irgendjemand aus der Demo schoss Leuchtspurmunition hinauf und traf das offene Fenster. Beifall. Hier wohnte der Feind, der noch eine Woche zuvor Beifall geklatscht hatte, als das Sonnenblumenhaus Feuer fing. Doch nun hatten die Lichtenhagener Angst. Angst vor linken Chaoten. Auch weil in den Tagen vor der Demo jene Zeitungen, die mit ihrer Berichterstattung die Pogrome vorbereiteten, nun Angst vor gewaltbereiten Linksradikalen schürten.

August 2012: Wieder ziehen linke Aktivisten durch Lichtenhagen und wieder sind sie unerwünscht. Die Lokalpresse tut, was sie auch 1992 tat. Allen voran die »Ostsee-Zeitung«. Das ehemalige Organ der SED-Bezirksleitung erklärt in seiner Ausgabe vom Sonnabend die Stadt zur Festung. Seltsame Assoziationen. Die journalistische Panikmache trug ihr Übriges dazu bei, dass viele Rostocker an diesem Sonnabend zu Hause blieben. So sind es letztendlich nur knapp 6000 Menschen, die sich am frühen Nachmittag vorm Treffpunkt am S-Bahnhof Lütten Klein einfinden. »Welcher normale Mensch kommt denn zu so einer Veranstaltung, wenn vorher überall zu lesen ist, dass gewaltbereite Autonome Krawall machen werden?«, fragt sich eine junge Mutter, die mit ihrem Kleinkind gekommen ist. Trotz der Medienberichte im Vorfeld.

Der bunte und laute Zug durch die Ortsteile Lütten Klein und Lichtenhagen ist der Stadt irgendwie unheimlich und vor allem peinlich. Sie will den Jahrestag nutzen, um sich als weltoffene Stadt zu präsentieren, die sich vom braunen Spuk befreit hat. Selbst die örtliche Linkspartei konnte sich lange Zeit nicht dazu entschließen, den Demo-Aufruf zu unterzeichnen. Doch die Genossen sind gekommen. Die roten Fahnen mit dem markanten Schriftzug sind nicht der einzige Farbtupfer. Zwei einsame Piraten halten das orange Banner ihrer jungen Partei. Auch der linke Rocker-Club »Kuhle Wampe« zeigt Flagge. Vorneweg die blau-weiß-gestreiften Fahnen mit dem roten Winkel: Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten - kurz VVN-BdA - war bereits am Vormittag aktiv, als ihr Präsident Heinrich Fink per Akkuschrauber eine Gedenktafel am Rostocker Rathaus befestigte. Die schwarze Tafel mit weißen Lettern ist eine Kopie jenes Schildes, das die Gruppe »Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs« um Beate Klarsfeld bereits 1992 dort aufgehängt hatte. Die im Text gezogene Linie von der NS-Judenverfolgung zu den rassistischen Pogromen war der Stadtverwaltung offenbar unangenehm. Man ließ das Schild sofort entfernen. Diesmal ist alles anders. Bereits im Vorfeld bohrten Angestellte der Stadt passende Löcher in den Putz, um das Anbringen der Tafel zu erleichtern.

Rostock hat sich verändert. Auch Lichtenhagen hat sich verändert. Es ist deutlich bunter geworden. Die Fassaden leuchten in Gelb- und Blautönen. Zwar bleiben auch heute viele Anwohner auf ihren Balkons, doch der eine oder andere lächelt, als die Demonstration vorbeizieht. Auch einige Vietnamesen stehen dort oben. Sie sind mittlerweile ganz normale Bürger dieser Stadt. Mit eigener Wohnung. Ihre Kinder gehen an die Schulen der Stadt. Rassistische Übergriffe auf Schulhöfen hat es in den letzten Jahren nicht gegeben. Zumindest war davon nichts in der Zeitung zu lesen. Ein Vietnamese steht auf seinem Balkon in einem Meer aus roten und rosafarbenen Blumen, lacht und grüßt. Die Idylle scheint perfekt. Doch es gibt sie noch, die grimmig dreinblickenden Kurzhaarigen, denen die Anwesenheit der Linken dort unten ganz und gar nicht gefällt.

Trotz aller Panikmache im Vorfeld bleibt die Demo friedlich. Zwar machen einige unvorsichtige Neonazis am Rande des Zuges unangenehme Bekanntschaft mit der Antifa, doch große Ausschreitungen bleiben aus. Als der Zug dann das Sonnenblumenhaus erreicht, trauen sich auch Anwohnerinnen mit Kinderwagen und Rentner durch die Menge. Ich gehe um den elfstöckigen Plattenbau herum und betrachte die Seitenfassade. Da sind sie noch, jene drei Sonnenblumen, die ich dort einst angemalt haben sollte.

Doch wo sind jene geblieben, die hier vor 20 Jahren Brandsätze schleuderten und Beifall klatschten? Ganz normale Bürger und ihre Kinder. Fast jeder in Rostock kennt jemand, der damals dabei war. Die Entschuldigungen gleichen sich. Die Zigeuner vor dem Haus und eine Stimmung, die einen mitriss. Bleibt zu hoffen, dass hier niemand wieder in Stimmung kommt ...

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. August 2012


Deutsche Eiche gegen Rassismus

Ausländerfeindliches Pogrom von 1992 wirkt immer noch nach

Von Fabian Lambeck **


Am Wochenende jährte sich das ausländerfeindliche Pogrom von Rostock zum 20. Mal. Die Stadt nutzte das traurige Jubiläum, um sich als weltoffene Metropole zu präsentieren. 6000 Demonstranten erinnerten hingegen daran, dass der Rassismus hierzulande immer noch tief verankert ist.

»Heuchler, Heuchler«, schrien einige linke Gegendemonstranten, als Bundespräsident Joachim Gauck am Sonntag mit einer Rede vor dem Rostocker Sonnenblumenhaus an die Pogrome von Lichtenhagen erinnerte. Zuvor hatte er zur Wachsamkeit gegenüber Ängsten vor Fremden aufgerufen. Da hatten einige wohl nicht vergessen, dass Gauck erst im Mai betont hatte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Das war bei weitem nicht die erste Äußerung des ehemaligen Pfarrers und Stasi-Jägers, die Kritiker ihm als fremdenfeindlich auslegen. Ohnehin stand das offizielle Gedenken der Stadt Rostock, das vor allem der Imagepflege dienen sollte, unter keinem guten Stern. So pflanzte Rostocks Bürgermeister Roland Methling am Sonntag vor dem Sonnenblumenhaus ausgerechnet eine Eiche. Der deutsche Schicksalsbaum soll an die Ereignisse von 1992 erinnern.

Bereits am Samstagnachmittag hatten etwa 6000 Menschen »inoffiziell« gegen Rassismus und Rechtsextremismus demonstriert und zugleich Änderungen der Asylgesetze gefordert. Die Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet folgten damit einem Aufruf des Bündnisses »20 Jahre nach dem Pogrom - Das Problem heißt Rassismus«. Viele Redner erinnerten am Rande der Demonstration daran, dass das Asylrecht nach dem Pogrom von Lichtenhagen faktisch abgeschafft worden sei und der rechte Mob damit seinen Willen bekommen habe.

Bereits am Sonnabendvormittag hatten Bündnis-Vertreter am Rostocker Rathaus eine Gedenktafel angebracht. Darauf wird zugleich der Millionen Juden, Sinti und Roma gedacht, die dem Völkermord der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Das deutsche Volk habe die historische Verpflichtung, »zu verhindern, dass sich Gewalt und Menschenverachtung je wiederholen«, heißt es dort. Die Rostocker Bürgerschaft will demnächst beraten, was mit der Tafel geschehen soll. Sie ist die Replika einer Tafel, die Beate Klarsfeld bereits 1992 dort anbringen ließ. Doch weil der Text eine direkte Linie zwischen Auschwitz und Lichtenhagen zieht, hatte man sie sofort wieder entfernt.

** Aus: neues deutschland, Montag, 27. August 2012


Deutsche Eiche statt Asyl

20 Jahre nach Pogrom in Rostock-Lichtenhagen: Bundespräsident fordert »wehrhaften Staat«. Tausendfacher Protest

Von Rüdiger Göbel ***


Eine deutsche Eiche soll fortan an die rassistischen Angriffe auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 erinnern. Der zur »Mahneiche« deklarierte alte Baum wurde am Sonntag während der offiziellen Gedenkfeier in der Nähe des »Sonnenblumenhauses« gepflanzt, das damals tagelang von Neonazis und einem ausländerfeindlichen Mob belagert und schließlich angezündet worden war, ohne daß die Polizei eingeschritten wäre. Die 20 Jahre alte Eiche ist versehen mit einer Plakette, die ein Zitat aus der UN-Menschenrechtscharta enthält: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« Und den kurzen Zusatz: »In Gedenken an die Ausschreitungen vom August 1992.«

Bundespräsident Joachim Gauck machte sich neben der deutschen Eiche für einen »wehrhaften Staat« stark. Wenn die Demokratie Bestand haben solle, dürfe sie sich »das Gewaltmonopol nicht aus der Hand nehmen lassen«, erklärte der frühere Rostocker Pfarrer bei der zentralen Gedenkkundgebung am Sonntag. Die Demokratie brauche beides: Mutige Bürger, die nicht wegschauen, aber vor allem auch einen Staat, der fähig ist, Würde und Leben zu schützen. Zum 1992 vom Bundestag ausgehebelten Asylrecht äußerte sich der Bundespräsident nicht. Kritische Begleiter seiner Rede, die »Heuchler«, »Heuchler« riefen und ein Transparent mit dem Slogan »Rassismus tötet« hochhielten, setzte Gauck mit Neonazis gleich. Darauf machte die Thüringer Linke-Landtagsabgeordnete Katharina König per Twitter aufmerksam. Mecklenburg-Vorpommerns Linke-Chef Steffen Bockhahn erklärte zunächst staatstragend, ebenfalls per Twitter: »Es ist nicht der Ort für Proteste gegen Gauck«, um dem Bundespräsidenten zu bescheinigen: »Aber die Antifa mit den Nazis gleichzusetzen, ist absolut krank.«

Im Gegensatz zu Gauck machten sich mehrere tausend Bürger in Rostock für das Grundrecht auf Asyl stark. Nach Veranstalterangaben waren am Samstag 6500 Demonstranten dem Aufruf des Bündnisses »20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus« in die Hansestadt gefolgt. »Nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wurde das Asylrecht faktisch abgeschafft. Seither werden Flüchtlinge systematisch diskriminiert. Der rechte Mob hat seinen Willen bekommen – bis heute. Das ist der Skandal dieses Jahrestags«, erklärte das Bündnis. Daß im Andenken an das »deutsche Pogrom« von 1992 ausgerechnet eine deutsche Eiche gepflanzt werde, »offenbart die politische Ignoranz der Volksvertreter«.

Die Rostocker Linke-Politikerin Ida Schillen, Mitglied im Bundesvorstand ihrer Partei, hätte der Eiche mit Plakette auch ein anderes Signal vorgezogen: »Ich hätte es bevorzugt, wenn der Bundestag 20 Jahre danach das individuelle Grundrecht auf Asyl wieder hergestellt und wirkungsvolle Zeichen gesetzt hätte, Asylsuchenden ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu garantieren, ohne Residenzpflicht und ohne Arbeitsverbot«, erklärte Schillen vergangene Woche im jW-Gespräch.

In Stuttgart ging am Samstag morgen ein Asylbewerberheim in Flammen auf. Bei dem Brand in dem dreistöckigen Gebäude wurden neun Menschen verletzt. Hinweise auf einen Anschlag gebe es nicht, teilte die Polizei der baden-württembergischen Landeshauptstadt umgehend mit – obwohl mit den Ermittlungen zur Brandursache erst am heutigen Montag begonnen wird.

*** Aus: junge Welt, Montag, 27. August 2012


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