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Interesse und Ideologie

Kurt Pätzolds neues Buch zum Massenmord an den europäischen Juden

Von Arnold Schölzel *

Die 20 Texte des Bandes »Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz« von Kurt Pätzold entstanden in den letzten zwei Jahrzehnten als Artikel oder Vorträge. Einige waren in dieser Zeitung zu lesen. Sie entstanden in einem Zeitraum, in dem – wie der Autor eingangs schreibt – »die Geschichte des ›Holocaust‹ stärker in das allgemeine Bewußtsein der Deutschen getreten« ist. Ihren Ort in der Forschung seit 1990 kennzeichnet er so: »In den Untersuchungen der Experten steht das Was und Wie, das Wo und das Wer, also die Frage nach Tätern und Tatbeteiligten im Vordergrund. So viele Einzelheiten dabei zutage gefördert werden, die ein differenziertes und damit auch historisch gerechtes Bild und Urteil ermöglichen, ihnen steht neuerdings eine pauschale Betrachtungsweise verstärkt entgegen, die den ›Holocaust‹ schlicht – auch jeden Widerstand und alle Solidarität ignorierend – ›den Deutschen‹ zuschreibt. Diese Geschichtsdeutung bedient das Vernebelungsinteresse derer, die an der menschenfeindlichen Politik des Naziregimes im Ganzen wie im Besonderen an ihrer judenfeindlichen Ausrichtung einen eigenen Anteil hatten. Ihn festzustellen, trifft 70 und mehr Jahre nach den Ereignissen nicht mehr lebende Personen, wohl aber fortexistierende Klassen, Schichten und Eliten. Die Frage ›Judenmord – warum‹ ist folglich nicht nur wegen des Schwierigkeitsgrades, der ihrer Beantwortung entgegensteht, in den Hintergrund abgedrängt.«

Pätzold, der sich so als »zur materialistischen Schule der Historiographie« gehörig vorstellt, holt sie von dort nach vorn. Der ihr gewidmete vierte Abschnitt umfaßt mehr als die Hälfte des Bandes. Hier sei ausführlich, weil repräsentativ für den Ansatz des Autors, jene Antwort auf das »Warum?« zitiert, die er am Ende seines Artikels »Endlösung der Judenfrage« (E.), einem Beitrag für das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus aus dem Jahr 1997, gibt: »Auch beim unwiderruflichen Schritt auf die Stufe der E. verwob sich in der Judenpolitik Interesse und Ideologie. (…) Der Massenmord war den Endzielvorstellungen zugeordnet. Die Einzigartigkeit der »Endlösung« bestehe nicht allein in dem geschichtlich beispiellosen Verbrechen gegen die Menschheit, sondern zugleich »in der imperialistischen Politik der Eroberung, Vernichtung und Ausrottung.« Sie habe bis zu einem als »Zivilisationsbruch« bezeichneten historischen Ort geführt. Dies sei eine mehrdeutige Charakteristik: »Sie führt in die Irre, wenn sie als gedankliches Vehikel dafür dient, die E. als einen Einbruch in die existierende Gesellschaft zu sehen, statt sie aus ihren Widersprüchen zu begreifen.«

Dies sind methodologische Aussagen, die aus einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus und seinen Verbrechen resultieren. Auf ihrer Grundlage setzt sich der Autor mit den ideologischen, politischen und bürokratischen Aspekten der faschistischen Judenverfolgung seit 1933 auseinander – angefangen mit der Boykottaktion vom 1. April jenes Jahres bis zur Vorbereitung des Pogroms vom 9./10. November 1938 und der Behauptung von »Reichsbürgern«, sie hätten von der keine Kenntnis gehabt – so z.B. der damalige Soldat Helmut Schmidt. Die hier geschilderte ideologische Vorbereitung, »Einübung« und Gewöhnung an die Verbrechen gegen Juden wirkt auf gespenstische Weise heutig: Ihr Hauptpunkt war, die Zustände als »alternativlos« auffassen zu lassen. Was mehrheitlich gelang.

Zentral bleibt Pätzolds Auseinandersetzung mit Autoren, die die Frage nach dem »Warum?« für unbeantwortbar erklären, weil er Ausfluß von Wahn sei. Ihnen hält Pätzold u.a. die Arbeit der alliierten Juristen von Nürnberg vor. Damals wurde – so zeigt er – mehr als eine Grundlage geschaffen, um das Ineinandergreifen von Interesse und Ideologie zu untersuchen.

Das Buch hat seinen Ursprung in der DDR-Forschung. Das Verschweigen und Verunglimpfen ihrer Leistungen war eine Voraussetzung, um die Frage nach den Ursachen des Massenmords nach 1990 in den Hintergrund zu drängen und den einst aufklärerischen Begriff »Antisemitismus« zu einem Bestandteil des herrschenden Irrationalismus zu machen. Um so nötiger ist dieses Buch.

Kurt Pätzold, Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz, Köln 2012 (PapyRossa-Verlag), 246 S., 15,90 €; ISBN 978-3-89438-486-9

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 3. Mai 2012


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