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Mit Eurer Angst seid Ihr weiter allein

Martina Renner zu NSU-Aufklärung und Alltagsrassismus *


Martina Renner ist Obfrau der LINKEN im Thüringer NSU-Ausschuss.
Der Generalbundesanwalt hat gegen die mutmaßlichen NSU-Mitglieder und -Unterstützer Anklage erhoben. Die Schrift, in der Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze beschuldigt werden, ist 488 Seiten dick. Über Ursachen des Neonazi-Terrors, der zehn Menschen das Leben gekostet hat, findet sich wenig. Das folgende Interview mit Martina Renner hat René Heilig für das "neue deutschland" (nd) geführt.



nd: Die Anklage gegen Beate Zschäpe und vier Spießgesellen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« liegt vor. In vielerlei Hinsicht ist es enttäuschend, was die Spitzenkriminalisten und Staatsanwälte der Republik zusammengetragen haben. Liegt wirklich alles auf dem Tisch?

Renner: Ich kann die Anklage nicht bewerten. Und wir haben als Abgeordnete auch keine Absicht, uns in prozessuale Dinge einzumischen. Das geht gar nicht. Aber wir werden den Prozess vor Ort beobachten. Auch mit Blick auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses. Denn dort tragen wir immer noch eine Vielzahl wichtiger Aspekte zusammentragen.

Es tauchen noch immer Fragen auf, die dem Prozess dienlich sein können. So nach der bundesweiten Vernetzung der militanten Szene aus Thüringen. Das Unterstützernetzwerk entstand nicht 1998 mit dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, sondern bestand schon vorher als ideologischer und organisatorischer Zusammenhang. Und dieses Netzwerk war durchsetzt von Spitzeln, die frühzeitig über Aufenthalt, Finanzierung, Waffen- und Sprengstofferwerb wussten. Warum wurden diese Hinweise nicht beachtet? Man muss diese Fragen stellen, das ist auch die Funktion kritischer Öffentlichkeit.

Interessant schien mir jüngst die Vernehmung eines Fahnders des Landeskriminalamtes...

Sie meinen den Herrn Melzer. Es ist schon so, während sich manch »hohe« Zeugen nur schwammig oder gar nicht erinnern können, erinnern sich direkt mit der Bekämpfung von rechtsextremen Straftaten Befasste sehr genau an Erfolge und Misserfolge. Mit Namen, Datum, Ort. Und immer wieder kommen Vorwürfe an den Verfassungsschutz hoch. Die Fahnder hatten das Gefühl, die Geheimdienstler sabotieren ihre Arbeit, die warnen die Nazis.

Die Kriminalbeamten formulieren auch detailliert Vorwürfe an die Justiz. Das ist verständlich. Die Kriminalisten mühen sich, geben Ermittlungsergebnisse an die Staatsanwaltschaften - und es werden Verfahren eingestellt, eingestellt, eingestellt ...

Der Untersuchungsausschuss hat ohne Zweifel viel zutage gefördert. Aber was geschieht damit? Langsam schwindet das öffentliche Interesse.

Ja das ist richtig, aber nicht weil man die Dinge nicht auf den Punkt bringen konnte, sondern weil die Öffentlichkeit sagt: Ihr könnt gerne noch zwanzig Beweise liefern, aber die Sache ist doch klar: Behörden und Politik tragen Schuld am Entstehen des Neonaziterrors, an seinem unentdeckten Agieren aus dem Untergrund, an der ethnisierten und damit vollkommen fehlgeleiteten Ermittlungsarbeit zu den rassistischen Morden und Verbrechen, an den Vertuschungsversuchen und falschen Schlussfolgerungen. Das ist alles richtig, aber trotzdem muss es ein Untersuchungsausschuss nachweisen und aufschreiben. Wir werden demnächst einen Zwischenbericht auf den Weg bringen.

Wann ist demnächst?

Im Frühjahr wird er vorgelegt werden. Darin müssen sehr deutlich Verantwortlichkeiten benannt werden: für die Polizei, den Geheimdienst, die Justiz und natürlich auch die Politik. Dazu gehört auch die kommunale Ebene. Dort wurden nach dem Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit geschützte Räume für Neonazis geschaffen. Wir bemerken durchaus, dass bestimmte verantwortliche politische Ebenen sich abducken wollen.

Und die These, die auch der Generalbundesanwalt in seiner Anklage suggerieren mag, es habe sich bei dem NSU um eine kleine, ganz abgeschottete Gruppe gehandelt, der man nicht beikommen konnte, ist zu einfach. Die Logik heißt nämlich: Wir haben aufgeklärt, alle Personen, die beteiligt waren, sind benannt und werden - soweit das noch möglich ist - ihrer Strafe zugeführt. Nun ist dann aber auch mal gut! Das geht mit uns nicht. Schon weil wir ja nicht sicher sein können, dass der »Fall NSU« einzigartig bleibt.

Jüngst hat die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie vorgelegt. Neun Prozent der Bevölkerung haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. In Ostdeutschland stieg der Anteil von 10,5 Prozent im Jahr 2010 auf 15,8 Prozent.

Die Debatte um rassistische Einstellungen macht zwei Grundprobleme deutlich. Politik beklagt den Zustand, will aber an keiner Stelle über deren Verantwortung reden. Gerade im Zusammenhang mit NSU-Terror ist uns ja noch einmal die Verschränkung von rassistischer Hetze in Medien und Politik - »Kinder statt Inder«, »Das Boot ist voll«, Asylmissbrauchsdebatte -, Pogromen gegen MigrantInnen unter Beteiligung der Neonazis und Abschaffung des Grundrechts auf Asyl bitter in Erinnerung gerufen worden.

Und wie sieht es heute aus: Politik und Medien schüren weiter Rassismus - ob gegen Roma oder die BürgerInnen im südlichen Europa. So bestärke ich den Stammtisch. So sende ich kein glaubwürdiges Signal an potenzielle Opfer neonazistischer Gewalt. Die Botschaft ist: Mit Eurer Angst seid Ihr weiterhin allein.

Der aktuelle Thüringen-Monitor sagt, dass fast die Hälfte der Befragten eine zu starke Überfremdung beklagt. Das Problem scheint ein gewaltiges in Thüringen zu sein - misst man das an der Zuhörerzahl bei Thilo Sarazzin.

Mehr als 2000 Thüringer haben sich in Erfurt, Jena und Gera die rassistische und sozialchauvinistische Hetze des hohen Priesters der Theorie der Ungleichheit der Menschen angehört - und dafür Eintritt bezahlt. Es protestierten wenige. Man mag sagen: Kundgebungen gegen Sarazzin sind kein probates Mittel. Aber: Wo waren die Leserbriefe, die inhaltlichen Auseinandersetzungen seitens der Wissenschaft, wo der Aufschrei der Politik, die sich Weltoffenheit, Interkulturalität, Toleranz auf ihre Fahnen schreibt? Da war nichts. Es gibt keinen antirassistisch wirksamen Diskurs in der Gesellschaft.

Reden wir also nicht doch zu viel über NSU und zu wenig über Alltagsrassismus?

Ja, die Gefahr besteht. Wir müssen immer wieder sagen: Die Spitzelproblematik, der Antagonismus des Geheimdienstes in der Demokratie müssen von der LINKEN deutlich angesprochen. Alternativen müssen formuliert werden. Aber darüber dürfen wir nicht vergessen: Es gibt eine Korrespondenz zwischen rassistischer Formierung der Gesellschaft und gewalttätigen Neonazistrukturen. Dem Alltagsrassismus kann wirkungsvoll nicht widerstanden werden, wenn behördlichem Rassismus in Form von Gesetzen und Vollzug nicht endlich im Sinne der Menschenwürdegarantie eine Absage erteilt wird.

Thüringens Landtag redet viel über den »Nationalsozialistischen Untergrund«, aber ein Antrag für einen Winterabschiebestopp für Roma, Ashkali und ÄgypterInnen bekommt noch nicht einmal eine Mehrheit, damit im November darüber im Landtag debattiert werden kann.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 27. November 2012


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