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Wölfe unter Aufsicht

Krankmeldung der Hauptangeklagten verschafft Ex-V-Mann "Piatto" und seinen früheren Dienstherren Luft

Von Claudia Wangerin *

Am dritten Todestag der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hat sich deren mutmaßliche Komplizin Beate Zschäpe im Prozess um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) vor dem Oberlandesgericht München krank gemeldet. Der Verhandlungstermin am gestrigen Dienstag wurde abgesagt, nachdem eine Gerichtssprecherin zunächst eine Verzögerung bis zum Vorliegen eines ärztlichen Attestes angekündigt hatte. Die Hauptangeklagte sei von der JVA München-Stadelheim gar nicht erst zum Justizgebäude in der Innenstadt gebracht worden, teilte ihr Rechtsanwalt Wolfgang Stahl nach einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa mit. Die Zeugenvernehmung des V-Mannes »Piatto«, der für diesen Tag geladen war, musste somit verschoben werden. Erst vor wenigen Tagen hatte Brandenburgs Innenministerium nach scharfer Kritik von Seiten der Nebenklage eine Sperrerklärung aufgehoben, die eine Aussage des V-Mannes mit dem bürgerlichen Namen Carsten Szczepanski im Münchner Gerichtssaal verhindern sollte.

Über die Art von Zschäpes Erkrankung wurde am Dienstag zunächst nichts bekannt. Exakt drei Jahre zuvor, am 4. November 2011, waren Mundlos und Böhnhardt nach einem Überfall auf eine Sparkasse in Eisenach tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden worden. Zschäpe hatte daraufhin die gemeinsame Wohnung im sächsischen Zwickau angezündet – das darf nach der Beweisaufnahme als sicher gelten und wird auch von ihrem Anwaltsteam nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Aus der Brandstiftung lassen sich allerdings Rückschlüsse über ihre Mitwisserschaft bei Taten ziehen, die damit vertuscht werden sollten – was ihre Verteidigung bis heute bestreitet.

In den Tagen nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt überschlugen sich die Meldungen über das 1998 untergetauchte Trio aus Jena. Neun Morde an Männern mit Migrationshintergrund, zwei Sprengstoffanschläge und der versuchte Doppelmord an zwei Polizeibeamten, den Michèle Kiesewetter 2007 nicht überlebt hatte, waren Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe anhand der Waffenfunde im geborgten Wohnmobil und in der Zwickauer Brandruine zuzuordnen. Kürzel im Knastrundbrief

Durch ein mutmaßlich von Zschäpe verschicktes Bekennervideo wurde auch der Name NSU einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Das rechte Szenemagazin Der Weiße Wolf hatte schon 2002 ein Editorial mit dem Hinweis: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…« gedruckt. An der Gründung des Blattes unter staatlicher Aufsicht als »Rundbrief inhaftierter Kameraden« war 1996 maßgeblich Carsten Szczepanski beteiligt, der damals in der JVA Brandenburg an der Havel saß. Der Verfassungsschutz führte ihn zu diesem Zeitpunkt bereits als V-Mann »Piatto«, nachdem Szczepanski 1995 wegen versuchten Mordes an einem Afrikaner zu acht Jahren Haft verurteilt worden war. Als Spitzenquelle bekam er bald großzügig Freigang und galt als Kader des »Blood & Honour«-Netzwerks, das erst im Jahr 2000 verboten wurde. Mitglieder dieser Gruppierung hatten in Chemnitz das spätere mutmaßliche NSU-Kerntrio kurz nach seinem Untertauchen 1998 unterstützt. »Piatto« lebt seit seiner Enttarnung vor 14 Jahren mit einer neuen Identität im Zeugenschutz. Sein ehemaliger V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath, dem ein früher Quellenhinweis auf das Trio angeblich nichts gesagt hatte, ist heute Chef des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Meyer-Plath musste bereits im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU-Terror aussagen. Einen öffentlichen Auftritt von »Piatto« wollte Brandenburgs Innenministerium zunächst verhindern und allenfalls eine Videovernehmung des unkenntlich gemachten Zeugen in Begleitung eines Rechtsbeistands zulassen.

Stand der Aufklärung

Nun hat Beate Zschäpes Krankmeldung dem Ministerium, Szczepanski und dem Verfassungsschutz noch einmal Luft verschafft. Die 39jährige, die nach mehr als 150 Verhandlungstagen immer noch schweigt, muss mit einer Verurteilung zu lebenslanger Haft rechnen, seit das Gericht in einem Beschluss über die Haftfortdauer des Mitangeklagten Ralf Wohlleben die Aussage traf, die Anklageschrift habe sich in wesentlichen Punkten bestätigt. Zschäpe ist als gleichberechtigte Planerin und Mittäterin aller Verbrechen angeklagt, die ihre beiden Komplizen von 1998 bis 2011 begangen haben sollen. Unklar ist allerdings, wie groß der NSU tatsächlich war – die Bundesanwaltschaft geht von drei Mitgliedern und wenigen Helfern aus. Im einen oder anderen Anklagepunkt kommen aber aufgrund der Beschreibung von Augenzeugen tatsächlich andere Täter als Mundlos und Böhnhardt in Betracht. So etwa beim Mordversuch an der Deutschiranerin Mashia M. durch einen Sprengstoffanschlag in Köln und beim Polizistinnenmord von Heilbronn. Ein Ohrenzeuge des Mordes an dem Imbissbetreiber Ismail Yasar 2005 in Nürnberg erkannte später bei einer Lichtbildvorlage nur Mundlos als einen der beiden verdächtigen Radfahrer, die er in Tatortnähe gesehen hatte. Den zweiten beschrieb er deutlich kleiner und dicker, als Böhnhardt es war. Hinzu kommt, dass die Auswahl der Opfer und Tatorte in westdeutschen Städten zum Teil auf lokale Tipgeber schließen lässt. Mit der Beweisaufnahme zum 2004 verübten Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße, eine migrantisch geprägte Einkaufsgegend in Köln, steht den Prozessbeteiligten der umfangreichste Tatkomplex mit mehr als 20 Geschädigten noch bevor.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. November 2014


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