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Unschuld vermutet

NSU-Prozeß. Hessens früherer Geheimdienstchef sagt über Exmitarbeiter Andreas Temme aus. Rolle des ehemaligen V-Mann-Führers bei Mord in Kassel bleibt unklar

Von Claudia Wangerin, München *

Bürgerrechtler wollten die Auftritte geheimdienstlicher Zeugen im Münchner NSU-Prozeß am Mittwoch nicht unkommentiert lassen. In einer Performance auf der Straßenseite gegenüber vom Justizgebäude übermalte ein Mann mit Schlapphut die Augenpartien auf den Porträts der drei mutmaßlichen Haupttäter der rassistischen Mord- und Anschlagsserie, die im Saal A 101 verhandelt wird. Auf Plakaten und in einer Rede forderten Mitglieder der Humanistischen Union und antifaschistischer Gruppen die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Das hessische Landesamt des Inlandsgeheimdienstes und sein früherer Mitarbeiter Andreas Temme, der beim Kasseler Mord an Halit Yozgat im April 2006 am Tatort gewesen war und von früheren Nachbarn »Klein-Adolf« genannt wurde, standen im Mittelpunkt des gestrigen Verhandlungstermins. Zunächst mußte der frühere Behördenchef Lutz Irrgang in den Zeugenstand. Der 72jährige berichtete, er sei zum Zeitpunkt des Mordes an Yozgat im Osterurlaub gewesen. Eine Woche nach seiner Rückkehr habe er durch den Anruf einer Mitarbeiterin erfahren, daß der V-Mann-Führer Temme unter Mordverdacht stehe.

Wer Irrgangs Ausführungen am Vormittag glaubte, konnte den Eindruck gewinnen, daß er sich im Jahr seiner Pensionierung nicht mehr allzu detailliert mit dem Ärgernis auseinandersetzen wollte. Obwohl er den Mitarbeiter nach eigener Aussage persönlich kannte und ihn sogar zur Weiterbildung für den gehobenen Dienst vorgeschlagen hatte. Nun hatte dieser tüchtige Beamte angeblich in Yozgats Internetcafé nicht bemerkt, daß der junge Besitzer nur wenige Meter von ihm entfernt erschossen worden war. »Nach allem, was ich weiß, hat er in diesem Lokal gechattet und ist dann gegangen«, sagte Irrgang vor Gericht. Temme soll zudem noch Münzgeld auf die Ladentheke gelegt haben, ohne den Ermordeten dahinter zu sehen. Diese Informationen will Irrgang einzig der von Temme verfaßten dienstlichen Erklärung entnommen haben – gesprochen habe er mit ihm darüber nicht. Auch nicht mit anderen Mitarbeitern. »Mit seiner Entlassung aus der U-Haft galt für mich uneingeschränkt die Unschuldsvermutung«, sagte Irrgang vor Gericht. Suspendiert hatte er Temme dennoch. Zunächst für drei Monate, dann »bis auf weiteres«. Dazu sei der Geheimdienstler noch einmal ins Amt bestellt worden. Dort will Irrgang ihm erklärt haben, es sei nun der letztmögliche Zeitpunkt, wenn Temme noch etwas zu »diesem Sachverhalt« sagen könne. In dem Zusammenhang habe er Temme daran erinnert, daß dieser doch inzwischen Vater eines Kindes sei, das eine Perspektive brauche. Temme blieb bis heute beim Inhalt der dienstlichen Erklärung.

»Ich bin heute noch sehr stolz darauf, mit welcher Ruhe und Gelassenheit dann das Amt seine Dienstgeschäfte weitergeführt hat«, so Irrgang mit Blick auf den Mordverdacht vor acht Jahren.

Nach seiner Aussage hatte der Polizeipräsident das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) gebeten, sich von den Ermittlungen zurückzuziehen. Nebenklageanwalt Thomas Bliwier verwies dagegen auf ein Gespräch zwischen LfV-Mitarbeitern und der Staatsanwaltschaft am 30. Juni 2006, bei dem Irrgangs Mitarbeiter Hess die Kooperationsanliegen der Strafverfolger zurückgewiesen hatte.

Am Nachmittag hielt die Nebenklage Irrgang dessen eigene Aussagen im Untersuchungsausschuß des Bundestags vor, er habe zu dem Mord Analysen geschrieben und Diskussionen im Landesamt geführt. »Das Thema war ja nun wirklich krass genug«, erklärte Irrgang dazu. Er habe auch über »links- oder rechtsextremistische« Hintergründe nachgedacht. Im Vorjahr sei er in seiner Garage überfallen und verletzt worden – nach wochenlanger Ausspähung, berichtete er ohne erkennbaren Zusammenhang.

Als Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens Irrgang nach den Richtlinien des LfV Hessen für Auswahl und Betreuung von V-Personen fragte, schlüpfte ein Verteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe faktisch in die Rolle des Zeugenbeistands: Die Nebenklage dürfe Irrgang nicht zur Verletzung von Dienstgeheimnissen anstiften, so Rechtsanwalt Wolfgang Stahl. Temme selbst wurde am Nachmittag durch die Nebenklage vernommen.

* Aus: junge welt, Donnerstag, 13. März 2014


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