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"Der Senat wird sich ungern vorführen lassen"

NSU-Prozeß: Nebenklage stellt härtere Gangart gegenüber Szenezeugen und Geheimdienstlern fest. Gespräch mit Yavuz Narin *


Nebenklageanwalt Yavuz Narin vertritt im Prozeß um die NSU-Mordserie vor dem Oberlandesgericht München Angehörige des 2005 erschossenen Theodoros Boulgarides.


Vergangene Woche haben noch mehrere Nebenklagevertreter im NSU-Prozeß kritisiert, daß zu viele Zeugen aus der Neonaziszene mit angeblich riesigen Erinnerungslücken durchkommen, ohne sanktioniert zu werden. Nun soll sich zumindest der Ton des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl verschärft haben. Was ist Ihr Eindruck von den letzten Tagen?

Der Vorsitzende läßt dieses Verhalten in der Tat nicht mehr ohne weiteres durchgehen. Die Zeugin Juliane W., die im Alter von 17 Jahren als damalige Freundin des heutigen Mitangeklagten Ralf Wohlleben vom Thüringer Verfassungsschutz angeworben wurde, wollte sich an viele Dinge nicht mehr erinnern. Götzl hat durch konsequentes Nachhaken dennoch für die Anklage wichtige Aussagen aus ihr herausgeholt. Sie erzählte nicht zuletzt von einem gemeinsamen Spieleabend mit Wohlleben und Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, bei dem die antisemitische Monopoly-Variante »Pogromly« gespielt wurde. Das Spiel, in dem es darum geht, Städte »judenfrei« zu machen, ist von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in mehreren Exemplaren produziert worden, auch nach ihrem Untertauchen 1998 in Chemnitz. Juliane W. hat mit ihrer Aussage das eine oder andere Puzzleteilchen geliefert. Aber insgesamt fällt auf, daß viele Zeugen in ihrer gerichtlichen Einvernahme weit hinter dem zurückbleiben, was sie bei der Polizei ausgesagt haben.

Wie erklären Sie sich das?

Offenbar werden sie dahingehend aus dem NSU-Umfeld beeinflußt, zum Teil auch bedroht. Viele scheinen rechtlich professionell geschult zu sein und wirken regelrecht gecoacht, wenn sie versuchen, ihre Aussagen einzuschränken. Das Bemühen, den eigenen Beitrag zur Unterstützung des NSU herunterzuspielen und die Rolle anderer Unterstützer zu betonen, hat vor allem die Aussagen in polizeilicher Vernehmung geprägt. Allerdings ergibt sich aus der Masse an Einlassungen dieser Art dann doch wieder ein stimmiges Bild. Zumal sich jetzt manche dieser Zeugen auf ihr Aussageverweigerungsrecht berufen.

Wie weit beeinträchtigt das die Chancen, daß die Hintergründe von zehn Morden und über 20 Mordversuchen durch Sprengstoffanschläge umfassend aufgeklärt werden?

Wenn ein Zeuge vor Gericht die Aussage verweigert, der bei der Polizei umfangreiche Angaben gemacht hat, muß das für die Anklage nicht zwingend von Nachteil sein. Die Aussagen können dann durch die Befragung der Polizeibeamten in den Prozeß eingeführt werden. Der Verteidigung ist damit nicht wirklich gedient. Bemerkenswert ist aber, daß nicht nur die Verteidigung die Mauer des Schweigens aufrecht erhalten will, die von der Szene errichtet wird – auch die Bundesanwaltschaft springt den Zeugen oft bei, wenn sie durch Fragen der Nebenklage unter Druck geraten. Aber die Nebenklage hat sich einen gewissen Spielraum erkämpft und scheint mittlerweile vom Senat ernst genommen zu werden. Insofern bin ich zuversichtlich, daß wir der Wahrheit näher kommen.

Auch Verfassungsschützer haben in diesem Prozeß unglaubwürdige Erinnerungslücken geltend gemacht. Etwa Andreas Temme, der 2006 beim Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel war und angeblich nichts bemerkt hat. Trauen Sie Richter Götzl und dem Senat zu, daß sie im Ernstfall keinen Unterschied zwischen Geheimdienstlern und Szenezeugen machen?

Die Verstrickungen der Inlandsgeheimdienstler, gerade der Thüringer, sind so evident, daß der Vorsitzende und die Verfahrensbeteiligten hier noch einige Fragen haben. Ich gehe davon aus, daß wir noch viele gemeinsame Stunden mit den Verfassungsschützern verbringen werden. Und ja, mittlerweile traue ich dem Vorsitzenden Richter tatsächlich zu, daß er sie nicht weniger hart anfassen wird als Zeugen aus der Neonaziszene. Ich denke, die Senatsmitglieder fühlen sich auch nicht wohl mit der Art und Weise, wie sie von manchen Zeugen behandelt werden. Der Senat scheint die Dimension des Geschehenen mehr und mehr zu erfassen – und wird sich nur ungern von diesen Herrschaften vorführen lassen.

Die Vernehmung eines V-Mann-Führers wurde am Donnerstag unterbrochen, weil sich der Beamte so schlecht vorbereitet hatte – der Vorsitzende wirkte völlig zu Recht gereizt und hat ihn nach wenigen Minuten aufgefordert, erneut vor Gericht zu erscheinen.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. März 2014


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