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NSU wurde vom Staat alimentiert

Abschlussbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses vorgelegt

Von Hans-Gerd Öfinger, Erfurt *

Gut drei Wochen vor der Thüringer Landtagswahl befasst sich der Erfurter Landtag am heutigen Freitag in einer Sondersitzung mit den Ergebnissen des NSU-Untersuchungsausschusses.

Bei der Sondersitzung des Thüringer Landtages, die sich mit dem Abschlussbericht des sogenannten NSU-Untersuchungsausschusses befasst, werden als Zuhörer auch Angehörige von Opfern anwesend sein. Der Bericht war am Donnerstag von der Landtagspräsidentin Birgit Dietzel (CDU) vorgestellt worden. Sie betonte, der Ausschuss habe gezeigt, »wie wichtig parlamentarische Kontrolle ist«.

Das Gremium war Anfang 2012 kurz nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), zu dem Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gehörten, eingesetzt worden. In 68 Sitzungen waren 123 Zeugen und Sachverständige gehört sowie 11 681 Akten ausgewertet worden. Der auf der Website des Landtags abrufbare Bericht umfasst knapp 1900 Seiten.

Dietzel bat die Angehörigen der zehn vom NSU Ermordeten und die 23 bei Sprengstoffanschlägen teils lebensgefährlich Verletzten um Verzeihung. Thüringen trage ihnen gegenüber eine besondere Verantwortung, »weil der NSU hier seine Wurzeln hatte«.

Die Arbeit der Behörden im Zusammenhang mit der NSU-Mordserie habe sich als »ein einziges Desaster« erwiesen und lasse sich nicht als »Pannen« oder »Fehler« entschuldigen, meinte die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD). »Im günstigsten Falle« sei es »Desinteresse« gewesen, es dränge sich aber auch der Verdacht bewusster Sabotage bei der Verbrechensaufklärung auf. Schon Anfang 1998 habe die Polizei in einer Garage Sprengstoff gefunden und den Verdächtigten Uwe Böhnhardt unbehelligt laufen lassen. »Der Grat zwischen nicht sehen wollen und gezielt wegsehen ist schmal.«

Unüberhörbar war in der Pressekonferenz eine tiefe Kluft zwischen den Noch-Koalitionspartnern CDU und SPD. Der Bericht blende »die besondere historische Situation des Transformationsprozesses« und die Probleme beim Neuaufbau im Freistaat ab 1990 aus, versuchte Jörg Kellner (CDU) die jahrzehntelange Verantwortung seiner Partei in der Exekutive zu relativieren. Vielfach seien Beamte überfordert und neue Dienststellen unterbesetzt gewesen. Nicht nur im Freistaat, sondern auch im Bund und in anderen Ländern habe der Verfassungsschutz versagt. Sabotagevorwürfe und Verschwörungstheorien seien im Ausschuss zwar widerlegt worden, doch viele Zeugen könnten sich inzwischen nicht mehr an alles erinnern, so der CDU-Mann.

»Der Sabotagevorwurf ist gerechtfertigt und Wissenslücken erschließen sich mir nicht«, konterte Birgit Pelke (SPD). »Die Entschuldigung mit der Aufbauphase muss ein Ende haben«, pflichtete ihr Dirk Adams (Grüne) bei. Eine »organisierte Nichtverantwortung« von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz dürfe es nie wieder geben.

Die Obfrau der Linksfraktion, Katharina König, erinnerte an die pogromartige Neonazi-Gewalttaten gegen Migranten in Solingen, Rostock, Mölln und Hoyerswerda Anfang der 1990er Jahren, in deren Gefolge der Bundestag das Grundrecht auf Asyl faktisch beseitigt und somit den Neonazis Auftrieb verschafft habe. Das System der V-Leute in der Neonazi-Szene kenne keine Regeln und Grenzen und müsse ausgeleuchtet werden. »Faktisch wurden die Mörder durch den Staat alimentiert.« Die Grenzen zwischen Neonazi-Szene und dem organisiertem Verbrechen seien fließend.

»Wir sind noch längst nicht fertig mit der Arbeit«, so König, die damit die Haltung aller auf den Punkt brachte. König und Marx wollen neben dem Mord an der aus Thüringen stammenden Polizistin Michèle Kiesewetter im baden-württembergischen Heilbronn verstärkt die Umstände des Todes von Böhnhardt und Mundlos in Eisenach im November 2011 aufklären. Es sei nicht erwiesen, dass sich die beiden im Wohnmobil selbst getötet hätten. Die Polizei habe am Tatort auf die sonst übliche Spurensicherung verzichtet. Zudem seien beim Abtransport des Wohnmobils mit einem Tieflader möglicherweise wichtige Spuren vernichtet worden.

In ihrem Sondervotum bekräftigte die Linksfraktion die Forderung nach Abzug aller V-Leute des Verfassungsschutzes aus der Neonazi-Szene und Auflösung des Landesamts für Verfassungsschutz. Als Gedenkorte für die Opfer des NSU-Terrors und zur Sensibilisierung der Bevölkerung kämen »Wege der Erinnerung« in Jena und anderen Städten in Frage, so König.

* Aus: neues deutschland, Freitag 22. August 2014


Was folgt aus dem Desaster?

René Heilig plädiert für weitere Nachforschungen zu NSU & Co. **

»Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen ... auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.« Deutlicher ist die Möglichkeit, dass staatliche Behörden das Treiben der Neonazi-Terrortruppe NSU objektiv gefördert haben könnten, noch in keinem Bericht eines Untersuchungsausschusses festgehalten. Die Vertreter aller Thüringer Landtagsparteien betrachten die »Fahndung« nach den Mördern, Bombenlegern und Bankräubern, die aus eindeutig rassistischen Gründen handelten, als »einziges Desaster«.

Nun ist so ein Untersuchungsausschuss kein Gremium zur Betrachtung neuer und neuester Geschichte. Die Mitglieder sollen praktikable Vorschläge zur notwendigen gesellschaftlichen Veränderung unterbreiten. Dazu gehören Veränderungen in der Sicherheitsarchitektur nicht nur im Freistaat. Statt geheimer, auch parlamentarisch nicht kontrollierbarer Spitzelei durch Behörden müssen zivilgesellschaftliche Akteure, also die wahren Verteidiger von Demokratie, Vielfalt und Toleranz, die notwendige Unterstützung erfahren. Davon ist die Gesellschaft weit entfernt. Zu schnell hat der Alltag wieder zugedeckt, was noch gar nicht ausreichend aufgedeckt ist. Jetzt, da man in Thüringen, Sachsen und anderen Ländern, aber auch auf Bundesebene um das »Desaster« weiß, muss man Möglichkeiten finden, da weiter zu machen, wo auch der Thüringer Bericht endet.

** Aus: neues deutschland, Freitag 22. August 2014 (Kommentar)


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