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Gedächtnislücken und Phantome

NSU-Prozeß. Zschäpe-Anwälte halten sich mit Fragen zu den rätselhaftesten Morden zurück

Von Claudia Wangerin *

Im Münchner Prozeß um den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) ging es in dieser Woche erneut um die beiden rätselhaftesten und politisch brisantesten Morde, die der rechten Terrorgruppe bisher zugeordnet werden. Im Fall des 2006 in Kassel erschossenen Halit Yozgat mußte der damalige hessische Verfassungsschützer Andreas Temme am Mittwoch nicht zum letzten Mal in den Zeugenstand treten; am Donnerstag wurden Kriminalbeamte zum Heilbronner Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter vernommen.

Der Zeuge Temme, ehemals Quellenführer des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), sollte erneut über eine Zeit reden, in der nach eigenen Worten »sein Leben auf dem Kopf« stand. Damit versuchte er auch, seine auffälligen Erinnerungslücken zu begründen. Die Polizei hatte Temme im Jahr 2006 des Mordes an Halit Yozgat verdächtigt, weil er in dessen Internetcafé gewesen war und angeblich nicht mitbekommen hatte, wie der junge Ladenbesitzer erschossen worden war. Den Rat eines Vorgesetzten, »so nah wie möglich an der Wahrheit« zu bleiben, habe er bei seiner dienstlichen Erklärung zum Tag des Mordes gar nicht nötig gehabt, beteuerte Temme. An den Inhalt eines abgehörten Telefonats am 29. Mai 2006, aus dem hervorging, daß er in einem Gespräch mit Behördenchef Lutz Irrgang mehr preisgegeben hatte als in polizeilichen Vernehmungen, wollte sich Temme nicht erinnern. Ein Kollege hatte ihn laut Abhörprotokoll darauf angesprochen, daß er gegenüber Irrgang weniger »restriktiv« gewesen sei – und auch eine »Kasseler Problematik« erwähnt, in der Temme ja etwas »mit drin« sitze. Auf Nachfrage der Nebenklage konnte der Ex-V-Mann-Führer zudem nicht erklären, warum er schon vor entsprechenden Medienberichten einen Zusammenhang zwischen den Schüssen auf Yozgat und acht weiteren Morden hergestellt hatte, die mit derselben Waffe verübt worden waren. Temme soll erneut geladen werden.

Am Donnerstag sagte zunächst ein pensionierter Beamter des Landeskriminalamts (LKA) Baden-Württemberg zum Mord an der Polizistin ­Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 aus. Eigentlich hätte die Verteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe hier aktiv werden können, da die Täterschaft ihrer toten Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in keinem anderen Fall so unsicher ist wie in diesem. Doch die Anwälte von Zschäpe, die als gleichberechtigte Planerin sämtlicher Morde gilt, die Mundlos und Böhnhardt laut Anklage ausgeführt haben, verhielten sich hier bemerkenswert passiv. Ganz anders die Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, dem gerade in diesem Fall keine Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird, da hier nicht dieselbe Waffe verwendet wurde wie bei den anderen bisher bekannten NSU-Morden. An der Beschaffung der Tatwaffen des Anschlags auf Kiesewetter und ihren überlebenden Kollegen Martin A. war Wohlleben laut Anklage nicht beteiligt. Sein Anwalt Olaf Klemke interessierte sich dennoch für die Gründe der Nichtveröffentlichung eines Phantombilds, das nach Angaben von Kiesewetters schwerverletztem Kollegen unter Hypnose angefertigt worden war. Es zeigt einen schwarzhaarigen Mann mit Dreitagebart, der weder Mundlos noch Böhnhardt ähnelt. Der LKA-Beamte im Ruhestand gab vor Gericht an, er habe seinerzeit die mündliche Anweisung des Staatsanwalts nicht hinterfragt, als dieser die Veröffentlichung untersagte. Martin A. selbst hatte unlängst vor Gericht erklärt, er erinnere sich nicht an die letzten zehn Minuten vor dem Mordanschlag auf seine Kollegin und ihn.

* Aus: junge Welt, Freitag, 31. Januar 2014


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