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Kurzer Draht zum Amt

Journalisten schildern ihre Erfahrungen mit der »heißen Ware Information«

Von Claudia Wangerin *

Wenn mal wieder ein großes Medium Einsicht in vertrauliche Dokumente nehmen konnte oder solche zugespielt bekam, dann sind Neidreflexe von Journalisten kleinerer Medien mit weniger guten Kontakten zu Sicherheitskreisen zwar nachvollziehbar, aber oftmals falsch. Davon überzeugen mehrere Mitautoren des Sammelbands »Geheimsache NSU«, den der Journalist Andreas Förster zur mutmaßlichen Halbzeit des Münchner Prozesses um die faschistische Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) herausgegeben hat. Geschrieben wurde er von ihm und neun weiteren Autoren, die zum Teil für renommierte Print- und Online­medien arbeiten. Darunter auch der vermeintliche Fälscher eines Geheimdokuments, für dessen Echtheit inzwischen einiges spricht.

Die Liste an offenen Fragen, falschen Spuren und rätselhaften Zusammenhängen ist im NSU-Komplex unübersehbar lang – das wird schon im Klappentext eingeräumt. »Ein wahres Aufklärungsdesaster« um zehn Morde, mindestens zwei Sprengstoffanschläge und angeblich nur drei Terroristen. »Geheimsache NSU« konzentriert sich auf die Schlüsselfälle, in denen die Version der Bundesanwaltschaft am wenigsten mit bekannten Fakten und Zeugenaussagen in Einklang zu bringen ist. Viel Raum nimmt der Mordanschlag auf zwei Polizeibeamte in Heilbronn 2007 ein, bei dem die 22jährige Michèle Kiesewetter starb.

Rainer Nübel, der unter anderem das Buchkapitel »Ich, der Fälscher« beisteuerte, hat schon vor der Aufdeckung des NSU im November 2011 über den versuchten Doppelmord recherchiert. Kurz nachdem das Verbrechen der Gruppe zugeordnet werden konnte, war er Mitautor eines Stern-Artikels, in dem aus einem mutmaßlichen Observationsprotokoll des US-Militärgeheimdienstes DIA (Defence Intelligence Agency) zitiert wurde. Demnach hatten US-Agenten und deutsche Geheimdienstler den Mord auf der Heilbronner Theresienwiese beobachtet. Nur zwei Stunden nach der Veröffentlichung auf stern.de am 30. November 2011 re­agierte ein Südwestrundfunk-Journalist auf der Internetseite des Senders auf den Bericht und bezeichnete das Protokoll als »Fälschung«. Der auch als ARD-Terrorismusexperte bekannte Reporter wird im Buch nicht namentlich genannt, ist aber leicht identifizierbar. Von anderen Kollegen erfuhr Nübel, Vertreter der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts hätten an diesem Tag in Hintergrundgesprächen mit mehreren Journalisten die Geschichte ins Reich der Fabel verwiesen. »In den folgenden Monaten werden Spiegel, taz und Süddeutsche Zeitung die Sichtweise der Behörden wiedergeben, Polizeisprecher erklären, daß sie mit mir eigentlich nicht reden dürften, und befreundete Kollegen auf Distanz gehen«, erinnert sich Nübel.

Inzwischen sind neue Belege für die Anwesenheit von US-Agenten auf der Heilbronner Theresienwiese aufgetaucht. Was am 30. November 2011 als Ente abgetan worden war, beschäftigte hinter den Kulissen kurz darauf hohe Sicherheitskreise. Das berichtet Andreas Förster unter Berufung auf als geheim eingestufte Akten, die dem NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestags vorlagen. Demnach kontaktierte am 2. Dezember 2011 ein für die »Koordinierung der US-Geheimdienste in Süddeutschland« zuständiger Agent telefonisch den deutschen Militärgeheimdienst MAD und räumte ein, daß womöglich zwei Beamte der US-Bundespolizei FBI am Tag des Mordes in Heilbronn waren. Daß diese vor dem Einsatz in Deutschland die DIA in Kenntnis gesetzt haben, entspricht dem Dienstweg.

Nübel wirft derweil die Frage auf, ob der besagte SWR-Journalist inzwischen selbst Opfer einer Fälschung geworden ist. Die Echtheit eines für ihn peinlichen Vermerks des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg wollte er jedenfalls auf Anfrage von Kollegen nicht bestätigen. Dem Vermerk nach hatte der SWR-Reporter die Behörde vorab informiert, als er am 20. Juni 2012 den NSU-Zeugen und früheren V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes Tino Brandt aufsuchen wollte. Laut Nübel erklärte der Reporter auf Anfrage: »Sollte Ihr Vermerk authentisch sein, müssen Sie also diesbezügliche Fragen an den Urheber stellen.« Von der gefährlichen Nähe zwischen Journalisten und Behörden sowie der Abhängigkeit von der heißen Ware Information handelt im Buch das Kapitel »Der kurze Draht zum Amt« von Anton Hunger.

Andreas Förster (Hg.): Geheimsache NSU – Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur. Klöpfer & Meyer 2014, 315 Seiten, 22 Euro

* Aus: junge Welt, Donnerstag 17. Juli 2014


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