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Viel größer als gedacht

Jahresrückblick. Heute: NSU-Prozess. Die These vom "Trio" ist längst widerlegt – und »Brüder« schweigen bis in den Tod. Verhandlungstermine bis Anfang 2016

Von Claudia Wangerin *

Regelmäßige Prozessbeobachter kennen sich inzwischen. Sie wissen zum Beispiel, dass der skurrile Verehrer von Beate Zschäpe, der immer in der ersten Reihe sitzt und sie mit der Jungfrau von Orleans vergleicht, nicht zu den organisierten Neonazis gehört, die manchmal auch auf der Zuschauertribüne im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München auftauchen. Meistens zwinkern sie eher Ralf Wohlleben zu, der außer Zschäpe als einziger von fünf Angeklagten in Untersuchungshaft sitzt – oder André Eminger, der auf freiem Fuß ist und gerne mal mit Sprüchen wie »Brüder schweigen bis in den Tod« auf dem T-Shirt herumläuft. Zschäpe können sie weniger einschätzen. Anders als Wohlleben hat sie keine Szeneanwälte, und anders als Eminger kleidet sie sich nicht provokant.

Die Hauptangeklagte schweigt auch nach 172 Verhandlungstagen. Die Beweisaufnahme zur Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) sprang auch im Jahr 2014 zwischen verschiedenen Tatkomplexen hin und her. Verhandelt wird planmäßig mindestens bis Anfang 2016, aber die Anklagethese von einer terroristischen Vereinigung mit nur drei Mitgliedern ist schon lange erschüttert. Das sagen engagierte Nebenklagevertreter ebenso wie frühere Obleute in Untersuchungsausschüssen aus Bund und Ländern. »Dass es nur die drei waren, kann ich mir nicht vorstellen«, sagte der Christdemokrat Clemens Binninger Anfang Dezember dem stern. Der gelernte Polizist hatte dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags angehört – ebenso wie der Grüne Hans-Christian Ströbele, der in einem Interview mit der taz einen Monat zuvor sogar noch weiter ging. »Es gibt Indizien, dass sie sehr eng damit zu tun hatten«, sagte Ströbele über die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die laut Anklage mit Beate Zschäpe den NSU gegründet hatten. »Aber dass sie am Abzug waren, das ist in fast allen Fällen bis heute nicht bewiesen«, so Ströbele über die mutmaßlichen Mörder und Selbstmörder.

Tatsächlich müssen nicht immer beide »Uwes« zu den Tatorten gereist sein, wenn einer von ihnen ein Wohnmobil mit den Papieren des Mitangeklagten Holger Gerlach mietete. Zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle und die finale Brandstiftung in der mutmaßlichen Zwickauer-Terror-WG sind in der Anklageschrift erfasst. Gerlach, der wie Wohlleben und Eminger nur als Helfer des NSU gilt, hat bis heute keine Fragen beantwortet – er schweigt seit einer Erklärung, die er im Frühsommer 2013 vor Gericht verlas. Vielleicht nur ein Teilgeständnis. Im Juni 2014 stellten zwei Zeugen bei einer Lichtbildvorlage Ähnlichkeiten zwischen Gerlach und dem Attentäter fest, der im Dezember 2000 einen Geschenkkorb mit einer Bombe in ihrem Lebensmittelgeschäft in der Kölner zurückgelassen hatte. Laut Anklage war es Mundlos oder Böhnhardt – das konnten Vater und Schwester der durch den Anschlag schwer verletzten Mashia M. nicht bestätigen. Ein anderer Zeuge erkannte nur Mundlos als einen der beiden verdächtigen Radfahrer, die er 2005 in Tatortnähe des Mordes an Ismail Yasar in Nürnberg gesehen hatte. Noch größere Rätsel gaben die Zeugenaussagen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn auf, wo ganz andere, teils blutverschmierte Personen in Tatortnähe beschrieben worden waren.

Mashia M., die Tochter iranischer Flüchtlinge, die während der langwierigen Behandlung ihrer Gesichtsverletzungen selbst Medizin studiert hatte und nach eigener Aussage »jetzt erst recht« in Deutschland bleiben will, hinterließ bei den Zuhörern einen bleibenden Eindruck. Ergreifend waren auch die Ansprachen von Ismail Yozgat, dessen Sohn als letztes Opfer der rassistischen Mordserie des NSU gilt. Halit Yozgat war 2006 in seinem Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel erschossen worden. So fordernd und bestimmt sein Vater vor Gericht auftrat, wenn es um die Aufklärung der staatlichen Verstrickungen und die Rolle des hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme am Tatort ging, so sehr wünschte er sich Harmonie in Deutschland – sogar mit den Eltern der mutmaßlichen Haupttäter wollte er »weiße Tauben hochfliegen lassen«, wenn die Straße nach seinem Sohn benannt würde. Dem Geheimdienstler, der angeblich seinen niedergeschossenen Sohn hinter der Ladentheke nicht gesehen hatte, gab Ismail Yozgat bei der Entlassung aus dem Zeugenstand ganz andere Töne mit auf den Weg: »Temme, ich glaube dir überhaupt nicht.« Ayse Yozgat, die Mutter des Opfers, hatte in ihrem Appell im Oktober 2013 deutlich gemacht, dass sie von weiteren Mittätern ausgeht. Beate Zschäpe solle nicht »die Sünden anderer« auf sich nehmen, sagte sie, als sie die Hauptangeklagte – bis heute vergeblich – um Aufklärung bat. Zschäpe, die von zahlreichen Zeugen als selbstbewusste Frau geschildert wurde, lässt sich nicht in die Karten schauen. Allerdings bestreitet ihre Verteidigung nicht mehr, dass sie das Feuer in der Zwickauer Wohngemeinschaft legte, in deren Trümmern später – leider schlampig dokumentiert – die Tatwaffe der Mordserie auftauchte. Aus der Brandstiftung lassen sich Rückschlüsse über ihr Wissen um weitere Taten ziehen. In der Anklageschrift gilt die heute 40jährige als gleichberechtigte Planerin in einer Dreiergruppe. Aber alles deutet auf ein größeres Netzwerk hin.

Mehrfach kritisierten Nebenklagevertreter die Bundesanwaltschaft, weil offensichtliche Lügen vor Gericht folgenlos blieben. Unglaubwürdige Zeugen aus der Neonaziszene und Geheimdienstkreisen nahmen sich bisher nichts. Bei manchem Kandidaten war nicht einmal klar zu erkennen, wo er primär dazu gehört hatte. So etwa bei Kai Dalek, der vom Berliner Verfassungsschutz zum bayerischen Landesamt und somit von der linken in die rechte Szene überführt worden war, wo er sich in den 1990er Jahren als eine Art Provinzgouverneur gefühlt haben muss. Als angeblich gesetzestreuer Anti-Antifa-Aktivist lieferte er sich in Franken einen Revierkampf mit dem V-Mann Tino Brandt. Letzterer hatte im »Thüringer Heimatschutz«, dem das mutmaßliche NSU-Kerntrio vor seinem Untertauchen angehörte, eine ähnlich wichtige Position eingenommen, bevor es ihn nach Coburg zog. Nach Meinung eines Quellenführers war Brandt ein überzeugter Neonazi, dem man seinen »Verräterkomplex« durch gute Bezahlung versüßen musste. Inzwischen ist Brandt zu einer Haftstrafe verurteilt worden – allerdings nicht wegen seiner Neonaziaktivitäten, sondern wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 3. Januar 2015


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