Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eine Bombe zum Jahrestag

NSU-Prozess macht nur mäßige Fortschritte

Von René Heilig *

Seit einem Jahr wird am Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte verhandelt. Nach 110 Prozesstagen ist der Erkenntnisgewinn zu den Morden des NSU gering.

Herbert Diemer, der Chef des Anklägerteams der Bundesanwaltschaft, ist im Grundsatz zufrieden. Alles läuft zwar langsam, doch letztlich nach Plan. Es sei Aufgabe eines Strafprozesses, die in der Anklage erhobenen Vorwürfe gegen die Angeklagten zu prüfen, ihre Relevanz zu wichten und dann ein Urteil zu sprechen.

Nimmermüde wiederholt er diesen Rechtsgrundsatz gegenüber den Journalisten, die von Prozesstag zu Prozesstag mehr fürchten, dass ihre Berichte immer weniger Leser und Zuhörer finden. Auch wenn Diemer diese Nöte nachvollziehen kann, so meint er dennoch, dass ein Prozess einfach nicht leisten kann, was viele – auch viele Opferfamilien, die als Nebenkläger auftreten – erwarten. Sie wollen, dass die Motive und Hintergründe des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) besser ausgeleuchtet werden, dass deutlich wird, auf wie viel Unterstützung sich die Neonazi-Terroristen stützen konnten, wie verzweigt das Netzwerk ist, das, von rassistisch motiviertem Hass geleitet, das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft auf brutalste Art infrage stellt.

Doch davon steht so gut wie nichts in der rund 500-seitigen Anklage. Ohnehin hat man das Gefühl, dass der Prozess sich immer mehr auf die Angeklagte Beate Zschäpe konzentriert. Am Dienstag war sie unpässlich. Sie sah schlecht aus, ihr war übel. Ursache sei eine Nachricht, die sie am Morgen erhalten hat, zu der sie sich aber nicht äußern wollte, zitierte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am Nachmittag einen Gerichtsarzt. Und so endete der Prozesstag am Dienstag mit einem Befangenheitsantrag der Verteidigung Zschäpes – diesmal gegen den Gerichtsarzt. Der hatte Verhandlungsfähigkeit attestiert.

Der 39-Jährigen wird Mittäterschaft an zehn Morden, zwei Bombenanschlägen, 15 Banküberfällen vorgeworfen. Sie soll mitgeholfen haben, eine terroristische Vereinigung zu gründen. Zu der haben ihre gleichfalls aus Thüringen stammenden Lebens- und Geistesgefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gehört. Die sind tot. Selbstmord, heißt es.

Zschäpe allein könnte helfen, die vielen fehlenden Mosaiksteine der mangelhaften Aufklärung herbeizuschaffen. Doch sie schweigt. Und dieses Schweigen bindet so viel mediale Aufmerksamkeit, dass dahinter die anderen vier angeklagten Männer – der einstige Jenaer NPD-Chef Ralf Wohlleben sowie die anderen mutmaßlichen NSU-Unterstützer André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schulze – und deren Taten fast aus dem Blick verschwinden. Jüngst hat die höchst sachkundige Gerichtsbeobachterin des »Spiegel«, Gisela Friedrichsen, Zschäpe sogar als »Sphinx« beschrieben.

Doch die Angeklagte, die nur sehr sehr selten Emotionen erkennen lässt, hat nichts Mythologisches. Und dass sie nur das »Heimchen« war, das ohne Fragen zu stellen daheim wartete, dass die Uwes von ihren Mord- und Raubtouren zurückkehrten, scheint ausgeschlossen. Indizien gibt es viele, Beweise wenig. Zumindest erwartet Zschäpe eine Verurteilung wegen schwerer Brandstiftung. Sie hat im November 2011 die Wohnung des Terrortrios angezündet und damit Nachbarn in höchste Gefahr gebracht. Allein dafür kann das Gericht auf Höchststrafe erkennen: lebenslänglich. Doch das Urteil wird wohl erst Mitte kommenden Jahres fallen.

Wer gehofft hatte, dass der Prozess auch eine gesellschaftspolitische, quasi erzieherische oder womöglich auch eine abschreckende Komponente hat, muss enttäuscht zur Kenntnis nehmen: Die militante Neonaziszene in Deutschland fühlt sich nicht gebremst. Im Gegenteil. Manche zeigen ihre Missachtung des Prozesses als Zeugen in München. Sie haben zumeist riesige Erinnerungslücken. Andere zeigen öffentlich ihre Sympathie für die Angeklagten, fordern lautstark »Freiheit für Wolle« (Wohlleben).

Zudem sollte man nicht vergessen, dass in München Geschichte verhandelt wird. Die drei Neonazis waren bereits 1998 in Jena untergetaucht. Die von ihnen mutmaßlich begangene Mordserie, bei der acht türkische und ein griechischer Kleinunternehmer sowie eine deutsche Polizistin umgebracht worden waren, endete – so glaubt man – 2007.

Seither wuchs eine neue Generation Neonazis heran. Sie haben ihre Kampfmethoden verändert, agieren grenzüberschreitend, pflegen intensive Kontakte zum organisierten Verbrechen, kooperieren mit Gruppen aus der Rockerszene. Ohne dass sie unter einem wirklich wirksamen Verfolgungsdruck des Staates stehen.

Am Dienstag explodierte im thüringischen Mühlhausen ein selbstgebauter Sprengsatz. Die Polizei schließt nach bisherigen Erkenntnissen einen fremdenfeindlichen oder politisch motivierten Hintergrund aus. Die Staatsanwaltschaft sieht sich nicht zu Ermittlungen herausgefordert. Vermutlich war das ja nur wieder ein Streich dummer Jungen – am ersten Jahrestag des Prozessbeginns in München.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 7. Mai 2014


Zeichen zum Jahrestag

NSU-Prozeß: Migrantenverband DIDF, Oppositionspolitiker und Künstler demonstrierten vor dem Justizgebäude. Zschäpe klagte über Unwohlsein

Von Claudia Wangerin **


Der Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) ist am Dienstag nicht ohne Zwischenfälle ins zweite Jahr gegangen. Verhandelt werden konnte von 9.30 bis 15 Uhr nur etwa 20 Minuten, wie ein Nebenklageanwalt jW mitteilte. Während die Hauptangeklagte Beate Zschäpe über Unwohlsein klagte und die Sitzung für mehrere Stunden unterbrochen werden mußte, zeigten vor dem Gerichtsgebäude mehr als hundert Menschen Solidarität mit den Angehörigen der Mordopfer und den Verletzten. Dazu aufgerufen hatte die Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF), in der überwiegend türkisch- und kurdischstämmige Menschen organisiert sind. Ein Jahr nach Verhandlungsbeginn forderten sie Aufklärung darüber, »wer sich tatsächlich hinter der Mordserie versteckt«, wie es in der Einladung zu ihrer Pressekonferenz hieß. Unterstützt wurden sie dabei von der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen (Die Linke), dem Sänger und Liedermacher Konstantin Wecker sowie seinem Künstlerkollegen Cetin Oraner, der im März auf der offenen Liste der Linkspartei in den Münchner Stadtrat gewählt worden war. Anders als die Bundesanwaltschaft gehen sie von zum Teil noch unbekannten Mittätern aus. Diese Einschätzung teilen sie allerdings mit mehreren Anwälten der Nebenklage, die umfangreiche Aktenkenntnis haben und im Laufe des ersten Verhandlungsjahres immer wieder mit den Anklägern über die Relevanz ihrer Beweisanträge streiten mußten.

»Ohne die Kumpanei der staatlichen Sicherheitsbehörden hätte es die rassistische Mordserie des NSU so nicht geben können«, sagte Dagdelen vor dem Justizpalast. Kundgebungsteilnehmer forderten als Konsequenz auch ein Verbot der neofaschistischen NPD und die Auflösung des Verfassungsschutzes, der trotz der hohen Zahl seiner V-Leute im Umfeld des mutmaßlichen NSU-Kerntrios nicht willens oder in der Lage war, die rechte Terrorgruppe zu stoppen. Warum diese nach bisherigem Ermittlungsstand 2007 ohne erkennbaren Fahndungsdruck das Töten einstellte, ist ebenso ungeklärt wie die Umstände des angeblichen Selbstmordes der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, nach dem sich der NSU im November 2011 zu neun rassistischen Morden bekannt hatte.

Für die Bundesanwaltschaft ist Beate Zschäpe nach wie vor die einzige Überlebende des NSU – die vier Mitangeklagten gelten nur als Helfer. Der NSU selbst hatte sich in einem Bekennervideo als »Netzwerk von Kameraden« bezeichnet.

Zschäpe brachte am Dienstag ihre Übelkeit gegenüber einem Gerichtsarzt mit einer Nachricht in Verbindung, die sie am Morgen vor Sitzungsbeginn erhalten habe. Den Inhalt wollte sie aber nicht preisgeben. Der Arzt befand, die Verhandlungsfähigkeit sei gegeben. Die Verteidigung bat daraufhin erneut um Unterbrechung, um sich mit Zschäpe zu beraten.

** Aus: junge welt, Mittwoch, 7. Mai 2014


Zurück zum NSU-Prozess

Zum NSU-Prozess (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage