Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was ging vor in Nachbars Garten?

Spannende Zeugen im NSU-Prozess

Von René Heilig *

Beim 40. Verhandlungstag im NSU-Prozess ging es am Montag um die spannende Frage: War die angeklagte Beate Zschäpe im April 2006 in Dortmund unterwegs? Eine wie aus dem Nichts aufgetauchte Zeugin will sie gesehen haben. In jenem Monat wurde dort der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik umgebracht.

Veronika von A. war für 9.30 Uhr vor den Münchner Strafsenat geladen worden. Die 63-jährige freie Journalistin behauptet, in der ersten Aprilwoche 2006 mehrere Personen auf einem Nachbargrundstück beobachtet zu haben. Nachdem der Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) im November 2011 aufgeflogen war, habe sie auch deren Namen erfahren: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Auf Fotos habe sie die wiedererkannt.

Die Aussage könnte brisant werden, denn am 4. April 2006 hat man in Dortmund den Kioskbesitzer Mehmet Kubasik mit zwei Kopfschüssen getötet. Tatwaffe war eine Ceska 83. Zu diesen Indizien, die die Täterschaft der drei Neonazis vermuten lassen, käme nun eine wichtige Aussage hinzu. Die beiden Männer sind tot, angeblich verübten sie Selbstmord, Beate Zschäpe aber ist als Mittäterin bei allen zehn Morden der rechtsextremistischen Terrorgruppierung NSU angeklagt.

Doch gestern stockte der Prozess zunächst mal wieder. Grund: Am Morgen waren den Prozessbeteiligten neue Akten übergeben worden. Die knapp 200 Seiten vom Bundeskriminalamt (BKA) beleuchten die Aussage der Zeugin. Olaf Klemke, einer der Verteidiger des Angeklagten Ralf Wohlleben, beantragte Lesezeit. Zschäpes Rechtsbeistand Wolfgang Heer monierte Fotos in den Akten. Sein Protest bezog sich vor allem auf das Blatt 6657. Es zeigt die frühere Nachbarin der Zeugin Desiree D. – leider nur verschwommen.

Hinter Heers Protest steht die Frage: Hat Frau von A. diese Frau womöglich mit der Zschäpe verwechselt? Möglich. Auch die Vernehmung des Ehemannes der Zeugin lässt die Idee aufkommen. Der pensionierte Historiker bestätigt zwar, dass seine Frau im November 2011 von ihrem Verdacht gesprochen hat, er selbst kann sich an das in Frage stehende Geschehen auf dem Nachbargrundstück nicht erinnern. Das BKA vernahm die Nachbarn, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Zwei Stunden nach dem Ladungstermin konnte die Zeugin gestern dann berichten. Sie sprach ruhig, wählte die Worte, formulierte fast druckreif, ließ sich nicht von geschickten Fragen beirren, berichtete detailsicher, was sie aus dem Dachfenster beobachtete. Von Grabungen und einer Folie war die Rede. Sie erwähnte einen »Skinhead«, der den Dreien »wie ein kleiner Feldherr« sein Grundstück gezeigt habe. Sie habe geglaubt, das seien neue Nachbarn, sie habe sogar Blickkontakt mit Zschäpe gehabt. Dann sei die Gruppe »in militärischer Ordnung« im Haus verschwunden.

Und dann redete Frau von A. über Wohnmobile. Am 31. März 2006 habe sie eine Lieferung erwartet, doch ein solcher Camper stand vor der Einfahrt. Sie habe daher einen Zettel angebracht, mit der Bitte, an einer anderen Stelle zu parken.

Schon in den Monaten zuvor seien ihr Wohnmobile aufgefallen. Die Zeugin glaubt, dass auf dem Nummernschild die Buchstaben C und A sowie ein Z zu lesen waren. C wie Chemnitz? Z für Zwickau? In beiden Orten haben Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt jahrelang unbehelligt gelebt. A deutet auf Augsburg hin. Zu Kameradschaften in Nordbayern gab es gute Kontakte. Die beiden Männer waren oft in Wohnmobilen unterwegs, wenn sie Überfälle begingen oder mordeten.

Spannend kann auch die Verhandlung am heutigen Dienstag werden. Geladen ist der ehemalige Verfassungsschutzagent Andreas Temme. Er führte V-Leute unter anderem aus dem Bereich Rechtsextremismus, doch er war auch ganz privat als »wildman70« unterwegs. Am 6. April 2006 auch in einem Kasseler Intenetcafé, als der 21-jährige Besitzer Halit Yozgat hingerichtet wurde.

»Halit Yozgat wurde ziemlich genau um 17:01:25 erschossen. Zu dieser Zeit saß T. an PC Nr. 2 und surfte im Internet«, heißt es in einem Polizeibericht. Während ein Telefonierer in der Kabine immerhin einen Knall gehört hat, der wie das Platzen eines Luftballons klang, hörte der Verfassungsschützer, selbst Sportschütze, nichts. Er sagt, er habe das Café vor dem Mord verlassen. Doch zwischen seinem Abmelden am Computer und dem von der Polizei ermittelten Mordzeitpunkt liegen nur Sekunden. Warum er sich, auch als die Polizei dringend nach Zeugen der Bluttat suchte, nicht gemeldet hat, lässt er bislang offen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 1. Oktober 2013


Verteidigung greift an

Rechtsanwalt im NSU-Prozeß zieht Glaubwürdigkeit einer Zeugin wegen früherer DKP-Mitgliedschaft in Zweifel

Von Claudia Wangerin, München **


Die Aussage von Veronika von A. war mit Spannung erwartet worden: Sollte sich ihre Beobachtung als richtig erweisen, wäre Beate Zschäpe bei einem der Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in Tatortnähe gewesen. Anfang April 2006 will die Zeugin sie etwa sieben Kilometer entfernt vom Kiosk des Mordopfers Mehmet Kubasik auf dem Nachbargrundstück ihres Wohnhauses in Dortmund gesehen haben. »Also, wenn Sie nicht ein perfektes Double haben, Frau Zschäpe, dann glaube ich schon, daß ich das so wiederholen kann«, sagte Veronika von A. am Montag vor dem Oberlandesgericht München. Wenn die Hauptangeklagte sich von dieser Aussage nervös machen ließ, dann war ihr das zumindest nicht anzumerken. Ihre Anwälte hielten sich mit konfrontativen Fragen zurück. Ganz anders die Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, den die Zeugin dort gar nicht gesehen haben will.

Das Hauptinteresse von Rechtsanwalt Olaf Klemke galt der politischen Vergangenheit der Zeugin. Klemke fragte die freie Journalistin zunächst, welche Zeitungen sie lese – außer der Süddeutschen seien das unter anderem Die Zeit und die Neue Zürcher Zeitung, gab die Befragte an. Dann kam er auf Bücher zu sprechen, als deren Mitherausgeberin sie fungiert habe. »Ich habe in den 1970er Jahren das Buch ›Grundwissen für junge Sozialisten‹ herausgegeben«, sagte die Zeugin ohne zu zögern. Auf weitere Nachfragen erklärte sie, sie wolle »das abkürzen«. Sie sei stellvertretende Vorsitzende der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) gewesen und habe von 1980 bis 1988 dem Bundesvorstand der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) angehört. Sie habe zur Gruppe der »Neuerer« gehört und sei 1988 ausgeschlossen worden. Klemke wollte zudem wissen, ob der Ehemann der Zeugin, mit dem sie sich über die Beobachtung ausgetauscht habe, »ein ausgewiesener Fachmann für Neonationalsozialismus« sei. Götzl mußte die Verhandlung unterbrechen, als über die Zulässigkeit der letzten Frage gestritten wurde. »Die Frage ihrer politisch-ideologischen Einstellung hat durchaus was mit der Glaubwürdigkeit zu tun«, befand Klemke in aggressivem Ton.

Veronika von A. will zwar nicht den Mitangeklagten Ralf Wohlleben gesehen haben, dafür aber einen anderen Mann mit »Szenemerkmalen«, den sie »den Skinhead« nannte. Er habe eine Glatze und Armeehosen mit Camouflagemuster getragen. »Wie ein kleiner Feldherr« habe er Zschäpe – oder einer Frau, die wie die Angeklagte aussah – und zwei Männern mit dem Aussehen ihrer mutmaßlichen Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das Grundstück gezeigt. Alle drei seien schwarz gekleidet gewesen, die beiden Männer hätten in einer sehr geraden, militärischen Haltung dort gestanden. Sie habe damals ihrem Mann gesagt, daß es sich für sie bedrohlich angefühlt habe. »Diese schwarze Front, die da unten stand, hatte keine schöne Ausstrahlung«, sagte sie vor Gericht. Nach Aufdeckung des NSU durch den mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt im November 2011 habe sie beide auf Fotos in der Presse wiedererkannt, wenig später auch Zschäpe.

Den »Skinhead« und einen weiteren, deutlich jüngeren Mann von sehr schmaler Statur habe sie bereits im Jahr 2005 bei Grabungsarbeiten im Garten gesehen – zu ungewöhnlichen Zeiten, mitunter abends oder sogar nachts. Als »schwieriges Umfeld« empfand Veronika von A. die Gegend um ihr Wohnhaus am Westkamp 2. Das benachbarte »Farbkästchen« sei eine »sehr unangenehme Gaststätte« gewesen. Manchmal habe sie Sieg-Heil-Rufe gehört. Auf eine Beschwerde bei den Wirtsleuten sei ihr gesagt worden, sie könne ihre Anzeige gleich in der Kneipe aufgeben – da säßen ja die Leute von der Polizeiwache.

Sie habe schon angesichts der Grabungsarbeiten eine Befürchtung gehabt, die sie damals der Polizei nicht mitgeteilt habe, weil sie davon ausgegangen sei, die Beamten würden dies als »Nachbarschaftsstreit« abtun. Sie habe sich mit ihrem Mann darüber ausgetauscht, ob dies Neonazis sein könnten, die vielleicht »belastende Dinge vergraben«. Das könne vielleicht an dem aufgeheizten Klima rund um die Dortmunder Neonaziszene im Jahr 2005 gelegen haben.

Warum sie – auch nach Aufdeckung des NSU – nicht früher die Polizei verständigt und was sie sich damals gedacht habe, wollten sowohl der Vorsitzende Richter Manfred Götzl als auch Zschäpe-Anwältin Anja Sturm von ihr wissen. Veronika von A. erklärte, ihr sei nicht bewußt gewesen, daß sie die einzige Zeugin sein könnte, die Zschäpe in der Nähe eines Tatorts gesehen hat. An anderer Stelle erwähnte die 63jährige aber die Angst um ihre erwachsene Tochter. Deren Existenz habe sie zunächst nicht öffentlich erwähnen wollen – der Umzug der jungen Frau habe aber mit dem Möbelwagen zu tun gehabt, den sie als Gedächtnisanker nutze, um den Zeitraum ihrer Beobachtung einzugrenzen. Nach Abfahrt des Möbelwagens sei sie mit Sortierarbeiten im Haus beschäftigt gewesen, bei dieser Gelegenheit habe sie durch das Dachfenster die Personen beobachtet. Auch warum ein Fernglas, das sie dabei zur Hand nahm, dort immer griffbereit stand, mußte sie erklären. Es habe ihrer Mutter gehört, die damit in die Bäume geschaut habe.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 1. Oktober 2013


Zurück zum NSU-Prozess

Zurück zur Homepage