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Verzögern als Strategie

Zschäpe-Verteidigung beantragte Ende des NSU-Prozesses – und scheiterte

Von René Heilig, München *

Am Dienstag wurde vor dem Oberlandesgericht in München der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und vier als Helfer der rechtsextremen Mörderzelle Mitangeklagte fortgesetzt. Was der Verteidigung die Gelegenheit gab, die Einstellung des Verfahrens zu fordern.

Beobachter mussten gestern lange warten, bis die Verhandlung sich dem eigentlichen Gegenstand nähern konnte. Dabei waren zwei der Angeklagten – Carsten Schultze und Holger Gerlach – durchaus bereit, Rede und Antwort zu stehen.

Doch es ging gestern erst mal wieder mit der Abteilung Anträge los. Anja Sturm, eine mit der Verteidigung von Beate Zschäpe beauftragte und dabei höchst beflissene Rechtsanwältin, brachte einen neuen ein: Inhalt: »Aufgrund der gezielten, von den Strafverfolgungsbehörden selbst gesteuerten und betriebenen Vorverurteilung unserer Mandantin« sei ein fairer Prozess nicht mehr durchführbar. Ergo: Schluss damit! Der »Sturmlauf« dauerte eine Stunde und zehn Minuten. So lange brauchte die Verteidigerin, um zu erklären, wieso aus ihrer Sicht zu befürchten sei, dass Zeugen durch Äußerungen des Generalbundesanwaltes, des Präsidenten des Bundeskriminalamtes und durch allerlei verantwortliche Politiker beeinflusst wurden und werden.

Auch in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sei »eine manifeste Vorverurteilung« ihrer Mandantin vorgenommen worden. Man habe Zschäpe wiederholt als »Mitglied einer Mörderbande« bezeichnet, »ohne dass in den Äußerungen überhaupt zum Ausdruck kam, dass es sich um einen Tatverdacht handelt«.

Verwiesen wurde auch auf fehlende oder geschredderte Akten, die eine wichtige Grundlage zur Beurteilung der Vorwürfe seien. Zugleich kritisierte die Verteidigung der Hauptangeklagten, dass kein Verfahrensbeteiligter sich ein Bild über die Vielzahl und die Rolle von sogenannten Vertrauenspersonen machen kann, die im Umfeld der Angeklagten als Spitzel gewirkt haben. Verwiesen wurde auf Leute wie Tino Brandt (»Otto«), Thomas Richter (»Corelli«), auf Thomas Starke, (VP 562 des Berliner Landeskriminalamtes), Kai Dalek aus Bayern oder auf Carsten Szeczepanski alias »Piatto« aus Brandenburg. Nun sei in Baden-Württemberg ein »Krokus« erblüht.

Die Fakten sind nicht aus der Luft gegriffen. Und es stimmt auch, dass man die Kenntnisse über V-Leute und mache Operation der geheimen Dienste zumeist durch Medien erlangte, denn die Sicherheitsbehörden hätten Quellenschutz zumeist über das Aufklärungsinteresse gestellt.

Die Bundesanwaltschaft beurteilte wie Vertreter der Nebenklage den Antrag der Zschäpe-Verteidigung als unbegründet. Ein weiterer Antrag, diesmal aus den Reihen der Nebenkläger, betraf die Prozessbeobachtung durch Vertreter des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Beide Behörden hatten die Entsendung von Mitarbeitern schriftlich angekündigt, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen und Partner wie beispielsweise Staatsschutzabteilungen in den Ländern zu informieren. Eine solche Vorgehensweise sei, so der Tenor des Antrages, im Interesse einer geordneten Prozessführung nicht tolerierbar. Die Verteidiger von Zschäpe und Wohlleben schlossen sich dem Antrag an. Und der Vorsitzende fragte in die Runde: »Sind behördliche Beobachter im Saal?«

Gegen 16 Uhr kam es zur Vernehmung des ersten Angeklagten. Carsten Schultze schilderte sein Heranwachsen in Jena; wie er merkte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Quasi parallel zu seinen verzweifelten Bemühungen, nicht zuzulassen, dass etwas mit ihm »nicht stimmte«, sei er hineingeschlittert in die rechtsextreme Szene. Namen bekannter Neonazis wie die der Gebrüder Kapke fielen. Der Mitangeklagte »Herr Wohlleben« habe sich einmal abwertend über Schwule ausgelassen, da sei Schultze klar gewesen, dass sein Platz nicht bei den Neonazis sein konnte. Dennoch: Schultze, so sagt die Anklage, hat die Waffe besorgt, mit der neun Menschen hingerichtet wurden.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Juni 2013


Offene Worte

Erster Angeklagter im NSU-Prozeß packt stückweise aus. BKA und Verfassungsschutz dürfen den Prozeß systematisch beobachten

Von Claudia Wangerin, München **


Mobbing in der Schule, das Gefühl, in Jena der einzige Schwule zu sein und die Sehnsucht nach Normalität: Im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) hat der Angeklagte Carsten S. am Dienstag seinen Weg in die Neonaziszene geschildert, der er mittlerweile als Verräter gilt. »Mit 13 habe ich gemerkt, daß etwas nicht stimmt«, sagte der 33jährige vor dem Oberlandesgericht München. In der Schule habe er versucht, sich »normal zu verhalten«, trotzdem sei er gemobbt worden. In der rechten Szene lebte er mit dem Widerspruch, in der Gesellschaft junger Männer zu sein, dazuzugehören – und doch nicht als der erwünscht zu sein, der er wirklich war.

Am 1. März 1997 zog ihn die NPD-Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung nach München. Als er sich einen Platz in einem Bus aus Thüringen besorgen wollte, lernte er die Neonazis Christian und André Kapke kennen, die aus dem »Thüringer Heimatschutz« auch die späteren mutmaßlichen Haupttäter der NSU-Mordserie kannten. Der Vorwurf der Beihilfe gegen S. bezieht sich auf einen Zeitraum, in dem er als heranwachsend galt. Als 19jähriger soll er eine Schußwaffe für das mutmaßliche NSU-Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe besorgt haben.

S.´s Aussage war mit Spannung erwartet worden, da es vorab in Medienberichten hieß, er werde den mit­angeklagten Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben schwerer belasten als bisher bekannt. Wohlleben soll Organisator des Kuriersystems für die drei 1998 untergetauchten Neonazis gewesen sein. S.´s Vernehmung dauerte bei Redak­tionsschluß an. Verteidiger und Anwälte der Nebenklage hatten vorher noch inhaltlich brisante Anträge zu stellen.

Kaum hatte der Vorsitzende Richter Manfed Götzl den Antrag der Verteidigung von Ralf Wohlleben auf Einstellung des Verfahrens abgelehnt, forderte Rechtsanwältin Anja Sturm dessen Einstellung für die Hauptangeklagte Zschäpe. »Unheilbare Verfahrenshindernisse« seien durch Vorverurteilung sowie nicht mehr nachvollziehbare Aktivitäten von »Vertrauensleuten« des Inlandsgeheimdienstes und der Polizei im Umfeld der mutmaßlichen Haupttäter entstanden. Verfahrensrelevante Akten seien vom Verfassungsschutz vernichtet worden. Anders als Wohllebens Anwältin Nicole Schneiders, die es bereits als Vorverurteilung ansieht, wenn die angeklagten Taten als rassistische Mordserie bezeichnet werden, versuchte Sturm jedoch nicht, die rechte Szene als solche reinzuwaschen. Sie argumentierte personenbezogen mit der juristischen Unschuldsvermutung: Ihre Mandantin sei von Vertretern der Strafverfolgungsbehörden als Mitglied einer Mörderbande und einer terroristischen Vereinigung bezeichnet worden, obwohl dies erst in der Hauptverhandlung geklärt werden solle. Selbst in den Untersuchungsausschüssen, deren Aufklärungsarbeit »nicht hoch genug gewürdigt« werden könne, sei eine »manifeste Vorverurteilung« zu beobachten.

Nebenklagevertreter beantragten den Ausschluß behördlicher Beobachter von der Hauptverhandlung. Sowohl das Bundeskriminalamt als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hätten angekündigt, eigene Prozeßbeobachter zu schicken, sagte Nebenklageanwalt Alexander Kienzle, der die Familie des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat vertitt. Das würde »eine Gefährdung der Wahrheitsfindung bedeuten«, so Kienzle. Weitere Anwälte von Nebenklage und Verteidigung schlossen sich dem Antrag an. Richter Götzl sagte dazu: »Ich gebe bekannt, daß sich bei mir keine Prozeßbeobachter gemeldet haben.« Er forderte Besucher im behördlichen Auftrag auf, sich zu melden – was natürlich niemand tat. Nach einer Unterbrechung lehnte Götzl den Antrag ab.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Juni 2013


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