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Verfassungsschutzschirm

NSU-Prozeß. Bundesanwaltschaft erklärt Beweisanträge zur Rolle des Geheimdienstlers Temme für irrelevant. Gutachten über Sprache der Hauptangeklagten gefordert

Von Claudia Wangerin, München *

Überrascht waren die Nebenklagevertreter der Familien Yozgat und Kubasik nicht, als Oberstaatsanwältin Anette Greger am Donnerstag im Münchner NSU-Prozeß die Stellungnahme der Bundesanwaltschaft zu ihren Beweisanträgen vom Mittwoch verlas. »Gebetsmühlenartig« nannte Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer die Argumentation der Ankläger im Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«. Keine Rolle für den Ausgang des Verfahrens spielt laut Bundesanwaltschaft die Glaubwürdigkeit des Zeugen Andreas Temme, ehemals V-Mann-Führer des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) und im April 2006 am Tatort des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé. Warum der Geheimdienstveteran dann überhaupt vom Oberlandesgericht München als Zeuge geladen wurde, darauf blieb Greger eine Antwort schuldig. Etwaige Mittäter oder Unterstützer zu ermitteln, sei nicht Aufgabe dieses Strafverfahrens, erklärte sie mit Blick auf den ehemals Beschuldigten Temme. Die den Anträgen zugrundeliegenden Beweisthemen seien für die Entscheidung über Schuld und Strafmaß für die fünf Angeklagten nicht relevant und daher abzulehnen.

Die Anwälte der Familie Yozgat, Alexander Kienzle, Thomas Bliwier und Doris Dierbach, hatten am Mittwoch die Ladung weiterer Zeugen mit direktem Bezug zu Temme beantragt – darunter der Geheimschutzbeauftragte des LfV Hessen, der ihm telefonisch geraten habe, bei Vernehmungen »so nah wie möglich an der Wahrheit« zu bleiben. Temme galt seinerzeit als Hauptverdächtiger, weil er sich nach dem Mord im Internetcafé nicht als Zeuge bei der Polizei gemeldet hatte und nur anhand seiner Login-Daten ausfindig gemacht werden konnte. Die Nebenklageanwälte wollten außerdem Teilnehmer einer Besprechung zwischen dem damals zuständigen Staatsanwalt, den polizeilichen Ermittlern und dem Geheimschutzbeauftragten des LfV als Zeugen vernehmen.

Darüber hinaus hatten sie die Beiziehung des Aktenbestands aus dem damaligen Ermittlungsverfahren gegen Temme beantragt. Auch das ist nach Ansicht der Ankläger abzulehnen. Auch das Thema eines früheren Beweisantrags – Temmes damalige Angaben über regelmäßige Fahrt- und Wegstrecken, auf denen die Markierungen ausgespähter Tatorte in Kassel auf dem Kartenmaterial der mutmaßlichen NSU-Terroristen liegen – rechtfertigt demnach die Beiziehung der Akten nicht.

Uneinig waren sich weitere Nebenklagevertreter am Donnerstag über den Sinn eines Antrags, in dem gefordert wurde, die Gefängnisbriefe der Hauptangeklagten Beate Zschäpe sprachwissenschaftlich auszuwerten und mit dem 2002 verfaßten »Manifest« des NSU zu vergleichen. Hintergrund ist ein Bericht in der neuesten Ausgabe des Magazins Stern, das zuvor zwei Sprachwissenschaftler beauftragt hatte, ein solches »forensisch-linguistisches Gutachten« zu erstellen. Dabei hätten die beiden Wissenschaftler unabhängig voneinander Sprache, Stil und charakteristische Fehler analysiert und zahlreiche Übereinstimmungen festgestellt, berichtet das Magazin in seiner neuesten Ausgabe. Darauf bezog sich Nebenklageanwältin Gül Pinar. Ihr Kollege Eberhard Reinecke äußerte sich dazu kritisch. Wenn man von mehreren Autoren ausgehe, könnten passende Elemente überbewertet werden. Zudem zeigte sich Reinecke skeptisch, was die vom Stern suggerierte Notwendigkeit eines solchen Gutachtens als zusätzliches Beweismittel angehe – er sehe diese Notwendigkeit nicht. Am Nachmittag wurden ehemalige Nachbarn des mutmaßlichen NSU-Kerntrios aus Zwickau befragt.

* Aus: junge welt, Freitag, 15. November 2013


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