Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ringen um eine Aussage

Das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe schweigt. Die Polizei hat mehrfach versucht, ihre Haltung zu ändern – möglicherweise mit fragwürdigen Methoden

Von Sebastian Carlens, München *

Nachdem Beate Zschäpe am 4. November 2011, unmittelbar nach dem Tod ihrer beiden Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, das Zwickauer Versteck des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) in die Luft gesprengt haben soll und sich auf die Flucht begab, muß ihr Zeitgefühl etwas durcheinander geraten sein: Sechs Tage lang sei sie mit der Bahn kreuz und quer durch Deutschland gefahren, erzählte sie einem Vernehmungsbeamten am 8. November. Das Gespräch zwischen Zschäpe, dem Polizisten und einer weiteren Beamtin, die aus Baden-Württemberg dazustieß, war kein offizielles Verhör – die mutmaßliche Rechtsterroristin plauderte mit den beiden nach ihrer eigentlichen Vernehmung, in der sie lediglich Angaben zur Person machte. Ihre Flucht dauerte nur fünf Tage, doch die Reise muß Zschäpe mitgenommen haben: »Man hat ihr schon angemerkt, daß sie ein paar Tage unterwegs war«, sagte der Jenaer Beamte am 2. Juli 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht. Am 8. November 2011 hatte sie sich in ihrer Heimatstadt Jena der Polizei gestellt. Er »habe den Eindruck gewonnen, daß Zschäpe am nächsten Tag bei ihrem Termin vor dem Haftrichter eine Erklärung abgeben« wolle, sagte der Polizist.

Aus dieser Erklärung sollte nichts werden. Doch außerhalb von offiziellen Verhören zeigte sich die mutmaßlich einzige Überlebende des NSU durchaus gesprächsbereit: »Sie erzählte, wie sie aufgewachsen ist, über das Leben in Zwickau und die beiden Uwes: Die waren ihre Familie«, so der Zwickauer Polizist. »Die beiden Uwes« stammten, im Gegensatz zu ihr selbst, »aus gutem Elternhause«, habe sie gesagt – sie könne sich auch nicht erklären, warum »beide so geworden seien«. Die beiden hätten sie allerdings »zu nichts gezwungen«. Er und seine baden-württembergische Kollegin hätten vorab angekündigt, über die Unterhaltung ein Gedächtnisprotokoll anfertigen zu wollen, gestört habe Zschäpe dies nicht. Die Polizistin war vorher in der »Soko Parkplatz« mit einem Polizistenmord in Heilbronn aus dem Jahr 2007 beschäftigt, der mittlerweile dem NSU zugerechnet wird – die Pistole der Beamtin war in Eisenach neben den Leichen der »beiden Uwes« entdeckt worden. Mit dem Tatvorwurf des Polizistenmordes konfrontierten die Beamten Zschäpe allerdings nicht – genauso wenig konnte vor Gericht begründet werden, wie innerhalb von nur fünf Tagen die Verbindung zwischen Zschäpes Brandstiftung und Flucht und den beiden Toten in Eisenach, die augenscheinlich im Besitz der Waffe einer ermordeten Polizistin waren, hergestellt werden konnte. Polizeilich gemeldet waren die untergetauchten Neonazis schließlich allesamt nicht in der Zwickauer Frühlingsstraße.

Zschäpes ambivalente Äußerungen zu ihrer Aussagebereitschaft muß die Ermittler verwirrt haben, zumindest starteten sie noch mindestens einen Vorstoß, um sie zum Reden zu bringen. Im Juni 2012 gestattete der Bundesgerichtshof der Untersuchungsgefangenen eine Überführung von der JVA Köln, in der sie zu dieser Zeit einsaß, nach Gera, damit sie dort von ihrer gebrechlichen Großmutter besucht werden konnte. Ein ungewöhnliches Zugeständnis an eine des zehnfachen Mordes Verdächtige, das vermutlich nur zustande kommen konnte, weil die Bundesanwaltschaft vorab den NSU eigenmächtig für »aufgelöst« erklärt hatte. Ohne Gruppe droht keine Wiederholungsgefahr, die Haftbedingungen für Zschäpe konnten gelockert werden – und auch der Besuch in Gera, für den zwei mal vier Stunden Autofahrt nötig waren, kam zustande. Im Gegensatz zu einem – sichereren – Transport im Hubschrauber ist in einem PKW auch während der Reise eine Unterhaltung führbar. Möglicherweise ging es genau darum.

Auch hier wurde Zschäpe belehrt, daß das Begleitkommando ein Protokoll anfertigen werde. Das mache nichts, sie würde nur über Dinge sprechen, die auch niedergeschrieben werden könnten, parierte die Inhaftierte. Die Polizisten fragten Zschäpe, ob sie denn noch aussagen wolle: Eigentlich habe sie das geplant, doch ihr Verteidiger habe ihr davon abgeraten, gab ein Polizist vor dem OLG München ihre Worte wieder. »So einen Fall wie mich, den hat es doch noch nie gegeben«, habe sie im Fahrzeug gesagt. Der Beamte will widersprochen haben: Mit den Beispielen Susanne Albrecht und Christian Klar, ehemaligen Mitgliedern der linken RAF, habe er ihr deutlich machen wollen, daß sich Aussagen lohnten, so der Polizist: Albrecht, die vollständig ausgesagt hätte, sei nach wenigen Jahren wieder freigekommen; Klar, der schwieg, habe über 20 Jahre abgesessen. Sie glaube selbst, daß eine Aussage ihr Strafmaß mindern würde, habe Zschäpe schließlich gesagt: Wenn, dann würde sie »auf jeden Fall umfassend und vollständig aussagen«, da sie niemand sei, die nicht zu ihren Taten stehe.

Das Gespräch mit Zschäpe sei sachlich und in freundlicher Atmosphäre verlaufen, schilderte der Polizist vor Gericht. Die insgesamt acht Stunden Fahrt »vergingen wie im Flug.« Vor dem OLG München schweigt die Angeklagte nach wie vor.

* Aus: junge Welt, Samstag, 13. Juli 2013


Legendenbildung programmiert

NSU-Prozeß ohne wortgetreues Protokoll: Rätsel um Zeugenvernehmung zum Mord an Enver Simsek und Irritationen um ein Café

Von Claudia Wangerin **


Der genaue Wortlaut sämtlicher Zeugenvernehmungen im NSU-Prozeß wird der Nachwelt nicht überliefert, denn das Oberlandesgericht München hat eine akustische Aufzeichnung abgelehnt. Selbst wenn sie nur das Erstellen eines wortgetreuen Protokolls erleichtern soll und anschließend gelöscht wird, löst eine solche Aufzeichnung nach den Worten des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl »bei vielen Zeugen Hemmungen aus, frei und unbefangen zu sprechen«. Statt eines wortgetreuen Protokolls gibt es nun verschiedene Mitschriften von Prozeßbeteiligten und Journalisten, die nur zum Teil aus wörtlichen Zitaten bestehen, ergänzt durch sinngemäße, zum Teil aber auch sehr grobe Zusammenfassungen in indirekter Rede. Streitpunkte und Legendenbildung sind dabei programmiert.

Am 10. Juli berichtete die Deutsche Presse-Agentur (dpa), ein Zeuge, der nach dem Nürnberger Mord an dem Blumenhändler Enver Simsek im Jahr 2000 die mutmaßlichen Todesschützen weglaufen sah, habe diese Personen nicht wiedererkannt, als die Polizei Jahre später Videos von Überwachungskameras vor dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße zeigte.

Beide Taten werden inzwischen dem »Nationalsozialistischen Untergrund« zugeordnet. Daß auf den Videobildern aus Köln die mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu sehen sind, gilt seit der Aufdeckung der Gruppe durch deren Tod im November 2011 als sicher. Wann die Polizei erstmals eine Verbindung zwischen dem Kölner Sprengstoffattentat im Juni 2004 und der bundesweiten Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund herstellte – und wie ernsthaft sie die Spur verfolgte – ist für die Verletzten und die Angehörigen der Opfer von Bedeutung.

Tatsächlich – so berichten mehrere Anwälte der Nebenklage – hatte sich der Zeuge am 10. Juli vor Gericht gar nicht an die polizeiliche Befragung erinnert, bei der ihm laut Akten im Jahr 2007 die Videoaufnahmen gezeigt wurden. An frühere Vernehmungen zu dem Mord habe sich der Mann aber sehr wohl erinnert, erklärte Nebenklageanwalt Yavuz Narin am Freitag gegenüber junge Welt – nur an eine kürzer zurückliegende Befragung, bei der ihm das Video gezeigt worden sein soll, nicht. Mehrere Medien hatten die dpa-Meldung übernommen, daß er dabei keine Personen wiedererkannt hätte.

Laut Presseerklärung des Nebenklageanwalts Sebastian Scharmer wurden dem Zeugen vor Gericht die Einzelheiten seiner »jedenfalls nach den Akten existenten« Vernehmung vorgehalten: »An die Passage in dieser Vernehmung, in der er meinte, der Täter könnte durchaus eine Ähnlichkeit mit der Person, die in Köln ein Fahrrad schiebt, aufweisen, konnte er sich ebenfalls nicht erinnern.« Scharmers Mandantin Gamze Kubasik verlor ihren Vater durch einen NSU-Mord im April 2006 – also knapp zwei Jahre nach dem Anschlag in Köln. »Die Tatsache, daß dort zwei Männer mit Fahrrädern Tatverdächtige waren, hätte bereits viel früher in Verbindung mit der Mordserie, bei der in mehreren Fällen zwei Männer mit Fahrrädern oder in Fahrradkleidung auftauchten, gebracht werden müssen«, so der Rechtsanwalt. Wäre dieser Spur rechtzeitig und umfassend nachgegangen worden, hätten weitere Morde verhindert werden können, so auch der an Mehmet Kubasik.

Unterschiedliche Mitschriften gibt es auch von der Aussage des NSU-Angeklagten Carsten S., der die Übergabe der mutmaßlichen Mordwaffe an Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gestand. An den Ort des Treffens vor der Waffenübergabe erinnerte er sich nur verschwommen, sprach im Juni vor Gericht zuerst von einem Café in der Nähe des Chemnitzer Bahnhofs, dann von einem »Kaufhaus, wo ein Café mit drinne ist«, so ein Zitat in der Mitschrift der jW-Autorin. Irgendwann sprach er von »Galeria Kaufhof«. Da war er aber auf Nachfrage keineswegs sicher. Die Verteidiger des von S. schwer belasteten Mitangeklagten Ralf Wohlleben bissen sich aber an der Galeria Kaufhof fest – denn die wurde in Chemnitz erst 2001 eröffnet. Die Waffenübergabe soll jedoch Ende 1999 oder Anfang 2000 stattgefunden haben.

** Aus: junge Welt, Samstag, 13. Juli 2013

Ermittler im NSU-Prozeß

Hartnäckiges Feindbild

Zum Mord an dem Gemüsehändler Habil Kilic im August 2001 ist am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München ein Ermittler vernommen worden, dem die »Türkenmafia« nicht aus dem Kopf geht. Man müsse sich doch in die Lage von damals hineinversetzen und könne nicht so tun, als ob es keine »Türkenmafia« gebe, die Drogenhandel betreibe, verteidigte sich der pensionierte Kriminalbeamte Wilfling im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Man sei zunächst Hinweisen auf einen »Mulatten« nachgegangen, der sich mit einem Auto schnell vom Tatort entfernt habe. Auch nach einem Türken mit einem »Mongolenbart«, der in der Nähe des Tatorts gesehen worden sein soll, habe man gesucht. Zwei Fahrradfahrer, die unmittelbar in der Nähe des Tatorts gesichtet worden waren und wie »Kuriere« ausgesehen hätten, habe man lediglich als Zeugen gesucht – und eine Spur, bei der es »keine weiteren Anhaltspunkte« gebe, könne nicht verfolgt werden. Er habe sich einfach nicht vorstellen können, daß es sich bei diesen Fahrradfahrern um die Täter gehandelt haben könnte.

»Wenn man sich diese Ansichten des Zeugen vor Augen führt, verwundert es nicht, daß die Ermittlungsbehörden über zehn Jahre in die falsche Richtung ermittelt haben«, erklärte Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer. »Anstatt zu überprüfen, ob eine Personenidentität zwischen den in Nürnberg beschriebenen Tätern in Fahrradkleidung und den Fahrradfahrern am Münchener Tatort Kilic besteht, wurde ›akribisch‹ nach Drogen, ›Mafia‹ und ›PKK‹ ermittelt.« Auch die zuletzt genannte, in der BRD verbotene Arbeiterpartei Kurdistans war bis 2011 immer wieder mit den neun Morden in den Jahren 2000 bis 2006 in Verbindung gebracht worden. Am Donnerstag nachmittag sagte die Witwe des ermordeten Habil Kilic aus, die im gemeinsamen Geschäft ein »Blutbad« vorgefunden hatte. Erst habe man ihr erzählt, daß ihr Mann im Krankenhaus sei. Von einer Freundin habe sie erfahren, daß er ermordet wurde. (jW)




Zurück zum NSU-Prozess

Zurück zur Homepage