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"Für alle Zeit"

Die unabhängige Dokumentation eines Jahrhundertprozesses hat sich die Initiative "NSU-watch" zum Ziel gesetzt. Die Otto-Brenner-Stiftung zeichnet sie dafür aus

Von Claudia Wangerin *

In einem Jahrhundertprozeß um zehn rassistische Morde, zwei Sprengstoffanschläge und mehrere Raubüberfälle, der ohne einen Geheimdienstskandal im Hintergrund vielleicht gar nicht geführt werden müßte, stoßen Journalisten oft an ihre Grenzen, wenn es darum geht, Wichtiges von Unwichtigem oder weniger Wichtigem zu trennen und in gut lesbaren Artikeln einen Überblick zu verschaffen. Scheinbar unwichtige Details einer Zeugenaussage werden vielleicht später noch einmal wichtig – bei einer voraussichtlichen Verhandlungsdauer von mehr als zwei Jahren.

In der tagesaktuellen Berichterstattung über den seit Mai laufenden Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) geht zunächst vieles unter – was nicht nur, aber auch an der chaotischen Prozeßchoreographie liegt. Oft werden Zeugen zu zwei Morden am selben Tag gehört, dann springt die Hauptverhandlung wieder zum finalen Brand in der Zwickauer Frühlingsstraße, wo die Hauptangeklagte Beate Zschäpe am 4. November 2011 das Feuer gelegt haben soll, um Beweismittel zu vernichten –oder zu dem Schweizer Waffenhändler, der 1996 ganz legal die Ceska-Pistole verkaufte, mit der in den Jahren 2000 bis 2006 neun Menschen ermordet wurden. Oder zur Frühgeschichte des »Thüringer Heimatschutzes«, der von einem V-Mann des Verfassungsschutzes angeführt wurde, während sich das spätere mutmaßliche Kerntrio des NSU dort radikalisierte.

Aufzeichnung unzulässig

Anders als die Sitzungen der Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern wird die Hauptverhandlung nicht auf Tonträger aufgezeichnet, um die Erstellung eines wortgetreuen Protokolls zu erleichtern – das Oberlandesgericht München hat dies mit der Begründung abgelehnt, es löse »bei vielen Zeugen Hemmungen aus, frei und unbefangen zu sprechen«. Wer tagesaktuell über diesen Prozeß berichtet, muß nicht selten gleichzeitig zuhören und ausformulieren, hätte gerne dreimal so viel Zeit und viermal so viel Platz – und ist mit den eigenen Artikeln nie hundertprozentig zufrieden.

Dreisprachig nachlesbar

Möglichst lückenlose Protokolle fertigen dagegen die Berichterstatter der Initiative »NSU-watch: Aufklären und Einmischen« an. Wer nicht dabei ist, kann auf deren Website nach wenigen Tagen alles kostenlos nachlesen – auf Deutsch, Englisch und Türkisch. Hinter der Initiative steht ein Bündnis, zu dem sich unter anderem die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e. V. (a.i.d.a.), das »Antifaschistische Infoblatt« (AIB), das »antifaschistische pressearchiv und bildungszentrum berlin« (apabiz) und das Magazin Der rechte Rand zusammengeschlossen haben. Ihre Ziele sind eine unabhängige Dokumentation und Bewertung des NSU-Strafverfahrens und der Ermittlungen, die Veröffentlichung der Protokolle in drei Sprachen sowie die Unterstützung der Nebenklage durch unabhängige Recherchen.

Als »wahrhaft demokratische Dienstleistung« wird die Arbeit der Initiative von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung gelobt, die alljährlich neben den Rechercheleistungen einzelner Journalisten auch »innovative und wegweisende Medienprojekte« auszeichnet. Als »informative Website von radikaler Transparenz und ohne die im klassischen Journalismus unvermeidlichen Verkürzungen« habe sich NSU-watch in diesem Jahr den mit 2000 Euro dotierten Medienprojektpreis verdient, gab die Jury am 17. Oktober bekannt.

Sittengeschichte live

Aus den seitenlangen Nachschriften läßt sich laut Otto-Brenner-Stiftung »mehr als der Verhandlungsverlauf eines beliebigen Tages rekonstruieren – vor dem Auge des Lesers entsteht eine deutsche Sittengeschichte von Haß und Schuld, Versagen und Verantwortung, man erlebt die nicht immer uneigennützigen Akteure der Rechtsfindung, Anwälte wie Richter, quasi ›live‹ bei der Arbeit. Kein großer Moment geht verloren, kein profaner wird vergessen.« Die Übersetzungsarbeit wird zudem als »verdienstvolle interkulturelle Dolmetscherleistung« gelobt. »Aufbewahren für alle Zeit!« schreibt die Jury. »Möge diesem politischen Medienprojekt der Atem nicht ausgehen«.

Die 2000 Euro kann die Initiative sicherlich gut gebrauchen – ihre Arbeit wird teils durch Spenden finanziert, aber auch zu einem erheblichen Teil ehrenamtlich geleistet, dies betrifft vor allem die Übersetzungen. Mindestens zwei Prozeßbeobachter sind an jedem Verhandlungstag anwesend. Als Vollzeitkraft kann bisher keiner von ihnen bezahlt werden.

Die eigentliche Preisverleihung findet am 12. November in Berlin statt –als Festredner ist der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle angekündigt. Motto: »Kritischer Journalismus als Verfassungsauftrag«.

Der Jury gehören renommierte Journalisten wie der Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, die Inlandsprogrammdirektorin des Westdeutschen Rundfunks, Sonia Seymour Mikich, und Harald Schumann, Redakteur für besondere Aufgaben beim Tagesspiegel an. Für den Verwaltungsrat der nach dem Gewerkschafter und Antifaschisten Otto Brenner benannten Stiftung sitzt IG-Metall-Chef Berthold Huber in dem Gremium.

www.nsu-watch.info
www.otto-brenner-preis.de

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Oktober 2013


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