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Der zweite Radfahrer

NSU-Mord in Nürnberg: Ein Zeuge erkannte den Neonazi Uwe Mundlos am Tatort mit einem Mann, der nicht wie sein bekannter Komplize Böhnhardt aussah

Von Claudia Wangerin, München *

Schußgeräusche kennt Mütasam Z. als Alltagserscheinung aus dem Irak, Nachrichten haßt der Zeuge nach eigener Aussage. Die Berichterstattung über die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) seit deren Aufdeckung Ende 2011 hat er demnach nicht verfolgt. »Ich schaue kein Fernsehen, ich spiele Keyboard«, sagte der jünger wirkende 57jährige am Mittwoch in gebrochenem Deutsch vor dem Oberlandesgericht München. Auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl sagen ihm die Namen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und ihrer inzwischen toten Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nichts. »Nee«, antwortet er schlicht. Das wirkt befremdlich, allerdings könnte die Erinnerung des Zeugen durch diese Nachrichtenabstinenz tatsächlich unverfälschter sein als die eines eifrigen Medienkonsumenten, der Jahre zuvor ähnlich aussehende Personen gesehen hat.

Z. erinnert sich an zwei 25- bis 30jährige männliche Radfahrer, die er am Tag des Mordes an dem Imbißbetreiber Ismail Yasar am 9. Juni 2005 in Nürnberg in unmittelbarer Tatortnähe in der Scharrerstraße gesehen habe. Es habe ihn »genervt«, daß sie auf ihren sportlichen Rädern so langsam gefahren seien, sagte er am Mittwoch vor Gericht. Er selbst habe im Auto einen Einkauf aus dem Baumarkt transportiert. Einen der Radfahrer identifizierte er auf einem Lichtbild als Uwe Mundlos – den zweiten beschrieb aber völlig anders als dessen mutmaßlichen Komplizen Böhnhardt, den er auch auf einem Foto nicht erkannte.

In diesem Punkt kann der Zeuge die Kernthese der Anklageschrift nicht bestätigen. Die Bundesanwaltschaft geht bisher davon aus, daß bei allen zehn bekannten NSU-Morden in überwiegend westdeutschen Städten Mundlos und Böhnhardt die Täter waren, mit angemieteten Wohnmobilen aus Zwickau anreisten und auf Fahrrädern zu den Tatorten fuhren. Außer der mutmaßlich an der Planung beteiligten Zschäpe soll es keine weiteren Mittäter gegeben haben, nur wenige Helfer.

Mundlos war 1,83, Böhnhardt 1,86 Meter groß, beide sind auf allen bekannten Fotos schlank. Auch aus der Zeit im Untergrund existieren Urlaubsbilder. Z. beschrieb den zweiten Radfahrer nicht nur als deutlich kleiner – etwa 1,73 bis 1,74 Meter, was durch die sitzende Haltung auf dem Rad verzerrt sein kann – sondern auch als »kräftiger«, womit auf Nachfrage »dick« gemeint war. In einer polizeilichen Vernehmung vor Aufdeckung des NSU hatte Z. bereits darauf hingewiesen, daß nur eine der Personen auf einem Phantombild aus seiner Sicht einem der Radfahrer ähnlich sehe.

Kurz nachdem er sie gesehen hatte, nahm er hinter sich Schußgeräusche wahr, die er auch als solche erkannte. Mütasam Z. gibt sogar an, bei einigen Waffen das Fabrikat am Klang erraten zu können, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit. Der Zeuge verwies mehrfach auf seine Erfahrung in Krisengebieten. Ein Schalldämpfer wurde bei den Schüssen auf Yasar demnach nicht verwendet. »Keine Ahnung«, so Z. auf die Frage des Richters, was er sich in diesem Moment vorgestellt habe, was passiert sei. Er habe gedacht, das sei nicht sein Problem. In Nürnberg gebe es auch ein Schießtrainingscenter, aus dem er so etwas schon gehört habe.

Am Nachmittag sagte vor dem Münchner Gericht eine Beamtin des Bundeskriminalamts über die Auswertung von Asservaten aus der Zwickauer Wohnung des mutmaßlichen NSU-Trios aus. Es ging um 68 archivierte Zeitungsartikel über die heute dem NSU zugerechneten Morde und Anschläge – darunter allerdings keiner über den Heilbronner Mord an der Polizistin Michéle Kiesewetter 2007. Daß nur an zwei Artikeln Fingerabdrücke von Beate Zschäpe festgestellt werden konnten, wertete deren Anwalt Wolfgang Stahl als Beweis dafür, »daß nur ein ganz seltener Kontakt zu diesen Zeitungsartikeln bestanden haben kann« – nicht etwa dafür, daß Zschäpe an der Erstellung des Archivs beteiligt gewesen sei.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Oktober 2013


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