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Bedingt nackig

Angeklagter Carsten S. beantwortet im NSU-Prozeß Fragen der Nebenklage, hält aber womöglich Informationen zurück. Wohllebens Anwälten will er nicht antworten

Von Claudia Wangerin, München *

Carsten S. will im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) nur dann Fragen der Verteidigung seines Mitangeklagten Ralf Wohlleben beantworten, wenn auch dieser umfassend zur Person und zur Sache aussagt. Dies erklärten die Anwälte von S. am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München. S. begründete seine Entscheidung auf Nachfrage der Nebenklageanwältin Gül Pinar mit der »Waffengleichheit«, von der Wohllebens Verteidigung vor ihm gesprochen habe. Es sei ihm wichtig, »daß nicht nur ich mich hier nackig mache, sondern er auch«, sagte S. mit Blick auf Wohlleben. Dessen Anwalt Olaf Klemke hatte sofort klargestellt, das dies nicht nicht Frage käme. Es laufe darauf hinaus, daß S. die Beantwortung der Fragen ablehne, »denn wir lassen uns nicht erpressen«.

S. hatte sowohl sich selbst als auch Wohlleben am Dienstag schwerer belastet als in früheren Vernehmungen, in denen er vorgab, die Folgen seiner Waffenlieferung nicht geahnt zu haben oder sich nicht mehr zu erinnern, was er sich dabei dachte. Beiden wird Beihilfe zur Mordserie des NSU vorgeworfen. S. wurde nach eigener Aussage von Wohlleben angesprochen, besorgte nach dessen Instruktionen die spätere Tatwaffe, eine Ceska 83, und übergab sie Ende 1999 oder Anfang 2000 in Chemnitz den untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Andeutungen über einen Anschlag in Nürnberg, die sie ihm gegenüber bei diesem Treffen machten, erwähnte S. zum ersten Mal am Dienstag vor Gericht. Neu war auch die Aussage, Wohlleben habe ihm später nach einem Telefonat erzählt, die beiden hätten »jemanden angeschossen«. Ob damit der Blumenhändler Enver Simsek gemeint sein könnte, der nach dem Nürnberger Mordanschlag am 9. September 2000 noch drei Tage lebte, ist unklar. Nach bisheriger Kenntnis der Ermittler schossen Mundlos und Böhnhardt erst 2006 wieder eine Person an, die nicht ihren Verletzungen erlag. Dazwischen lagen mehrere Morde.

Im Jahr 2006 will S. zwar schon seit gut fünf Jahren aus der rechten Szene ausgestiegen sein; er räumt jedoch ein, Wohlleben später noch ein- oder zweimal getroffen zu haben. Bei einer eher zufälligen Begegnung auf der Straße habe ihm der Familienvater seine beiden Töchter vorgestellt, die nach Erinnerung von S. schon laufen konnten. Die Kinder, denen er nicht den Vater nehmen wollte – auch damit erklärte S. am Mittwoch sein zögerliches Aussageverhalten – sind 2004 und 2006 geboren.

Einige Nebenklageanwälte glauben, daß Carsten S. immer noch Informationen zurückhält. Der 33jährige Sozialpädagoge wollte schließlich auch sich selbst schonen und seinen eigenen Eltern nicht den Sohn nehmen – das gibt er zu. Seine späteren Kontakte zu Wohlleben und anderen alten Bekannten aus der Jenaer Neonaziszene thematisierte am Donnerstag Yavuz Narin, der Angehörige des Münchner NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides vertritt. Er fragte S., ob er später noch an rechtsextremen Veranstaltungen und Konzerten teilgenommen habe und hielt ihm vor, daß auf seinem Computer Fotos vom »Fest der Völker« im Jahr 2006 gefunden worden seien. Nach eigener Aussage hatte S. sich nur dafür interessiert, wie seine früheren Kameraden heute aussehen – und deshalb etwa Wohlleben und André Kapke »gegoogelt«. Auch wurde auf seinem Rechner die heruntergeladene Blaupause einer Ceska-Pistole gefunden – die Datei sei zuletzt im Dezember 2010 geändert worden, warf ihm Narin vor. »Das kann ich mir nicht erklären«, so S. Angeblich erinnerte er sich erst wieder 2011 nach Aufdeckung des NSU, daß er gar nicht – wie ursprünglich bestellt – ein deutsches Fabrikat geliefert hatte. Den Gedanken an die Waffe und ihren Verwendungszweck will er zwischenzeitlich »weggeschoben« haben.

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


Schlamperei bei NSU-Aufklärung

Bundestagsausschuss tritt erneut in Beweisaufnahme ein / Anwälte haben Fragen an »Kapuzenmann«

Von René Heilig **


Der NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss wird die bereits geschlossene Beweiserhebung wieder aufnehmen. Grundlage sind mögliche Schlampereien bei Ermittlungen zum Polizistenmord in Heilbronn 2007. Die Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess haben den Eindruck, dass die Behörden zum Teil höchst schlampig ermittelten.

Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenklage, ist empört: Nach eineinhalbjähriger Ermittlungsarbeit erfahre man durch die Aussagen eines Angeklagten, dass es womöglich einen bislang unbekannten Anschlag gegeben hat, der vom NSU-Terrortrio ausgeführt wurde.

Der Anwalt meint die Erklärung des Angeklagten Carsten Schultze. Der behauptet, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten ihm bedeutet, 1999 in Nürnberg eine »Taschenlampe« abgestellt zu haben. In der Tat war in einem Lokal eine Rohrbombe explodiert, die äußerlich einer Taschenlampe glich.

Als Medien über die erneute Ermittlungspanne berichteten, empörte sich Chefankläger Herbert Diemer: Weil es sich um eine Rohrbombe handelte, hätte sich ein Bezug zum NSU nicht unbedingt aufgedrängt. Absurd! 1998 hatte man in Jena die Garagenwerkstatt des späteren NSU-Trios mit 1,4 Kilogramm TNT samt fertiger Rohrbomben ausgehoben. Danach waren Böhnhardt, Mundlos und die nun angeklagte Zschäpe abgetaucht.

Bei der gestrigen Verhandlung in München klangen die an den Vortagen gemachten Aussagen des Angeklagten Schultze nach. Leider ging man bislang nur verhalten dessen unwahren oder zweifelhaften Einlassungen nach. Manche »Irrtümer« liegen auf der Hand. Zudem hatte der selektiv Geständige einen gehörigen Teil Schuld auf das »Konto Ralf Wohlleben« gebucht. Anwälte von Nebenklägern, vor allem aber die von Wohlleben haben zahlreiche Fragen. Schultze aber begann am Nachmittag zu mauern: Er habe sich hier »nackig gemacht«, bevor er Fragen der Wohlleben-Anwählte beantworte, müsse der einstige Neonazi-Kumpan selbst Angaben zur Sache machen.

Unterdessen räumte die Nürnberger Staatsanwaltschaft ein, dass womöglich etwas schiefgelaufen sei. Auf Geheiß des Generalbundesanwaltes hatte man im März 2012 einen möglichen Bezug der Kneipenexplosion zur NSU-Mordserie überprüft. Man habe die Namen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie die bekannten Aliasnamen des Trios mit einer Datenbank der Ermittlungsbehörden abgeglichen. Doch da die offenbar keine Visitenkarte neben ihre Bombe abgelegt hatten, kam man mit dieser »Ermittlungsmethode« nicht zum Ziel.

Diese Arbeitsweise reiht sich ein in andere vergebene Aufklärungsmöglichkeiten. Gestern musste auch der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages darüber beraten, ob man die bereits geschlossene Beweisaufnahme noch einmal öffnet. Eigentlich ist man gerade beim Formulieren der Seite 1200 des Abschlussberichtes. Grund für den Neustart sind Aussagen der einstigen V-Frau des Verfassungsschutzamtes von Baden-Württemberg. Petra Senghaas (alias »Krokus«) behauptet, die Behörde schon 2007 über mögliche Zusammenhänge zwischen dem in Heilbronn verübten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, dem Mordversuch an derem Kollegen A. sowie der regionalen Neonaziszene informiert zu haben.

Die V-Frau ist auch sicher mitgeteilt zu haben, dass die Zwickauer Terrorgruppe oder einzelne Mitglieder im Gebiet von Hohenlohe unterwegs waren. Auch von Hohenloher Neonazis als Mittätern oder Mitwissern beim Polizistenmord war die Rede. Sicher ist, dass »Krokus« vom Stuttgarter Landesamt damals als glaubwürdig eingestuft worden ist. Wieso ergab sich dann die Spur zum Terrortrio erst vier Jahre später durch das Auffliegen des NSU in Eisenach? Im Wohnwagen, in dem die männlichen Zellenmitglieder am 4. November 2011 tot aufgefunden worden sind, entdeckte man die Dienstwaffen der beiden Polizisten. Aus dem Brandschutt der zweiten Zwickauer Trio-Wohnung siebte man die beiden in Heilbronn benutzten Tatwaffen heraus.

Gestern wurde in geheimer Sitzung beschlossen, dass der NSU-Untersuchungsausschuss am 24. Juni abermals versuchen wird, offene Fragen zum »Fall Kiesewetter« zu klären.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 14. Juni 2013


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