Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Nicht nur die Meinung von Professor Mundlos"

NSU-Prozeß: Nebenklage behält Inlandsgeheimdienst und Unterstützernetzwerke im Blick. Ein Gespräch mit Yavuz Narin *


Rechtsanwalt Yavuz Narin vertritt im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) Angehörige des 2005 erschossenen Theodoros Boulgarides.


Sie haben als Nebenklageanwalt im NSU-Prozeß anfangs den Rummel um Beate Zschäpe als angeblich einzige Überlebende der Terrorgruppe kritisiert, da es vier weitere Angeklagte gibt und auch die Rolle bisher nicht angeklagter Akteure zu klären sei. Wie ist der Prozeß bis zur Winterpause diesem Anspruch gerecht geworden?

Langsam scheint auch dem Senat klar zu werden, daß die Anklageschrift zu kurz greift. Die Hypothese der Bundesanwaltschaft, der NSU habe nur aus drei Personen bestanden, die nahezu völlig abgeschottet agiert haben, kann kaum den Tatsachen entsprechen. Die Beweisaufnahme hat schon jetzt zahlreiche Hinweise auf mögliche Unterstützernetzwerke ergeben, auf »Blood & Honour« sowie Führungsfiguren der Kameradschaftsszene bundesweit. Da muß notwendigerweise auch von seiten des Senats ein Aufklärungsinteresse bestehen. Ansonsten wird die Nebenklage in Form von Beweisanträgen darauf hinarbeiten.

Was denken Sie über den Umgang des Gerichts mit dem Zeugen Andreas Temme, der 2006 als Verfassungsschutzbeamter am Tatort eines NSU-Mordes war und angeblich nichts bemerkte?

Der Senat behandelt den Komplex Temme widersprüchlich: Einerseits befragt der Vorsitzende Richter den Zeugen intensiv und weist ihn auf Widersprüche in seinen Aussagen hin. Andererseits lehnt der Senat es ab, weiteres Aktenmaterial beizuziehen, was Befragung und Vorhalte sehr vereinfachen könnte. Der Senat ist insoweit wohl unentschlossen. Die Bundesanwaltschaft scheint sich gegen die mögliche Involvierung eines Verfassungsschutzbeamten von vornherein zu sperren und blendet hier offenbar Teile der Realität aus – was nicht haltbar sein dürfte. Ein Gerichtsurteil, das Teile der Realität nicht berücksichtigt, wird nicht die nötige Akzeptanz finden, keinen Rechtsfrieden stiften, sondern Anlaß zu Zweifeln bieten, die teilweise berechtigt sind.

Vorwürfe gegen den Verfassungsschutz erhob auch der Vater von Uwe Mundlos, einem der mutmaßlichen Haupttäter, deren Tod 2011 zur Aufdeckung des NSU führte. Wie schätzen Sie den Zeugen Siegfried Mundlos ein?

Die Mitverantwortlichkeit der Verfassungsschutzämter ist nicht nur die subjektive Meinung von Professor Mundlos, sondern ergibt sich aus mehreren Umständen, die sowohl dem Senat als auch der Öffentlichkeit bekannt sind – insbesondere durch die Arbeit der Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern. Wenn diese Umstände im Verfahren gänzlich ausgeblendet werden, ist keine umfassende Aufklärung möglich. Andererseits darf man angesichts des Fehlverhaltens von Behörden nicht jede Verantwortung der Täter aus der militanten Neonaziszene relativieren oder auf den Staat abwälzen. Es ist Fakt, daß die Inlandsgeheimdienste diese Szene logistisch und finanziell unterstützt und mit aufgebaut haben. Dieser Teil der Verantwortung sollte von staatlicher Seite ernsthaft aufgearbeitet statt verleugnet werden.

Die Verteidigung in diesem Prozeß ist nicht gerade homogen: Dem Anwalt von Carsten S. war dessen Aussagebereitschaft wichtig; Zschäpe und Ralf Wohlleben schweigen; sie wird von bürgerlichen Demokraten vertreten, er nicht zuletzt von Anwälten mit NPD-Biographie. Wie beurteilen Sie die Arbeit dieser Kollegen fachlich – und wo überschreiten sie womöglich Grenzen?

Eine fachliche Beurteilung steht mir nicht zu. Jeder Angeklagte hat Anspruch auf professionelle Verteidigung durch einen Anwalt seiner Wahl. Die Gefahr, daß die Verteidigung das Verfahren zur Kundgabe bestimmter politischer Auffassungen instrumentalisiert, sehe ich als gering an.

Wohllebens Anwältin Nicole Schneiders sprach zu Beginn aber nicht nur personenbezogen von »Vorverurteilung«, sondern auch, weil überhaupt von rassistischen Morden die Rede war.

Eine solche Argumentation wird befeuert, wenn aus Gründen der Staatsräson bestimmte Sachverhalte nicht auf den Tisch kommen. Insoweit ist transparente Aufklärung auch durch die Bundesanwaltschaft geboten. Dennoch kann ich den Vorwurf der Vorverurteilung nicht nachvollziehen. Die Verteidigung der Angeklagten Zschäpe sprach auch von einer Maximal­anklage – ich denke, daß maximale Straftaten auch eine maximale Anklage nach sich ziehen müssen. Anfangs hat der Senat ernsthaft überlegt, den Kölner Nagelbombenanschlag – einen 31fachen Mordversuch – wegen der hohen Zahl der Nebenkläger vom Verfahren abzutrennen. Wenn ich aber so viele Straftaten zulasse und so angestrengt wegschaue, darf ich mich nicht wundern, wenn eines Tages so viele Opfer und Angehörige als Nebenkläger auftreten.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Dezember 2013


Zurück zum NSU-Prozess

Zurück zur Homepage